Donnerstag, 20. Februar 2014

Brutus - Eine Absturz-Geschichte

Ein Sonntag im Frühjahr 2007.

Der Schädel dröhnt, als würde ein Kampfjet in ihm starten. Die Augen sind total verklebt und der Mund ist trocken.

Ich huste ungefähr dreißig Sekunden lang rasselnd und der erste halbwegs klare Gedanke schießt mir in den Kopf. "Verdammte Scheiße, wieder zuviel geraucht."

Blinzelnd erkenne ich verschwommen das "The Wohlstandskinder"-Poster, das an der Wand neben dem Bett hängt. "Zumindest bist du zuhause, das ist schonmal gut" denke ich mir.

In meinem Rücken höre ich Geräusche.

Ich erstarre. Und überlege.

"Himmel noch eins, wen hast du mit heim genommen??"

Es fällt mir nicht ein, die letzte Erinnerung an die vergangene Nacht ist, wie ich mit Loveboy und Immanuel Cunt die Cobra Bar auf dem Kiez entere. Das muss so gegen drei Uhr gewesen sein schätze ich...aber was war danach?

In meinem Rücken ein recht lautes Atmen und mir wird ein Stück der Bettdecke weg gezogen.

Grundgütiger, da liegt irgendein Mädel neben mir, wie erklär ich das erstens mir und zweitens meiner eindeutig besseren Hälfte??

An der Decke wird nun etwas heftiger gezerrt und es ist so etwas wie ein Knurren zu vernehmen. Was zur Hölle...??

Na gut, also umdrehen. Ich brauche eh einen Schluck zu trinken und außerdem wäre es mal interessant zu wissen, wie spät es eigentlich ist. Meinem Schädel nach zu urteilen mindestens Nachmittag.

Ich atme ein Mal tief durch und bin eigentlich auf alles gefasst, selbst darauf, ein Kompliment zu vergeben ("Gut siehst du aus nach DER Nacht!") oder eine Entschuldigung mit angeschlossener Hinaus-Komplimentierung aus meiner Wohnung zu stammeln ("`tschuldigung, gut siehst du aus nach DER Nacht...aber wird Zeit jetzt, sorry...")

Ich drehe mich um und...

...sehe einen auf meiner Bettdecke herum kauenden Hund.

Was zum Fick???

Der Hund ist recht groß, hat braunes Fell mit einem weißen Fleck auf der rechten Schulter und als er mich bemerkt, lässt er die Bettdecke in Ruhe, hechelt mich an und wedelt erwartungsfroh mit dem Schwanz. Eine ans Halsband angehakte Leine hängt auf den Boden herunter.

Ich habe urplötzlich einige Sorgen weniger, dafür aber auch einige Fragen mehr.

Der Hund freut sich einen Keks und stubst mit seiner Schnauze gegen mein Bein, während ich das in diesem Moment einzig richtige tue. Panische Anrufe bei den Begleitern der letzten Nacht. Immanuel Cunt, die Fotze, geht nicht ran, der Loveboy aber hebt ab und klingt erstaunlich frisch.

"Alter, ich hab einen Hund in meiner Wohnung!" - "Ich weiß!" - "Wie, ich weiß??" - "Haste mir erzählt. Guck mal in deine gesendeten SMS. Du hast dich total drüber gefreut!" (...)

Tatsächlich entdecke ich eine SMS, abgesendet um 7.53 Uhr am Morgen. Den Wortlaut werd ich wohl nie vergessen: "Alter, ich hab jetzt n Hund! Hab ich grad gegen meinen Tabak getauscht! Er kann aber keine Treppen steigen. Ich nenne ihn Brutus!"

Brutus schaut inzwischen etwas ungeduldig und ist kurz davor, wieder am Bettbezug zu kauen. Meine erste Idee war dann, das Brutus sicherlich Hunger hat, beim Blick in die Küche fand ich allerdings ein Schlachtfeld vor. Im Suff hatte ich anscheinend für ihn so gut wie alles aus dem Kühlschrank auf dem Küchenboden ausgebreitet und Brutus hatte sich nach Lust und Laune bedient. Vermutlich war er deswegen auch so gut gelaunt, als ich endlich aufwachte.

