Samstag, 12. Januar 2013

Gruselfeuer und Satansknall. Oder: Was von Silvester übrig blieb.

Neujahr. Blick aufs Handy. Kurz nach 17.00 Uhr. Au weia. "Fünf Minuten noch, Mutti!" denke ich und drehe mich im Bett um, blicke aus dem vorhanglosen Fenster in den Berliner Abendhimmel, an dem grad mal wieder eine Rakete explodiert und einen rot-weißen Funkenregen über die Straße niedergehen lässt. Ich lausche. Aus dem Zimmer nebenan kein Ton zu hören, entweder ist M. nicht zuhause oder er schläft noch. Erfahrungsgemäß eher zweiteres.

Noch ein Blick aufs Handy. Drei SMS, elf neue Nachrichten bei WhatsApp, vierzehn verpasste Anrufe. Acht davon von Mutter. Rückruf? Nein, lieber noch nicht. Hab ich überhaupt eine Stimme?? "Test Test" ächze ich in den leeren Raum, aha, es kann sprechen, es klingt zerfeiert, aber das war nicht anders erwartet worden.

Zufrieden rolle ich mich auf den Rücken, vorm Fenster geht die nächste Rakete hoch, dieses Mal in grün, zudem rummst es mächtig laut und man hört das fremdsprachige Gröhlen der Touris aus dem Hotel am Anfang der Straße. Die sind schon wieder fit und haben Spaß und ich lieg noch im Bett rum. "Alles richtig gemacht!" denke ich mir und grinse noch zufriedener.

Ich lasse die Silvesternacht rekapitulieren vor dem inneren Auge. Wie ein Film zieht sie nochmal vorbei.


Gegen 20 Uhr: Mit vollgepackten Rucksäcken kämpfen wir uns durch Pankows Straßen, vorbei an Mehrfamilienhäusern und griechischen Restaurants, aus denen laute Musik zu vernehmen ist. "Alter, wir sind schon wieder zu spät! Wir sind jedes Jahr zu spät!" rufe ich M. zu, der sieben Meter vor mir geht und grad irgendwas brennendes aus der rechten Hand auf die Straße wirft. Es zischt und dann sprühen rote, grüne und weiße Flammen aus dem Feuerwerk und es tanzt für ein paar Sekunden über die Straße. "Klar sind wir zu spät, wir sind immer zu spät, das kennen die doch schon!" sagt M., die Zigarette im Mundwinkel. "Aber weißt du was, dieses Kinderfeuerwerk ist echt lustig!"


Das kann ich nur bejahen und schmeiße ihm zwei Knallerbsen vor die Füße. "Mann, du bist ja drauf!" raunt er. "Sei mal froh, wenn L. gleich mit am Start ist, dann hast du es mit anderen Kalibern zu tun, der hat doch garantiert wieder halb Polen leergekauft!" Man nickt sich vielsagend zu.

Gegen 21 Uhr: Neun Mann und ein Weiblein sitzen um einen Tisch, trinken Berliner Pilsener oder Sternburg, Kumpel L. hat seine Polenkäufe vorgeführt und eins ist klar: Wenn L. was wirft, dann in Deckung! Ein Auto ist ok, ein unterirdischer Bunker wäre besser. "Der hier ist besonders jemein! Aber keene Sorge, den schmeiß ick vom Dach, da passiert keim was! Also, zumindest keim aufm Dach!" Kumpel J., den ich eigentlich immer für einen guten Menschen gehalten habe, drängt mich dazu, einen Kurzen mit ihm zu trinken. Die Reste von letzter Woche. Hochprozentig, mies im Geschmack und körperwarm, da die Buddel nie einen Kühlschrank von innen gesehen hat. Es ist grauenhaft und im Nachhinein denke ich, daß das der Anfang vom Ende war...

Gegen 22 Uhr: "Dinner for one" war wie immer ein Knaller, man kennts ja schon auswendig, muss aber doch immer wieder lachen, wenn Freddy Frinton aka Butler James über den Tigerkopf stolpert, die Hacken mehr oder weniger gekonnt zusammen schlägt und schließlich sturzbesoffen aus der Blumenvase trinkt. Dann ist Aufbruchsstimmung, von Pankow gehts per Tram zur Schönhauser Allee, knappe fünfzehn Minuten dauert die Fahrt. Und da Kumpel J. zu spät einfällt, das er ja unbedingt noch Blei gießen wollte, wird eben improvisiert. Blei gießen im Mittelgang der M1 mit einem Glas, das J. aus der Altglastonne hinter dem Haus gefischt hat und welches früher mal Grünkohl enthielt, entsprechend "duftet" es.


Die ganze Aktion hat rein optisch ein bisschen was von Drogen aufkochen und geht natürlich auch nicht ohne Verbrennungen vonstatten, aber das hat vermutlich auch niemand erwartet.

