Sonntag, 31. März 2013

Der kleine Bi(e)ber und seine Freunde

Berlin ist berühmt für seinen Zoo und seinen Tiergarten. Heute ging es in Berlin aber nur um ein einziges kleines Tierchen. Nein, nicht um den Osterhasen.

Um den Bieber.

Vorname Justin.

Der kleine Bieber durfte zwar seinen pelzigen kleinen Kumpel, das Äffchen, nicht mit nach Berlin bringen, was ihn ganz traurig machte, dafür warteten aber im Schnee vor der O2-World ganz ganz viele neue mehr oder weniger pelzige Freundinnen und Freunde auf ihn. Kaum einer volljährig, abgesehen von den vielen begleitenden Elternteilen, deren Gesichtsausdrücke von völlig verwirrt über ungläubig bis zu fast schon panisch variierten. Wie soll man die eigene Brut bloß wiederfinden, wenn die hier abhanden kommt und sich vor lauter Hormonüberschuß kaum noch auf den Beinen halten kann, während sie durch die Menschenmassen irrt? Keine Chance. Nicht in diesem Chaos.



Zum Glück hab ich solche Sorgen mit Sohnemann nicht. Der kann den kleinen Bieber nicht ausstehen. Stattdessen lieber Ne-Yo oder Chris Brown. Das ist natürlich viel besser als der kleine Bieber. Man muss nur ganz fest daran glauben...

Wie selig sie alle lächeln, wenn sie bis zum Maximum aufgehübscht oder im Falle der recht wenigen kleinen Jungs bis zum Gipfel der Coolness gestylt von der U-Bahn-Station rüber zur O2-World eilen und wie plötzlich diese Glückseligkeit sich in Luft auflöst, wie hart die Realität zuschlägt, wenn sie die irrwitzig lange Schlange Wartender entdecken, die sich in einem verwirrenden Zickzackkurs über den Vorplatz der O2-World windet.



Die Schlange derer, die allesamt vor ihnen eingelassen werden, weil sie vermutlich seit Mitte März hier ausharren, mit Schlafsack, Teddybär und selbstgemaltem Herzchenposter.

Diese urplötzlich desillusionierten verzweifelten Blicke der kleinen Bieberfreunde sind greifbar. Erste Reihe, das wird nichts werden.

Die Traumblase zerplatzt.

Plopp.

Ich ertappe mich bei einem Grinsen.

Zeit für ein kleines Experiment. Ich wandere die ewig lange Warteschlange entlang bis ich ganz vorn vor der Eingangstür angekommen bin. Und dann stelle ich mich an. Vorderste Front. Noch vor all die verfrorenen Camper mit dem Tee aus der Thermoskanne. Mal sehen, wie lange das jetzt gut geht...

Nicht lange. Nach wenigen Sekunden die ersten bösen Seitenblicke, Getuschel, man zeigt mit dem Finger auf mich. Gut, sieht vielleicht auch ein bisschen seltsam aus, so ein vollbärtiger Mittdreißiger in vorderster Front beim kleinen Bieber. "Entschuldigen Sie mal, wir waren aber zuerst hier!" ruft mir eine Mutter zu, ihre etwa zwölfjährige Tochter nickt bestimmt. Ich versuche mich mit "Schon gut, ich hab das vorher per Mail abgeklärt, ich darf nach vorne!" zu rechtfertigen, was misslingt, probiere einen halbherzigen Versuch, mich durchzusetzen, aber der Mutter schwillt eine riesige Zornesader auf der Stirn und auch sonst wird Unmut laut, dieses Revier hier ist nicht meins. Sagt mir dann auch der nette Security-Mann, der sich wohl nicht ganz sicher ist, ob ich das alles ernst meine. Ich geh mal lieber wieder.

Als ich auf der anderen Straßenseite vor der East Side Gallery angekommen bin, höre ich, wie vorn am Eingang das Gekreische ein völlig neues Level erreicht. Die Tore sind offen, jeder will in die erste Reihe. Ab jetzt heißt es hier: "Survival of the fittest".

Samstag, 30. März 2013

Alles in einem Abwasch

Ich mag Erinnerungen. Mag die nicht jeder? Kommt vermutlich auf die Erinnerung an...

Und ich erinner mich an viele Dinge, leider nie an die in dem Moment relevanten, damals an der Uni in der verhängnisvollen Mikrobiologie-Prüfung hatte ich alles mögliche im Hirn herumflippern, die Antwort auf die gestellte Frage gehörte nicht dazu. Das war schlecht. Und endete im Chaos. Oder in einer Katastrophe. Zumindest für meinen Weg an der Uni. Der war nämlich zuende. An anderes Mal dazu vielleicht mehr.

Ähnlich erging es mir beim Abitur, mündliche Prüfung in Religion...Religion! ICH und Religion, ich hab das vermutlich nur gewählt, weil Religion immer so ein Laberfach war, wo man einfach irgendwas vor sich hin schwafelte und das dann mit dem Totschlagargument "Aber ich glaub dran!" begründete. Hat jahrelang funktioniert. Beim Abi nicht, denn da sollte ich nicht labern oder schwafeln, ich sollte zeichnen. An der Tafel.