Brutus stand nun erwartungsfroh mit dem Schwanz wedelnd und mit verkniffenem Gesichtsausdruck vor der Wohnungstür und ich mit einem derben Kater neben mir.

Auf die Uhr hatte ich inzwischen geschaut...später Nachmittag. Kurz vor Dämmerung.

Rechtzeitig habe ich aber noch eins und eins zusammen gezählt und realisiert, dass der gute Brutus sich vermutlich auch mal erleichtern muss. Also habe ich mich in Schale geworfen und mir einen Schlag Wasser durchs Gesicht geschmissen, um halbwegs wach zu werden und menschlich auszusehen.

Ich wohne im dritten Stock. Als ich vier Stufen nach unten gestiegen war, spannte die Leine. Brutus stand fröhlich mit dem Schwanz wedelnd an der obersten Stufe und schaute interessiert zu mir herunter. Nach minutenlangem guten Zureden erinnerte ich mich an die SMS, die ich Loveboy geschickt hatte: "...Er kann aber keine Treppen steigen..."

Nachdem ich den guten besoffenen Koppes in der Nacht zuvor anscheinend schon rauf in den dritten Stock getragen hatte, trug ich ihn jetzt also wieder herunter - in der ständigen Angst, das Brutus nicht mehr an sich halten kann, seine bis dahin einwandfreien Manieren vergisst und einfach laufen lässt.

Da Brutus aber ein guter Hund ist, hat er, nachdem ich ihn abgesetzt hatte, ungefähr zehn Sekunden gewartet - dann hat er vor meinem Wohnhaus einen Haufen von ungeahnter Größe gemacht. Schön mittig auf den Gehweg. Ein Monument quasi.

Ich hätte den Haufen gern dort liegen gelassen, moderne Kunst und außerdem ein Requiem an Stunden, die ich nie vergessen werde...

...

Nach dem Setzen des monumentalen Haufens wollte Brutus spazieren gehen. Er schleifte meinen ausgelaugten Körper einige hundert Meter weit, blieb dann vor einem Hauseingang stehen und bellte wie bekloppt. Dreißig Sekunden später kam eine Mittdreißigerin samt ihrer kleinen Tochter aus dem Haus gestürmt.

Brutus freute sich einen Kullerkeks und die Kurze warf sich ihm um den Hals.

Die Mutter wandte sich mir zu, freudig erregt und strahlend." Wo haben Sie unseren Harry gefunden? Wir haben ihn so vermisst!!"

Ich konnte darauf nicht antworten. Ich wusste es ja nicht. Im Nachhinein wäre "In meinem Schlafzimmer neben dem Bett." wohl eine recht coole Antwort gewesen.

Mir wurde ein Finderlohn angeboten, ich habe ihn aber abgelehnt. Obwohl ich Brutus/Harry mochte, war ich doch froh, ihn wieder los zu sein.

Am Ende hat sich herausgestellt, dass ich auf dem Heimweg vom Kiez in sturzbesoffenem Zustand den damaligen Lebensgefährten von Brutus`/Harrys Besitzerin in meiner Straße getroffen hatte. Er, genau so dicht wie ich, wollte Tabak und ich in dem Moment wohl unbedingt einen Hund...also haben wir wohl einfach getauscht.

Brutus/Harry freut sich bis heute, wenn er mich auf der Straße sieht, er kommt dann angelaufen und möchte mindestens ein paar Minuten lang gestreichelt werden. Nicht alle, die mal eine Nacht in meinem Schlafzimmer verbracht haben, sind Jahre später noch so begeistert, wenn sie mich treffen...

Samstag, 15. Februar 2014

"Wenn kommt, kommt!" (1): Damals im Ex-Job: Gut und böse

Während meines letzten Jobs habe ich über die Jahre viel erlebt. Viel lustiges, viel erschreckendes, viel verstörendes, vieles, das einen traurig machte, wenn man mal genauer darüber nachdachte...die Liste ließe sich noch deutlich verlängern.