Gegen 23.30 Uhr: Rauf aufs Dach. Premiere: Wir haben einen Schlüssel für Haustür und Dachboden, es müssen also nicht wie sonst hektisch Aufgänge gesucht und sinnlos Treppenhäuser zuerst hoch, dann bei Mißerfolg wieder herunter gerannt werden. Im Gänsemarsch geht es hoch in den sechsten Stock und dort durch eine Dachluke aufs Flachdach an der Kreuzung Schönhauser Allee/Bornholmer Straße mit 360-Grad-Blick, den Fernsehturm fast direkt vor der Nase und bei klarem Sternenhimmel und angenehmem Wind, der später den Rauch der Silvesterraketen verwehen wird. Eine Aussicht, wie ich sie noch nicht gehabt habe. Da bleibt der Mund erstmal offen stehen und das Herz rast für ein paar Sekunden. Nein, Hamburg ist NICHT die schönste Stadt der Welt.

Es wird voller und voller auf dem Dach, es sind am Ende locker 60 Menschen dort oben, alle fröhlich, alle gut gelaunt, alle nett, eine tolle angenehme Athmosphäre, die kaum besser sein könnte...

FÜNF...VIER...DREI...ZWEI...EINS...

00.00 Uhr: Um mich herum explodieren in allen Farben die Raketen, genauso explodiert die Stimmung, man liegt sich in den Armen, wildfremde Menschen fallen mir um den Hals und während ich mit Kumpel M. anstoße und im Hintergrund den von Feuerwerk erleuchteten Fernsehturm sehe, fühl ich mich richtig gut und könnt die ganze Welt umarmen.


Ich liege auf dem Rücken im Gästezimmerbett, schaue an die Decke und freue mich über die Bilder vor dem inneren Auge und die Erinnerungen.

Ein schrilles Klingeln. Was zur Hölle...?? Nach sekundenlanger Orientierungsphase finde ich mein Handy. Mutter. Natürlich. "Hallo!...Ja, danke, euch auch!...Nein, ich bin nicht vom Dach gefallen...ja, ich liege noch im Bett...ach Gott, der arme Hund...ja, das hab ich mir gedacht, daß ihr früh im Bett wart...nein, ich war nicht früh im Bett...ja, ich weiß, das ist ungesund...gute Nacht Mutter!...nein, ich steh jetzt nicht auf...warum? Herrje...ja, ich dich auch, bis bald!"

Weg. Die ganzen schönen Bilder sind weg. Ach, verdammt nochmal...

Ich drehe mich auf die Einschlafseite und schaue mir interessiert den Wandschrank an. Und nach kurzer Zeit...

...bin ich wieder in der letzten Nacht. Unten vorm Haus. "Den Abstieg vom Dach auf den Dachboden haste echt gut hingekriegt" denk ich mir, "normalerweise scheißt du dich da doch immer ein. Aber diesmal zack zack, wolltste wen beeindrucken?" Ich überlege kurz. "Nööh, wolltste nicht, hast dich nur mal nicht angestellt wie n Vierjähriger, könnteste öfter mal machen! Geht doch!" Mir fallen die Augen zu.

"Tayfun ist zu!" - "Was?" - "Tayfun ist zu!" M. steht vor meinem inneren Auge und sieht aufgeregt aus...ich muss kurz nachdenken. Tayfun, Tayfun...ah, der Dönerdealer, in dem wir immer hocken, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben. "Wie, Tayfun ist zu, der war doch die letzten Jahre immer offen. War halt nie so glücklich, wenn wir da die Sektreste vernichtet haben, aber geschlossen war nie." - "Richtig. Aber jetzt ist zu. Nix mit Essen und Aufwärmen, wir gehn jetzt direkt zu S. in ihre Bude. Komm, Abmarsch!"

Gegen 1.00 Uhr:  Kumpel J. und ich stehen fasziniert vor einem Lagerfeuer, das eine Gruppe südeuropäischer maximal Zehnjähriger mitten im Prenzlauer Berg auf dem Gehweg entzündet hat. Einen Meter davon entfernt parken Autos. Und die Kiddies tanzen drumherum wie die Hexen in der Walpurgisnacht. Wieder sowas, worin ich keinen Sinn entdecken kann.

Ich schüttele entschlossen den Kopf. "Konzentrier dich Junge, bleib nicht bei solchen Kleinigkeiten hängen! Was passierte danach?"

In S.'s Wohnung war es ziemlich entspannt, ruhiges Miteinander, diverse Freunde klappten ob soviel Ruhe und gemütlicher Wärme weg und schlummerten friedlich auf dem Teppichboden ein und ich habe von der Freundin eines Freundes viel über Silvesterfeiern in Südkorea gelernt  (die wichtigste Erkenntnis: "They suck!")

Ich grinse ob dieser Aussage, die mit soviel Nachdruck kam. Und rolle mich wieder auf den Rücken, bevor ich tatsächlich wieder einschlafe. Ab jetzt wird die Wiederherstellung der Nacht auch komplizierter.