#Fail

Viel besser (und lieber) als an mikrobiologische Formeln oder religiöse Dinge erinnere ich mich an persönliche Dinge. Und an Premieren. Persönliche Premieren quasi.

Das erste Tor im Fußballverein hab ich heut noch vor Augen, ich war damals neun und der Ball prallte nach meinem Schuss von einem Gegner abgefälscht ins Tor. Und ich habe gejubelt, als wäre ich grad Weltmeister geworden. Mein Tor war das zum 1-6, mein Verein bekam wiedermal eine Klatsche. War aber in dem Moment vollkommen egal. MEIN erstes Tor. Ich war stolz!

Das erste mal bei einer Prügelei gewinnen, daran erinner ich mich auch, da war ich zwölf oder so, bei mir zuhaus auf dem Dorf war der der Chef, der die (kindlichen) Prügeleien gewann. Wer weint hat verloren. That's it. Ich hab oft verloren, aber einmal an einem Tag im Mai, da hab ich D. voll in die zwölf getroffen und dann hat ER geweint. Und ich stand verdattert daneben und meine Freunde haben mich gefeiert.

Auch zu bedeutenden historischen Daten kann ich sagen, wo ich grad war und was ich tat.

Deutschland wird 1990 Weltmeister und ich bin 11 und tanze auf dem Wohnzimmertisch, was Vater zum Lachen, Mutter zum Kochen und mich zum einwöchigen Hausarrest bringt.

Als die Flugzeuge im September 2001 ins WTC einschlagen, sitze ich in einem Seminar der Bonner Uni und erfahre es per SMS von meiner Freundin, rufe es laut heraus und dann ist das Seminar egal und wir starren alle gebannt, verwirrt und berührt auf unsere Monitore, wo wir Informationen einholen. Ich erinnere mich, einige haben geweint, einer hat gekotzt, er war zwei Wochen zuvor noch im WTC gewesen.

Ich weiß auch von so gut wie jedem meiner Geburtstage noch, wo und wie ich ihn verbracht habe. Zumindest, wo und wie ich den Moment, in dem aus 23.59 Uhr 00.00 Uhr wird, verbracht habe.

Mit Überraschungsbesuch des besten Freundes, den man ewig nicht gesehen hat, sturzbetrunken mit dem Kopf auf dem Thresen in einer Bar, mit der Freundin auf einem Disco-Klo "redend", ich hab schon alles gehabt.

Dieses Jahr hab ich abgewaschen. In der heimischen Küche. In dem Moment, wo die Uhr von 23.59 auf 00.00 Uhr springt.

Und da musste ich lachen.

Donnerstag, 28. März 2013

I am heresy

"Wie geil, mit dem Schiff zum Konzert fahren, das hat was! Hamburg ist nicht immer doof!" denk ich mir, als ich die Hadag-Fähre verlasse, das in der Jackentasche versteckte halbleere Astra heraus hole, durfte auf der Fähre ja keiner sehen, Alk-Verbot im ÖPNV und so, und dann die paar Meter zum Hafenklang laufe, wo der Sänger meiner Lieblingsband heut mit seinem Nebenprojekt, seiner neuesten Band, spielt. Pflichttermin.

Vorm Laden noch kurz das Bier leeren, ich friere, ich leide, der eisige Wind pfeift mir um die Ohren, die Bierhaltehand friert so allmählich ein, denn Handschuhe habe ich wie immer zuhaus vergessen, wozu besitz ich eigentlich welche?

Die Körpertemperatur ist auf etwa 36 Grad gefallen, ich muss rein. Diesmal nicht wie sonst zum Punkerstammtisch in den ersten Stock, heut bleiben wir ebenerdig. Ein kleiner enger Laden, ich war hier mal auf ner Electro-Party, die war maximal "ok"...mal sehen, wie die nachher das Gitarren-/Bass-Gebretter rüberbringen.

Es ist duster und ich taue auf. Schaue mich um. Die Gesichter, die man sonst auf jedem Konzert von Lieblingssängers Bands sieht, die fehlen heute. "I am heresy" ist noch nicht "in", das ist gut so, je bekannter eine Band, desto bescheidener das Klientel und mit wachsender Anzahl der Zuschauer schwindet im Normalfall auch die Qualität des Konzerts, da fehlt dann die Intimität. Und die ist essentiell bei Konzerten, die gibts nicht bei Justin Bieber oder Rihanna wenn die in Stadien spielen mit Feuerwerk und Choreographen für Outfit und Auftritt und so.

Auftritt "Hierophant", Supportband, normalerweise verpasse ich Supportbands absichtlich, meist sind sie Quatsch. Heut verpasse ich den Support nicht. Die Jungs kommen auf die winzige Bühne und ohne jegliche Ansage wird losgebrettert, als gäbs kein morgen mehr. Krank! Das Schlagzeugstakkato vermöbelt mich, die Bässe gehen tief in den Magen, der etwa 1,65 große Frontmann holt Töne aus sich raus, das glaubt man nicht. Diese Band ist ein außer Kontrolle geratener Bus und ich bin der, der sich ihm todesmutig gegenüber stellt und dann überrollt wird.