Vermutlich treffen solche Erlebnisse auf eine Menge Jobs zu, ein Arzt erlebt auch viel, sowohl Schönes als auch Schlechtes, ebenso wohl ein Berufssoldat oder ein Archäologe in fremden Landen.

Dazu hat es bei mir leider nicht gereicht.

Ich habe einige Jahre in einer Sportwetten-Annahmestelle für einen der größten in Deutschland ansässigen Wettanbieter gearbeitet. Bodensatz der Berufswelt, viel weiter unten geht kaum. Ätzender ist vermutlich nur noch der nächtliche Küchenjob bei irgendeiner Fastfood-Kette oder das Foltern und Nerven von Mitmenschen mittels telefonischer Meinungsumfragen - beides habe ich auch schon hinter mir. Und beides mach ich freiwillig NIE wieder.

Für diejenigen, die noch nie ein Wettbüro von innen gesehen haben (so wie ich vor meiner ersten Schicht - es war ein absoluter (Kultur-)Schock), lässt sich das grob so zusammenfassen: Es ist so, wie es ab und zu in deutschen Krimis à la "Tatort" dargestellt wird: Laut, dreckig, sehr viel halbseidenes Klientel, viele Asis und wenige, sehr wenige wirklich anständige Menschen, die versuchen, in der ganzen Scheiße nicht den Verstand zu verlieren und unter zu gehen.

Hätte ich doch, wie es meine Idee war, eine Web-Cam aufstellen dürfen, um das ganze Chaos entweder live ins Netz zu streamen oder nach Feierabend die "Highlights" des alltäglichen Wahnsinns auf 30 Minuten komprimiert im Nachtprogramm von RTL2 oder ARTE zu senden. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sich das dortige tägliche Treiben anschaut, kann man es als Proleten-und-Asi-Tum in Vollendung oder als völlig überkandidelte abstrakte Kunstform betrachten, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Einschaltquoten ein Kracher gewesen wären. Wer F-Promis beim Fressen eines Ziegen-Anus zuschaut, der schaut auch Zuhältern und Suffis beim Kohle verzocken zu.

Leider wurden meine Pläne vom Chef mit dem Zusatz "Bist du eigentlich wahnsinnig??" abgeschmettert - also schreib ich einfach drüber. Ist ja auch schön.

Ich glaub, das wird eine kleine Serie, denn mir fallen spontan mindestens acht Dinge ein, die einen Text verdient haben und wenn ich die alle in diesem einen erzähle, dann kann ich das Ganze auch direkt drucken lassen und als Taschenbuch verkaufen.

Ich benenne die Serie nach meinem liebsten Zitat, das ich fast täglich auf der Arbeit hörte: "Wenn kommt, kommt!"

Das war der Standardspruch meiner afrikanischen Kunden, die ich mit der Zeit sehr lieb gewonnen habe. Größtenteils vollkommen entspannt und freundlich, bis auf eine oder zwei Ausnahmen tolle Menschen. "Wenn kommt, kommt!" wurde meist begleitet von "Wenn nicht kommt, keine Problem!" und einem breiten Grinsen und war auf die grad abgegebene Wette bezogen. "Wenn`s klappt super, wenn nicht: Drauf geschissen!"

Der Spruch hat sich mir dermaßen ins Hirn gebrannt, dass er mir sogar bis heute hin und wieder heraus rutscht. Besonders schön war es, als mich vor einigen Jahren mal jemand an der heimischen Bushaltestelle fragte, wann denn wohl der nächste der chronisch unpünktlichen Busse käme.

"Wenn kommt, kommt!" habe ich zen-gleich lächelnd und völlig ernst gemeint geantwortet. Es hat nie besser gepasst.