Gegen 3.30 Uhr: Mal wieder steht M. vor mir. "Da ist ne WG-Party in Kreuzberg, n Freund ist da, sagt, da geht was. Wollen wir hin?" Ich sitze grad mit der Wohnungsbesitzerin auf dem Teppichboden und wir singen laut mit bei dem Lied meiner Lieblingsband, das grad aus den Boxen tönt. Auch ihre Lieblingsband, na, wasn Zufall. An sich gefällt es mir hier gut, andererseits ist da wieder diese Stimme im Kopf. "Alter, du bist fast 34, wann kommst du nochmal auf ne WG-Party?!?" Da hat die Stimme Recht. "Jau, klar M., da wollen wir hin!"

Ich liege im Bett und habe nun einen Ohrwurm. Das machts nicht einfacher, sich an den Rest der Nacht zu erinnern. Es wird jetzt leicht bruchstückhaft.

Mit zwei Wegbier bewaffnet geht es zur Bahn, einmal die U2 runter, von Schönhauser Allee bis Mendelssohn-Bartholdy-Platz. Die Fahrt fehlt mir, Bilder zeigen, daß ich evtl einen Teil verschlafen habe...

Gegen 4.30: Wir betreten die WG-Party. "Da geht was" hatte M.'s Kumpel geschrieben - er hat leicht untertrieben. Menschenmassen! Das ist ne WG-Party aus meinem Studium, nur 20mal so groß. Krasser Mist! Ich kann nichtmal schätzen, wieviele Leute da waren. 150? 200? Rappelvoll auf jeden Fall alles. Ich auch. M.'s Kumpel findet sich schnell und ist ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Nach ein bisschen Bier und ein bisschen geschwungenem Tanzbein zu elektronischen Klängen schleppt er uns aufs Dach, dieses Mal nur dritter Stock, aber dafür auch mit Aussicht auf den Fernsehturm. M. fotografiert wie ein Weltmeister und ich pose wie einer. Leo DiCaprio hats in diesem obskuren Film über das untergegangene Boot nett formuliert: "Ich bin der König der Welt!" In etwa so deute ich meine Pose.


 Aber hat irgendwie was...Erinnerung daran? Ja, doch, ein wenig.

Gegen 5.00 Uhr sitze ich in einem kahlen Flur auf einer Couch und habe dem Mädchen mit dem dunklen Pferdeschwanz neben mir gerade erzählt, daß ich auf dem Dach geposed habe wie Leo DasCabrio. Das freut sie. Daraufhin beginnt sie, mich vollzutexten. In einer mir nicht bekannten Sprache. Rein optisch mag sie Asiatin gewesen sein...oder Südamerikanerin, Peru, die Ecke. Ich habe keine Ahnung.

"Alter, das musste den M. aber fragen gleich!" denke ich mir, während ich mal wieder aus dem Fenster schaue. (Er wird darauf mit "Geredet? Gekuschelt habt ihr!" antworten. Ich werde dann verwirrt sein und nicht weiter nachfragen. An "Kuscheln" in irgendeiner Form habe ich keine Erinnerung. Verdammt!)

Gegen 6.00 Uhr: "Hey, lass uns gehen, in der Nähe ist ein Club, da gehen wir rein!"

Das nächste, an das ich mich erinnere, ist schlimme Musik. Charts-Mischmasch. Die WG-Party ist auch weg. Stattdessen sitze ich auf einem Stuhl in einem Club neben einer Tanzfläche voller extrem seltsamer Menschen und bin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Also exe ich das Bier, das ich in der Hand habe (Wo kommt es her?) und beschließe zu schlafen.

"Schlafen, ja, das könnt ich jetzt auch!" denke ich, "dann wachste aber mitten in der Nacht auf und das ist auch blöde. Außerdem ist die Reise durch die letzte Nacht ja bald zu Ende, dann stehste auf. Keine Widerrede!" Ich starre wieder an die Decke und versuche, die letzten Erinnerungsfetzen zusammen zu bauen. Aber da gibts nur noch ganz wenige.

Irgendjemand zerrt an meinem Arm. Ich mache die Augen auf und erkenne verschwommen M., auf der anderen Seite jemand, den ich nicht kenne. "Haha, das ist ja lustig!" denke ich, "aber jetzt wach mal auf, so'n Traum ist nicht normal!" Dann bemerke ich, daß ich nicht träume. "Komm mal mit, wir gehen jetzt heim!" sagt M. und auf einmal sehe ich wieder die Tanzfläche und die seltsamen Gestalten, höre die immer noch nicht gute Musik, stelle mich auf meine zwei Beine und...flupp, wieder weg.

Und dann: Neujahr. Blick auf die Uhr. Kurz nach 17.00 Uhr. "Fünf Minuten noch, Mutti!"...

Ich setze mich aufrecht im Bett auf. Am Berliner Abendhimmel explodiert eine Rakete. Rot-weiß. Und es scheint, als hätte ich noch einiges zu klären...

2 Kommentare:

  1. Das Poserbild ist der Knaller. Ich seh da aber eher Rocky Balboa. Fehlt nur die Statue. ;)

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    1. Da haste Recht, Rocky oben auf der Treppe passt besser! Da war ich nicht drauf gekommen. Statue und grauer Jogginganzug dazu und ich stehe Sly Stallone in absolut nichts nach :p

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