Hierophant - Son of a tongues prison

Am Ende des 25minütigen Auftritts schmerzen mir die Ohren, der Adrenalinspiegel ist am Maximum und alles andere als nicht her zu kommen wäre die falsche Entscheidung gewesen.

Auftritt "I am heresy". Lustige Kombination, da stehen Vater und Sohn zusammen mit vier anderen Musikern auf der Bühne, Vater brüllt und singt, Sohnemann schreddert auf der Gitarre, der Rest der Jungs massakriert Bass und Drums, das Endprodukt ist wahnsinnig gut!

I am heresy - Seven wolves and the daughters of the apocalypse

Tragisch ist nur, was vor der Bühne passiert. Oder besser: was nicht passiert. Ich bin der einzige, der sich bewegt abgesehen von einem blonden Schlacks im Deftones-Shirt, was immerhin schonmal Musikgeschmack beweist und einer Tussi mit Dutt, die an sich ganz hübsch ist, dafür aber mit ihrem Arschgewackel à la Beyonce nervt, denn das passt hierher wie eine Massenkarambolage in den Osterurlaubsverkehr. Ansonsten um mich rum Stillstand, maximal wird mit dem Kopf genickt oder auf und ab gewippt, als wär das hier fucking Rihanna. Ich kapier sowas nicht. Ich hab sogar Beschwerden gehôrt. Es sei zu laut. Sagt der Raúl-Richter-Verschnitt neben mir und schaut empört. Zu laut. Bei nem Konzert einer Band, die Hardcore/Metalcore oder nenn es, wie du willst, spielt. Die war natürlich nicht zu erahnen, die Lautstärke. Mein Gott...

Ein verdammtes Monster von Konzert. Zwar nur maximal 100 Zuhörer, aber je weniger Leute, desto intensiver der Gig.

Ansage. "This is our last song! I'll get off this stage, it's crowded up here." Der liebste Musiker steigt von der Bühne, was nicht schwer ist, die ist ja nur einen halben Meter hoch. "This is our last song! Sing along!" brüllt er nochmal ins Mikro, rennt zu mir rüber, "Buddy, let's do this together!"...man kennt sich halt seit Jahren...

I am heresy - I am heresy

Zwei Tage später konnte ich dann auch wieder sprechen, inzwischen ist auch der Muskelkater in der Nackenregion abgeklungen und das Piepen in den Ohren ist auch Vergangenheit.

Ich vermiss es ein wenig...

Sonntag, 17. März 2013

Stalker

Heute hat ein ehemaliger Schulfreund Geburtstag sagt der Reminder meines Handys. Normalerweise wär mir das vollkommen egal, aber man ist lange zwei Jahre in einer Mitfahrgelegenheit zusammen zur Schule gefahren, man stand sich immer recht nah (sagt meine Mutter), er hat mich mal in Geschichte abschreiben lassen und außerdem ist man bei Facebook "befreundet".

Also ist eine Gratulation angesagt, denn "das macht man so". Sagt eine Freundin. Mit dem gleichen Totschlag-Argument hat sie mich auch schon zu sonntäglichen Spaziergängen (Sonntage sind Bett-Tage!!) überredet. Oder dazu, Bio-Eier zum Frühstück zu kaufen. "Das macht man so!" Weiber...

Also habe ich total motiviert auf die Facebook-Seite meines Schulfreundes, den ich seit locker sechs Jahren weder gesehen noch mit ihm gesprochen oder bei Facebook geschrieben habe (da hat er mich erst vor zwei Jahren gefunden, meine Tarnung war leider unsicher), geklickt, um dort Standardphrasen zu hinterlassen.

Mach ich ja ungern. Nicht Standardphrasen verschicken sondern Geburtstagsglückwünsche. Generell kann ich Geburtstage nicht leiden und hab noch nie einen von meinen groß gefeiert. Maximal lad ich Freunde auf ein Getränk ein, das war's. Das ganze Brimborium brauch ich nicht.

Ich tippe also wahllos etwas gut klingendes auf die Facebook-"Pinnwand" meines Schulfreundes, meine das auch ernst, "hab einen tollen Tag und lass dich feiern", das schreib ich aber immer und fast jedem, weil mir sonst partout nichts einfällt. Auch bei engen Freunden nicht. Soviel zum Thema "keine Standardphrasen"...

Fertig getippt, abgesendet, was nun? Facebook bietet ja einen Haufen Möglichkeiten, also checke ich die Freundesliste. Mit welchen meiner ehemaligen Jahrgangsmitschüler mag er wohl in Kontakt stehen? Was ist aus denen geworden?...Interessiert mich das? Ich entdecke viele bekannte Gesichter.

Da ist A., in die ich lange heimlich verknallt war, sie ist immer noch mit ihrem Kerl von damals zusammen, hat nun drei Kinder, sieht immer noch toll aus und scheint glücklich zu sein. Find ich klasse!