Einige Vietnamesen durfte ich auch zu meinen täglichen Kunden zählen, mit einem von ihnen verstand ich mich besonders gut, obwohl ich ihn nie verstand. Die Kommunikation verlief meist auf zeichensprachlicher Ebene, was echt gut funktionierte, ansonsten strahlte man sich nur gegenseitig an und nickte sich zu...eines Tages sprach er plötzlich mit mir.

"Mackack!"

Ich zuckte mit den Schultern und fragte lächelnd nach: "Häh??"

"Mackack!!" rief er und er strahlte dabei über alle vier Backen.

Mehrere weitere Versuche später nahm er sich einen Stift und schrieb "8€" auf einen Zettel. Schob ihn mir rüber, deutete auf seinen Wettschein. "Mackack!"

Ich trug die acht Taler als Wetteinsatz ein, er freute sich wie ein Schneekönig und ging mit hochgestrecktem Daumen und leuchtenden Augen seiner Wege. Das "Mackack!" "Mach acht!" bzw "Spiel mir den Schein bitte für acht Euro!" heißen sollte, habe ich erst Tage später verstanden, als er wieder vor mir stand und mir fröhlich "Mackfump!" entgegen krähte. "Fump" kannte ich schon, das ist "fünf"...auf ein Mal machte "Mackack" Sinn.

Nein, da muss nun keiner weinen, ich mache mich nicht über meine ehemaligen Kunden lustig, sowohl den "Mackack!"-Mann als auch die "Wenn kommt, kommt!"-Fraktion habe ich sehr gemocht. Das waren freundliche und immer gut gelaunte Menschen, mit denen ich jederzeit wieder gern Kundenkontakt haben wollen würde. Ab und an treffe ich noch mal einen von den Jungs auf der Straße und dann winkt man sich zu oder quatscht ein wenig, wenn die Zeit es her gibt.

Ich bin in dem Job ganz anderen Gestalten begegnet, mit denen ich nie wieder was zu tun haben will.

Von meinen "Kunden" hat vermutlich jeder Dritte sein Geld mit krummen Geschäften verdient, bei einigen vermutete oder erahnte ich es, andere gaben es ganz unverblümt zu. Zuhälterei, "Import/Export", Drogenhandel, dies das, alles war dabei...

Ein Typ ist mir in besonders schlechter Erinnerung geblieben, denn ich hatte bis dahin noch nie und seitdem auch nie wieder jemanden "kennen gelernt", der so offensichtlich kein guter Mensch ist.

Das wahrhaftige Arschloch war maximal Mitte 20, eine menschgewordene Wand, Oberarme wie meine Oberschenkel, das ganze tätowiert mit dem üblichen Tribal-Scheiß, dicke Goldkette, dicke Rolex, dicker SUV, vermutlich ziemlich kleiner Schwanz. Immer von einer Entourage von noch Aufgepumpteren begleitet, schmiss er mit seinen Scheinen nur so herum und machte auf Oberboss. Wenn die Kohle mal aus war, weil all seine Wetten in die Hose gegangen waren, enterte er seinen aufgemotzten Benz und raste mit quietschenden Reifen davon. Wenn er zurück kam, hatte er wieder die Taschen voller großer Scheine und erzählte seinen gröhlenden rasierten Gorillas dann, wie er "seinen Mädels" die Kohle abgeknöpft hatte. Dann kam er bald zu mir an den Tresen und sagte einsilbig seine Wetten an. "400 Euro nächstes Tor Kasimpasa. Alter, beeil dich, sonst...!!". Das ein PC durch Androhung von was weiß ich auch nicht schneller funktioniert, war bei ihm wohl nicht angekommen. Ich habe versucht, ihm das zu erklären. Als Antwort bekam ich irgendwas mit "ficken".

Ich habe den Typen gehasst. Ich habe eine große Klappe, aber bei dem Kerl hab ich den Mund gehalten. Der war gefährlich, das war offensichtlich.

Als sich die Chance bot, habe ich ihm an seine Kack-Karre gepisst, die wie immer im Halteverbot direkt vorm Laden stand. Schön an die Fahrertür. Die Rache des kleinen Mannes.