Da sind F. und C., damals Muskelprotze, die mich gern mal im Supermarkt neben der Schule ins TK-Fach verfrachteten (daraufhin bekam ich dort Hausverbot) oder mich auch gern mal kurz vor Anfang des gemeinsamen Kurses im schuleigenen Turm einsperrten, der innen keine Türgriffe hatte...dann durfte ich den langen Weg runter, über den Schulhof, rein ins Gebäude und wieder hoch in den dritten Stock laufen und kam so quasi immer zu spät. Heutzutage nennt man sowas wohl Mobbing, damals gabs kein Mobbing, da hieß das "Talk im Turm" (in Anspielung auf eine Talk-Show, die damals recht bekannt war). Ein Wortspiel, ein gutes, das geb ich zu. "Talk"="Thorge" (das "e" bei meinem Namen einfach weg lassen...) und der Turm war halt eben Teil unserer Schule, die war ehemals ein Kloster und sehr verwinkelt. Dieses Spiel haben F. und C. gern gemacht. Hab mir dann ihre Profile auf Facebook angesehen...und musste schadenfroh grinsen. Mehr sag ich nicht. Datenschutz, Persönlichkeitsrechte, bla. Aber es ist schon sensationell, was so mancher öffentlich postet...Idioten! Schon damals, jetzt immer noch.

Da ist T., die war damals ein halbes Jahr als Model weltweit unterwegs mit ihrer Magersucht, jetzt ist sie Hausfrau irgendwo im Nichts. Da ist N., die hat ihr Abi mit 1,0 gemacht, das Studium auswärts in Süddeutschland hat sie nicht verkraftet. Endstation Klappse, jetzt fährt sie Pizzen aus.

"Eigenes Profil". Klick. Genug gestalkt. Einiges gelernt. Bisschen gelacht, bisschen in Erinnerungen versunken, bisschen an den Erinnerungen verschluckt, gehustet, ausgespuckt, gepaddelt, oben geblieben.

Was hab ich gelernt? Scheiß auf Facebook! Und möge Herr D. einen tollen Tag haben! Da irgendwo im nirgendwo! Herzlichen Glückwunsch!

Samstag, 16. März 2013

Unentschieden

In der U1 stadtauswärts, auf dem Weg in verschlafene Hamburger Vororte, sitzen sich zwei Menschen gegenüber und starren angespannt auf ihre Smartphones.

Einer davon bin ich.

Samstag Nachmittag, kurz vor 17 Uhr. Bundesliga. Live-Ticker. Und es sieht mal wieder nicht gut aus für mein Team.

Ein Tor Rückstand, 20 Minuten noch.

Es tut sich was. "Tor in Bremen!" verkündet der Ticker und ich beiße mir auf die Lippe...bloß nicht Gegentor Nummer 51 in dieser Saison. "Ausgleich, 2-2!" verkündet der Ticker und ich balle die Faust und kann lauten Jubel grad noch so unterdrücken.

Der Typ gegenüber nicht. Er springt auf, reißt die Arme nach oben und brüllt ein langgezogenes "TOOOOOOOR!!!!" durch die Bahn. Dann bemerkt er, daß ich das gleiche bejubele, nur eben ruhiger, und daß ich ihn relativ verwundert beobachte und mit den Worten "Scheiße, geht doch Alder!!" hält er mir die Hand zur hohen Fünf hin. Mitreisende werfen uns irritierte, nicht sonderlich freundliche Blicke zu.

Grün/Weiße Jubelszenen im "Feindesland". Sowas ist hier nicht sooo gern gesehen.

An der nächsten Station steigt er aus und feiert laut hörbar auf dem Bahnsteig weiter.

Dabei gibt's eigentlich nichts zu feiern.

Unentschieden zuhause gegen das Schlußlicht. Zu früheren glorreicheren Zeiten hätte man als Fan entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, hätte frustriert geflucht, heute ist man fast schon erleichtert. Fast schon "zufrieden". Fast schon tragisch.

These are desperate times.

Donnerstag, 14. März 2013

Nietzsche im Ghetto

Es ist gegen 15 Uhr, der Himmel ist weiß-grau, ein typischer Schneehimmel, und dementsprechend fällt der Schnee auch, in dicken Flocken, zentimeterhoch liegt er schon auf dem Boden, denn seit letzter Nacht schneit es ununterbrochen.

Der Busfahrer mag mich nicht, das merk ich sofort. ich stehe fast neben ihm, nur diese komische Durchgangsschranke trennt uns. Hat das Ding eigentlich einen Namen? Er mustert mich mit einem miesgelaunten Gesichtsausdruck von oben bis unten und schaut abschätzig. Vermutlich, weil er warten musste, als ich im Vollsprint zur Haltestelle gerannt kam, um den Bus noch zu erwischen. Er hätte nicht warten müssen, wäre er nach Fahrplan gefahren und nicht wiedermal zwei Minuten zu früh dran gewesen. Aber pünktliche Fahrzeiten und meine beiden Buslinien hier...das passt nicht zusammen. Und bei solchen Wetterverhältnissen ist man ja froh, wenn überhaupt was fährt.

Ich freue mich über den Schneefall und der Busfahrer schaut noch vorwurfsvoller, während er den Bus durchs derbste Schneegestöber steuert. Den Seitenblick auf mich kann er sich leisten, denn durch die Frontscheibe sieht man eh im Prinzip nichts. Nur weiß, selten rot, das ist dann je nach Höhe Bremslicht oder Ampel. Wir sind im Prinzip im Blindflug.

"Irgendwo hier sollte die Haltestelle sein" sagt der Busfahrer, "ich seh sie nicht. Aber irgendwo hier!" Er hält an der Grenze zum Steilshooper Ghetto an. Einfach mal Blinker rechts und alle raus. Ich trete in den für Hamburger Verhältnisse "Blizzard", stehe direkt bis zum Knöchel in einer Schneewehe und der Wind peitscht mir die Schneeflocken ins Gesicht.

Guter Mann, der Busfahrer, die eigentliche Haltestelle hat er nur um wenige Meter verfehlt und aus dem Blizzard kommen nun die angelaufen, die weiter rein nach Steilshoop wollen. Oder besser: müssen. Da fährt man doch freiwillig nicht hin. Von der Kulisse der Steilhooper Plattenbauten, die sich sonst am Horizont auftürmen und die ich abends und vor allem jn der Vorweihnachtszeit irgendwie mag mit all ihren erleuchteten Fenstern, ist heut nichts zu sehen. Man sieht nur weißgrau und windig. Oder wie ich gar nichts, weil der Schnee die Brillengläser erblinden lässt. Ich strauchele und schliddere vorwärts zum Discounter meines Vertrauens und als ich ihn betrete, schmelzen zwar die Schneeflocken auf den Brillengläsern, dafür beschlagen diese innerhalb von Millisekunden aufgrund der Wärme. Macht's nicht besser.

In dem Raum, wo man die PET-Flaschen abgibt, hat sich, obwohl es dort unfassbar stinkt, einer eingerichtet, Schlafsack, einen Wasserkocher und wenige weitere Habseligkeiten hat er dabei und er liest ein Buch. Ein Werk von Nietzsche. Zerfleddert. "Ecce homo".

Unsere Blicke treffen sich, er in versifften Klamotten mit fettigen Haaren, ich frisch geduscht aus dem Schneesturm kommend, wahrscheinlich bemitleidet er grad mich, so verfroren und durchnässt, wie ich aussehen muss. Noch dazu mit den Augen plinkernd, da ich die beschlagene Brille in der Jackentasche verstaut habe und jetzt mehr so nach Erinnerung vorwärts laufe. Es muss schon lustig aussehen.

Ich kauf mein Zeug ein, Salami, Milch, Tiefkühlzeug und all sowas. "Ob der Großteil der Kundschaft oder die Kassiererinnen hier Nietzsche überhaupt kennt?" frag ich mich, warum auch immer. Und bezweifle es. "Aber der ohne Zuhause, der tagsüber im stinkenden Raum neben der Flaschenabgabe hockt und den alle meiden, einen Bogen um ihn machen, ihre Kinder von ihm wegziehen, "Nein, kommt da mal weg, der Mann ist nicht sauber, der wäscht sich nicht!", DER liest Nietzsche. Und die, die ihn meiden, können Nietzsche eventuell nichtmal buchstabieren. Krank.

l Raus aus dem Laden, mit gesenktem Kopf kämpfe ich mich durch den Schneesturm zur Bushaltestelle und hoffe, daß ich nicht allzu lange warten muss. Niemand bleibt freiwillig länger als nötig in Steilshoop. Nur der Obdachlose geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Wie kommt der durch die Nacht? Fünfzehn Zentimeter Neuschnee, vielleicht sogar mehr, Freiluft-Schlafen ist unmöglich und ob der Mitternachtsbus, der sich im Winter um Obdachlose kümmert, auch hier durchs Ghetto kurvt und nicht vielleicht eher St. Pauli und die Innenstadtbereiche abklappert (was auf jeden Fall schonmal großartig ist!)? Ich weiß es nicht.

Ich drück Nietzsche aus dem Ghetto alle verfügbaren Daumen. Mal sehen, ob er heut wieder dort im Raum sitzt und liest, besser als draußen in der Kälte ist es dort definitiv!

Mittwoch, 13. März 2013

Über den Tellerrand - Ein paar Links zu tollen Blogs/Texten.

Das ein oder andere Mal wurde ich bereits verlinkt oder weiter empfohlen, was jedes Mal zu einem rapiden Anstieg der Klicks auf diese meine Seite führt und worüber ich mich dann jedes Mal sehr freue. Also dreh ich den Spieß mal um und verlinke selber. Denn andere Mütter haben auch tolle Blogger/-innen hervorgebracht :)

Das in Kreuzberg viel geflucht wird, war mir schon aufgefallen, in Kreuzberg Süd/Ost scheint es aber jetzt einfacher zu sein als früher.

Weiter geht's im tiefen Osten Berlins. Der Kiezneurotiker feiert irgendwo im nirgendwo. Aber feiert er wirklich?

Gefeiert wird auch bei unseren Freunden auf der Insel. Kent. Pub. Bier. Bier? Zweifel!

Die liebe Nessy fährt stattdessen lieber Aufzug im Krankenhaus. Die Fahrt verläuft relativ skurril.

Und fast ganz aktuell meldet Hamburg außerirdischen Besuch, ausgerechnet in St. Pauli. Aber gut, da würden die kleinen grünen Männchen vermutlich gar nicht auffallen...