Es hat mich sehr gefreut, ihn dann Minuten später lässig an eben diese Tür gelehnt stehen zu sehen. Ein unglaubliches Arschloch...

Irgendwann bekam er Hausverbot. Hatte da keinen Bock drauf, verlies den Laden nicht...und wurde dann von den herbeigerufenen Cops eingesackt. Soweit ich weiß wird er dank Vorstrafen für einige Jahre nicht mehr in irgendwelchen Sportwettenbüros auftauchen können, denn er sitzt jetzt. Zelle und so. Ich find das verdammt gut!

...

...

Soviel dazu. Ab jetzt eventuell öfter was aus dem Wettbüro. Wöchentlich oder so. Je nachdem, wie das hier ankommt.

Ich bin gespannt!

Sonntag, 9. Februar 2014

Schwiegersohn wider Willen

Gestern Nachmittag war ich zum Einkaufen in Steilshoop.

Steilshoop, das dürfte zumindest den Hamburgern bekannt sein, ist tendenziell mal eher so etwas wie ein "Problembezirk", manche sagen auch "Ghetto" dazu. Schön Plattenbau an Plattenbau, grau in grau, schlechtes "Grafitti" an den Wänden.

Überdurchschnittlich oft höre ich hier auf der Straße, wie Menschen ankündigen, dass sie schwören, die Mutter ihres Gegenübers beglücken zu wollen oder ähnliches und die Texte von angeblichen "Musikern" wie "Bushido" oder dem krassen "Fler" kennen hier vermutlich 75 Prozent der Jugendlichen von vorne bis hinten auswendig.

Bis Steilshoop muss ich nur zwei Stationen mit einer meiner beiden Haus-Buslinien, die sich beide nicht mal ansatzweise an den Fahrplan halten, fahren, weswegen das pünktliche Erreichen von einem der Busse in etwa so ein Glücksspiel ist wie Pferdewetten oder das dienstägliche Bingo im Altenheim am Schwalbenplatz.

Oft fahre ich nicht Richtung "Steilo", aber wenn denn mal ein Großeinkauf anliegt, dann bietet es sich an, weil es dort an einer Straßenkreuzung alle drei großen Discounter auf einer Ecke gibt und ich mir so eine Menge Lauferei erspare.

Gestern, etwa 14.30 Uhr, Einkauf beendet, ich schleppe meinen schweren Rucksack ächzend über den Supermarkt-Parkplatz.

Mir entgegen kommt ein junges, südländisch aussehendes Mädchen, 16, 17, irgendwas um den Dreh. An der Kasse war sie mir schon aufgefallen, da sie sich über irgendetwas ausschüttete vor lachen und ihr Lachen dermaßen ansteckend war, dass ich meines kaum noch unterdrücken konnte.

Sie zerrt einen Einkaufswagen des Discounters hinter sich her, bei dem die "Wegfahrsperre" eingerastet ist, da der Einkaufswagen bis zum Familien-Van außerhalb des Parkplatzes mitgenommen wurde. Da macht es dann "klack" und eins der Vorderräder des Einkaufswagens wird blockiert, sodass er kaum noch manövrierbar ist.

Sie zieht und zerrt aus Leibeskräften, sie müht sich richtig ab, kommt aber kaum voran.

Doch Hilfe naht.

Ein Typ Anfang 20, klamottentechnisch eher so BWL-Student im dritten Semester mit rose-farbenenem Hemd, welches er in die Hose gesteckt hat und edel aussehenden Leder-Slippern, also in Steilshoop ein eher ungewohnter Anblick, greift beherzt zu, fasst mit an, zusammen ziehen sie den störrischen Karren zum Abgabepunkt, sie bedankt sich strahlend, er lächelt sie an und tätschelt ihr zum Abschied die Schulter.

Auftritt des Vaters (breit gebaut mit obligatorischem Oberlippenbart, eine imposante Erscheinung):

Recht laut Türkisches (vermute ich) brüllend, stürmt er auf die beiden zu, baut sich zwei Meter vor dem BWLer auf, fuchtelt wild mit den Händen und ruft laut

"Du MEINE Tochter angefasst! Jetzt du musst heiraten!!"

Dem armen Studi fällt alles aus dem Gesicht, ich habe noch nie jemanden gesehen, dem so dermaßen der Stift geht. Und ich stehe halb fassungslos, halb belustigt (Schadenfreude ist die schönste Freude...) daneben und gucke vermutlich ziemlich doof aus der Wäsche.

Der Studententyp schnappt nach Luft und stammelt irgendwas von "...doch nur helfen..." und "...gar nicht angefasst...", während der Vater ihn weiterhin mit herunter gezogenen Augenbrauen beängstigend anstarrt.

"Du sie angefasst, ich gesehen! Willst du sagen, das gut?? Das keine gut!!" ruft er.

Schweigen, ohrenbetäubend, ein paar Sekunden lang.

Dann bricht der Vater in schallendes Gelächter aus. Wendet sich seiner Tochter zu, die ungläubig den Kopf schüttelt. "Gut, was?" Geht dann zum immer noch schockiert dreinschauenden Einkaufswagenschiebehelfer, grinst ihn breit an und klopft ihm auf die Schulter.

"Sie sind ein guter Typ! Bleiben Sie so! Vielen Dank, dass Sie meiner Tochter geholfen haben! Einen schönen Tag noch!"

Unter den irritierten Blicken vieler Zuschauer steigt er dann in seinen Wagen und fährt davon. Seine immer noch perplexe Tochter sitzt auf dem Beifahrersitz und guckt peinlich berührt. Und der Studententyp hat sich noch keinen Zentimeter bewegt, er hat vermutlich den Schock seines Lebens.

Dann fängt einer an zu lachen. Dann noch ein anderer Beobachter. Dann ich. Schließlich auch das "Opfer".

Als ich ihn auf dem Weg zur Bushaltestelle überhole, zuckt er trotzdem zusammen. Zuhause gab es wahrscheinlich erstmal zur Beruhigung einen Kurzen.

Oder zwei.

Donnerstag, 6. Februar 2014

Vorne rechts: Von der Unannehmlichkeit, Beifahrer zu sein

Eine Bundesstraße irgendwo im spätabendlichen Schleswig-Holstein.

Im Wagen ist es grausig kalt, die Frontscheibe ist beschlagen und teilweise von innen eingefroren, man sieht so gut wie nichts. Sowas kenne ich vom ersten Auto meines besten Schulfreundes, einem klapprigen Fiat Panda Baujahr 1983, der auf Asphalt-Trennscheiben durch das dörfliche Niedersachsen rollte, den man notfalls öffnen konnte, indem man an der richtigen Stelle mit ein wenig Nachdruck gegen die Fahrertür schlug und dessen Wert wir zum Ende seines langen Kleinstwagenlebens hin verdoppelten, indem wir mittig in der Rück"bank" Platz für eine Zapfmaschine samt handelsüblichem 5-Liter-Fässchen schufen, was zu einigen (außer für den alk-losen Fahrer) denkwürdigen Wochenden-Fahrten in die 70 Kilometer entfernte Großraum-Disse führte. Die Karre war im Winter ständig von innen eingefroren, das war Standard.

In dem fast noch aktuellen Mittelklasse-Sport-Coupè, in welchem ich gerade sitze, hatte ich das nun so nicht erwartet und bin einigermaßen überrascht.

Die Fahrerin erzählt fröhlich und freimütig und ohne um den heißen Brei herum zu quatschen, wie mit Ach und Krach die dritte praktische Fahrprüfung bestanden wurde. Es hatte wohl eher mit dem Mitleid des Prüfers als mit fahrerischem Können zu tun, womöglich handelte der aber auch aus reinem Selbstschutz.