Mittwoch, 6. März 2013

Five minutes of fame

Ich habe vor ein paar Tagen gelesen, dass die mittägliche Talk-Show ausstirbt. Sendungen, von denen man sich wünschte, man hätte sie längst verdrängt und doch erinnert man sich noch an Namen wie Vera Int-Veen, Andreas Türck, Arabella Kiesbauer oder meinen persönlichen Favoriten Ricky Harris...was ist aus denen eigentlich geworden? Ausgewandert? Reich geheiratet? Tot? Oder einfach nur komplett in der Versenkung verschwunden? Auf jeden Fall nicht mehr auf Sendung - und das ist auch gut so.

Übrig geblieben ist nur sie: Britt Hagedorn, die weiterhin in ihrer ganz innovativ selbstbetitelten Sendung in der Mittagszeit auf - wo sonst - RTL hauptberuflich ermittelt, wer der leibliche Vater von Jennys (19) Tochter Chantal-Samantha ist: Kevin (20), Justin (18), Jeremy (17) oder doch wieder Lothar Matthäus. Ab und an werden auch mal Fremdficker enttarnt, das sind aber Ausnahmen, meist geht's aber um die neuen Väter von Jennys Kids. Oder von Nancys. Jaquelines. Und wie sie alle heißen...

Früher, vor zehn Jahren oder so, hab ich mir den Mist tatsächlich angeschaut, denn einen besseren Ego-Boost gabs ja gar nicht! Man kam frustriert von der Uni heim, hatte in der Mikrobio-VL mal wieder NULL verstanden und sah dann im TV Gestalten, die sich benahmen wie rasierte Schimpansen - was jeder Schimpanse vermutlich als Beleidigung empfände. "Es gibt sooo viele Leute, die sooo viel blöder sind als du!" war immer die Essenz solcher Talkshow-Marathons und so lief man am folgenden Tag wieder beschwingt in die Vorlesung. "Schlechter als gestern kann's nicht werden, denk immer an die Deppen im TV!" Beim Türck, bei Ricky, bei Britt.

Bei solchen Erinnerungen muss ich immer lachen. Denn ich war mal bei "Britt" in der Sendung. Nur als Zuschauer natürlich...im Publikum. Unauffällig. Hab ich gedacht.

Aufzeichnungsbeginn 16 Uhr, man soll aber, so die Ansage, gern zwei Stunden früher am Studio sein, das liegt irgendwo im Wandsbeker Niemandsland. Die Tickets haben die Jungs und ich von einer jungen Frau auf dem Hamburger Dom bekommen, da rennen immer Talkshow-Drückerkolonnen rum und casten Zuschauer.

Alle sind pünktlich, etwa 150 Menschen, alle so 18-40 etwa, ein illustrer Haufen. Der Vorraum ist rappelvoll, als ein junger Typ verkündet: "Die Bar ist jetzt offen!"

Was zur...?! Bar?!? Einige Mienen hellen sich zusehends auf.

Durch ein kleines Fenster bringen zwei Mädels Getränke an Mann und Frau. Fanta, Cola, Bier, Wein, Sekt...am frühen Nachmittag. Für lau. Man kann sich hier also knappe zwei Stunden lang für umme volllaufen lassen, bevor es dann zur Aufzeichnung geht. DAS erklärt einiges.

Wir haben uns benommen. Nicht übertrieben. Zwei, drei Bier nur. Damits nicht ganz so schlimm wird, außerdem: Man wollte ja von der Sendung noch was mitbekommen. Warum eigentlich?

Clever wie wir waren, ergatterten wir Plätze ganz außen und in der obersten Reihe der Zuschauerplätze, die mich spontan an Tribüne bei Heimspielen der angolanischen U16 im Tischkicker erinnerten. Gruselig. Zusammengezimmert aus Baustellenresten. Holzbänke, nach sieben Sekunden schmerzt bereits das Heck. Aber zumindest außer Sichtweite jeglicher Kameras. Haben wir gedacht.

Auf der Tribüne ging einiges, es waren ja fast alle angeschickert. Gekicher, Geschubse, irgendwer hatte sogar ein paar Kurze reingeschmuggelt. In der Reihe vor uns ein paar Bundis auf Freigang, die wie die Weltmeister die anwesende Damenwelt anbaggerten. Da kam es zu Dialogen...Wahnsinn!

Die Aufzeichnung beginnt, die Einpeitscher geben vor, wann man zu klatschen und sich zu freuen hat, was bereits ausführlich geübt wurde, bevor die Moderatorin die Bühne betrat. Trotzdem (oder grad deswegen?) verweigern cirka die Hälfte der Anwesenden Britt ihren Auftrittsapplaus, was sie dazu veranlasst, ihren Auftritt zu wiederholen. Jetzt klatscht fast gar keiner mehr. Das hat ja gut geklappt...

Britt verkündet das heutige Thema. Überraschung, Vaterschaftstests. Das Publikum johlt nun doch und fordert die ersten Delinquenten.

Und während die unten auf der "Bühne" abgefertigt werden, regiert in den Besucherrängen das Chaos. Vor allem ganz außen ganz oben, wo die Jungs und ich und vor uns die Bundis sitzen. Der Securitymensch, der vorher die Eintrittskarten gecheckt hatte, steht nun in der Nähe und lässt unsere Gruppe nicht aus den Augen. Die ersten beiden Notfälle sind durch, die "glücklichen Väter" stehen fest und verlassen hängenden Kopfes die Bühne.