"...auf jeden Fall hat er gesagt, eigentlich sei ich durchgefallen. Aber irgendwann müsste es ja auch mal gut sein und außerdem hatte er schon viele an dem Tag durchfallen lassen, also hab ich meinen Führerschein trotzdem bekommen. Ein netter Typ, echt!

...

Eigentlich kann ich nämlich echt nicht gut Auto fahren. Aber man kann ja auch nicht alles können!" kommt es lachend und selbstbewusst vom Fahrersitz und zeitgleich macht der Wagen einen Schlenker Richtung Baumgrenze zur Rechten, was mit einem überraschten "Huch!!" kommentiert wird. Mehr, als zustimmend und betroffen zu nicken, kriege ich leider grad nicht hin.

Ich bin zu konzentriert darauf, mich irgendwo klammheimlich fest zu krallen und den Körper anzuspannen, vor dem geistigen Auge läuft dort eh seit Fahrtbeginn ein kunterbunter Zeichentrickfilm ab. Meist fahren darin Zeichentrickautos gegen Zeichentrickbäume oder durchbrechen Zeichentrickschranken, um dann von Zeichentrickschnellzügen auf die Hörner genommen zu werden. Immer, wenn das passiert, ploppen über der Szenerie Geräuschblasen auf und in denen steht sowas wie "BAAAMMMMMM!!" oder "RUUUUMMMMMMSS!!" oder "KADOOOOOOOOONK!!"

Richtig, ich bin ein furchtbarer, ein ganz ganz furchtbarer Beifahrer.

Ich bremse energisch mit, ich rufe mit einem Anflug von Panik in der Stimme "Da kommt einer, da KOMMT einer!!!", wenn ich in gefährlich anmutender Entfernung ein heran nahendes Fahrzeug sehe - auf der Hinfahrt, als es noch hell war, tat ich das auch, weil das heran nahende Fahrzeug ein recht großer und schneller SUV war und er war viel zu nah, um vor ihm noch einzubiegen - erhört wurde ich auf dem Fahrersitz aber leider nicht. Ich war sehr glücklich, dass der große schnelle SUV gute Bremsen und das Gefährt, in dem ich unterwegs war, eine recht respektable Beschleunigung aufzuweisen hatte. Ein paar graue Haare sind wahrscheinlich trotzdem wieder dazu gekommen...

Aber warum bin ich ein so bescheidener Beifahrer?

Genau weiß ich das gar nicht. Früher war das nie so. In Kufi`s Fiat habe ich mich nie irgendwo festgeklammert und Blut und Wasser geschwitzt, wenn er die Möhre mit Höchstgeschwindigkeit von 125 km/h über die waldgesäumten kurvigen Straßen meiner emsländischen Heimat prügelte und wenn ich so zurück denke, dann gab es auf solchen Fahrten eigentlich alle paar Kilometer Grund zu panischem Geschrei. Aber das war damals wohl grad ausverkauft.

Oder anders: Eine Mischung aus Testosteron-Überschuss und jugendlichem Leichtsinn, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Übermut und ebenso viel "Scheißegal!"-Einstellung.

Insgesamt war ich als Fahrer bisher "nur" in drei Unfälle verwickelt, von denen "nur" einer - einer zu viel - auf meine Kappe geht. Im Nachhinein wundert mich das ein wenig, bin ich doch damals mit 18, 19, 20 selbst gefahren wie ein Henker - ich bin absolut nicht stolz drauf.

Ich gehe aber davon aus, dass der Tag, an dem ich zum "Schisser auf dem Beifahrersitz" wurde, der 15.12.2001 war.

Auf dem Beifahrersitz eines Smart ging es von Bonn die A1 hoch nach Hamburg und fast am Ziel, kurz hinter der Abfahrt "Tötensen" (die heißt wirklich so und dort um die Ecke lebt (immer noch?) Dieter Bohlen), gab es Blitzeis. Leider hatten wir aber das Radio nicht an, also hatten wir keine Vorwarnungen über den Äther gehört.