Kumpel L. muss mal, mogelt sich an Einpeitschern und Security vorbei, denn während der Aufzeichnung darf natürlich niemand seinen Platz verlassen. Als er zurück kommt, freundlich grüßend direkt am verdatterten Sicherheitspersonal vorbei, grinst er über alle vier Backen. "War noch Rauchen und n Bier exen. Die haben da n Monitor wo die Aufzeichnung läuft. Leute, ratet mal!! Wir sind die GANZE Zeit im Bild! Immer, wenn die Britt-Trulla gefilmt wird, sitzen wir im Hintergrund! Da muss sich doch was draus machen lassen!!"

Ab da fing das Ganze dann also an, Spaß zu machen. Spontane Sitzplatz-und-Klamottenwechsel, diverse Brillen und Caps machten die Runde und die Bundis in der Reihe vor uns begannen, gegenseitig auf dem Schoß des anderen Platz zu nehmen, was leicht irritierte. Das alles entweder unbemerkt, wohl eher aber geduldet von den Verantwortlichen.

Das ganze ging dann auch so auf Sendung, zum Ausstrahlungstermin habe ich in meine Studi-WG eingeladen und bei Pizza und Bier haben sich über zwanzig Personen so großartig amüsiert, wie wohl sonst nie bei einer simplen Talkshow. Die damalige Lebensabschnittsgefährtin hat das ganze glücklicherweise aufgenommen (Videokassetten, sowas gabs damals noch!) und wir haben noch lange danach vor der Glotze gesessen und versucht, dieses Suchspiel aufzulösen. "Guck, jetzt trägt M. deine Jacke und du die von nem Bundi!" - "Ja, aber wer trägt meine Brille? Und warum sitzt L. plötzlich drei Reihen weit weg?!" Bei jedem neuen Kameraschwenk auf Britt ein neues Suchspiel im Hintergrund. War was für Rätselfans!

Mir wurde mal erzählt, Ausschnitte wären sogar bei TV Total gezeigt worden, daß kann ich aber nicht bestätigen. Aber fänd ich lustig.

Eine Freundin hat sich Jahre später im Prosecco-Räuschchen auch mal breitschlagen lassen, mit ihren Mädels dort im Publikum zu sitzen. Sie kannte natürlich die Geschichte.

Ich bekam dann eine SMS. "Hier ist bei der Bar kein Monitor, die haben dazu gelernt! Frechheit! Aber rate mal, was das Thema ist... P.S. Wir sitzen gaaaanz unten, sicher ist sicher!"

Freitag, 1. März 2013

Nicht von Touris oder Hipstern

Gegen halb drei Uhr morgens. Eine Kneipentoilette in Prenzlauer Berg. Und ich davor. Das grauenhafte Abend"essen" bahnt sich seinen Weg in die Freiheit, äußerst widerwillig zwar, aber...lieber keine Details.

Während ich da so hocke und das einzige Männerklo dieses Ladens, der nichtmal einen Namen hat, blockiere, bollert es ab und zu an die Tür, "Eyh, mamma auf jetze!! Imussma!!" Würd ja gern öffnen, aber jetzt grad...is schlecht... "Wie zur Hölle bist du hier gelandet?" frag ich mich, während ich die gelblich-weißen Kacheln an der Wand anstarre und darauf warte, was mein Verdauungstrakt als nächste Überraschung parat hält.

Wie war denn das noch? Bruchstückhafte Gedanken...M. hat endlich Feierabend, raus aus dem Büro... Feierabendbier in der "Rumbalotte", das ging noch gut...weiter zum "Baiz", an sich ein Lieblingsplatz, scheint aber neuestens in Touri-Guides zu stehen, kein Platz, rappelvoll, alles Kacke...dann fiel M. was ein. "Ich hab in Stevensons Blog was gelesen, Kneipe, ranzig, irgendwo Knaackstraße, fahrn wa hin!"

Gute Idee, was der Stevenson auf www.kiezneurotiker.blogspot.de gut findet, das ist immer kompatibel. Fakt. Erfahrungswerte. Also ab dafür.

Dummerweise war der Schuppen aber dermaßen voll, daß M. und ich kaum noch reinpassten. So muss es in Indien sein. Rückzug.

Und nun? M. reichts. "Gehn wir eben nebenan rein, da gibt's auch Bier und inzwischen hätt ich gern eins! Außerdem regnets!"

"Sieht ja finster aus" hab ich mir noch gedacht, bevor ich die Tür geöffnet habe, "aber er hat ja Recht, Regen nervt schon, außerdem...

...ach du Scheiße, was ist DAS denn?!?"

Eng, verraucht, verbraucht (was sowohl für die Inneneinrichtung als auch das Publikum gilt), alles seltsam gelblich-düster "erleuchtet", als schaue man durch eine getönte Brille, der Mief aus kaltem Zigarettenqualm gemischt mit Bierdunst und Rotweinatem schlägt einem ins Gesicht und die zahlreich Anwesenden, meist rotnasig, bebierbaucht und allesamt schon recht angeschlagen, beäugen uns Neulinge, als wären wir Alf und E.T. höchstselbst. Das ist Absturz hier, aber mit Anlauf! Nix Touri, nix Hipster, nix Schwaben, nix Pärchenabend. Spontan muss ich an "Herr Lehmann" denken, aber das ist hier noch ne Liga weiter unten. Kurz: Wahnsinnig sympathisch!

Passenderweise ist auch nur noch Platz am Thresen und wir sitzen kaum, da haben wir schon einen neuen Freund. Detlef, Mitte 50, Vokuhila, Schnäuzer, Brille mit Goldrand, Typ Pornostar in den 70ern. Ein geiler Typ, ein Original! Im Laufe der Nacht werden wir seinen kompletten Lebenslauf erzählt bekommen, den man verfilmen sollte, davon ahnen wir allerdings noch nichts. Das neue Bier ist auch gleich da, ich nehm, dem rebellierenden Magen geschuldet, nur ein kleines, Detlef quittiert das mit einem Blick, aus dem ein bisschen Verachtung spricht.

Und dann legt er los und ist kaum noch zu stoppen. Schwere Kindheit, Jugend in der DDR, Jobverlust, Zeit im Knast, die Entwicklung in seinem Kiez am Helmholtzplatz, alles ist dabei, zwischendurch pöbelt er gegen das System, die Kanzlerin, die Kirche ("Religion ist die größte Krankheit unserer heutigen Gesellschaft!!"), er ist mit Herzblut dabei, steigert sich rein, diskutiert leidenschaftlich mit M., wird laut, entschuldigt sich tausendmal dafür, nur um zehn Sekunden später wieder an die Decke zu gehen. Wie gesagt, ein prima Kerl!

Ich hätte gern mehr zum Gespräch beigetragen, aber Magenschmerz und gute Laune krieg ich leider nicht unter einen Hut.

Während die beiden ausgiebig über Detlefs Religions-These palavern und sich fast ein bisschen in die Haare kriegen, hab ich Zeit, um mal die ganzen Charakterköpfe in diesem Gastraum anzuschauen. Spektakulär!

Am Tisch neben der Türe ein Endsechziger mit nem Kopf wie ne Bowlingkugel und ohne Hals, dafür im feinsten Ausgehzwirn. Weißes Hemd, schwarze Weste, Jackett, Fliege(!!), er scheint eher zu beobachten, trinkt nur, redet kaum, wenn eine der wenigen anwesenden Frauen vorbeikommt, steht er auf und deutet eine Verbeugung an.

Ein weißhaariger Klotz von Kerl mit einer Frisur, wie ich sie von Mönchen kenne. Kahle Platte, ringsum nackenlang. Abgefahren. Er scheint jeden zu kennen, zumindest wechselt er alle paar Minuten den Standort, textet wahllos andere Gäste voll und scheut auch nicht vor Umarmungen, was ich bitte nicht erleben möchte! Außerdem haut er sein Bierglas jedes Mal, wenn er an einem Tisch stehen bleibt, mit solchem Nachdruck auf selbigen, daß ich Angst bekomme.

Dann ist da Chuck oder so, Amerikaner, "Künstler oder sowas, hat ein Atelier", wie Detlef mit abschätzigem Blick erzählt. Chuck trägt Schiebermütze, einen dichten roten Vollbart und sein Hemd weit aufgeknöpft bis dorthin, wo der massive Bierbauch anfängt. Chuck sieht im Bauchbereich aus wie ein Heißluftballon. Und Chuck hat seinen Toy Boy dabei, Typ Latino, langhaarig, schmale Statur. Gegensätze ziehen sich an und so.

Zu guter Letzt noch ein Kerl, Alter unschätzbar, da viel zu verquollenes Gesicht gepaart mit außer Kontrolle geratener Mimik. Sechzehn Promille, Minimum. Hatte optisch was von Gollum. Mochte mich nicht leiden. Stierte in meine Richtung und der Mund formte Worte, Laute, irgendwas, die Faust ballte sich mehrmals, zur "Beruhigung" wurde ihm immer wieder neues Bier hingestellt, was er dann in schöner Regelmäßigkeit umschüttete, um dann wild gestikulierend Ersatz zu fordern.

Ich könnt noch ewig weiter machen, aber irgendwann ist's auch gut.

Die gelblich-weißen Wandkacheln fangen an zu nerven und das Bollern an der Tür wird zunehmend eindrücklicher. "Komma raus jetze, imusskaggn!! Alta!! Sollnditt?!?" Also aufraffen, dem aufgebrachten vermutlich Rotnasigen auf der anderen Seite der Tür möglichst unterwürfig begegnen - "Sorry, aber dit musste sein! Jeh bloß nie Burger anna Schönhauser fressen!...Neeh, nich dit kleene Ding anna U2-Station, hör bloß damit uff sonst schließ ick mir direkt wieda ein!!"

Noch kurz zu M. und Detlef gesetzt, dann ging's bald heim. Raus aus "Herr Lehmann", rein ins reale Berlin. Mit Touris, Hipstern und turtelnden Paaren in der Bahn. Turtelnden Touri-Hipsterpaaren.

Was Detlef wohl dazu sagen würde?