Ich weiß noch, dass wir auf der Überholspur grad an einer Kolonne von LKWs vorbei zogen und laut Tacho etwa bei 120 waren. Dann habe ich mich in den Fußraum gebückt, weil mein Schuh offen war. Abgefahren, an was für einen Unsinn man sich nach so langer Zeit noch erinnert. Als ich nach ein paar Sekunden wieder nach vorne aus dem Fenster schaute, schlingerte die Autobahn von rechts nach links und wieder zurück. Zuerst minimal, dann immer schneller. Ich habe gar nicht kapiert, was das heißt und war ziemlich verwundert.

Vom Fahrer, einem sehr guten Freund, kam die knappe Ansage: "Festhalten. Das knallt gleich!"

Dann ging es links in die Mittelleitplanke und danach machten wir auf der Überholspur drei oder vier recht langsame Pirouetten. Ich habe keine Ahnung, wieso wir nicht über die linke auf die rechte Spur, also zwischen oder direkt vor einen der LKW`s geschliddert sind, ich weiß aber, das wir uns auf Höhe des Fahrerhauses eines blauen LKW drehten und ich erinnere mich, dass der Fahrer zu uns herunter schaute und ich zu ihm hoch und die Blicke trafen sich immer dann, wenn der Smart sich wieder in Fahrtrichtung gedreht hatte. Der LKW-Fahrer schüttelte sehr bestimmt mit dem Kopf und der Blick sagte in etwas aus: "Bleibt bloß auf Eurer Spur, wenn Ihr mir vor die Karre rutscht, dann seid ihr Matsch und dann werd ich echt mächtig sauer!"

Wir haben die Spur nicht verlassen, stattdessen ging es noch zwei weitere Male in die Mittelplanke, ob es am Können des Typen neben mir lag oder einfach Glück oder Zufall war, weiß ich bis heute nicht.

Zum Stehen kamen wir quer zur Fahrtrichtung, auf der Überholspur einer vielbefahrenen Autobahn jetzt auch eher ungünstig, daran habe ich in dem Moment aber überhaupt keinen Gedanken verschwendet. Es wurde kurz gecheckt, ob der jeweils andere ok ist, dann war der nächste Gedanke, dass wir die Trümmerteile einsammeln müssten. So ein Smart besteht ja quasi nur aus der Fahrerkabine und ganz viel Plastik drum herum (zumindest war das damals so, heute wird das evtl ein bisschen anders sein), das ganze Plastik, Kotflügel, Frontschürze und so weiter, lag wild verstreut auf der A1 herum.

Ich bin mir absolut nicht sicher, ob wir zuerst den Krempel eingesammelt haben, schliddernderweise, man hätte auf der Autobahn Schlittschuh laufen können und darüber habe ich mich in dem Moment totlachen müssen oder ob wir - und ich hoffe, so war es - zuerst den Wagen auf den Standstreifen geschafft haben. Der fuhr nämlich noch! Und das nichtmal schlecht! Bis zu dem Tag hatte ich immer über Smarts gelästert, zu klein, zu hässlich etc...seit dem Unfall habe ich einen Heidenrespekt vor den Dingern!

Mit fast allen Trümmerteilen im Inneren wurde es zwar etwas unbequem, aber wir haben es bis zur nächsten Abfahrt geschafft (natürlich auf dem Standstreifen und nicht mehr mit dreistelliger Geschwindigkeit, eher so im Schritttempo). Dort haben wir auf einem Parkplatz gehalten und die Polizei alarmiert. Die wunderte sich dann weniger darüber, dass wir keinerlei Kratzer abbekommen hatten, sondern machte lieber zotige Anspielungen über die gemeinsame Wohnadresse, da ich zu der Zeit noch keine eigene Wohnung gefunden hatte und beim Kumpel auf der Couch wohnte. Die blöden Sprüche würde ich mir heutzutage auch in der Situation sicher nicht mehr gefallen lassen, aber damals...mein Gott, Dorfbullen halt. Da kann man eh nicht viel erwarten.

Zuhause angekommen nach einer Odysee im Abschleppwagen, haben wir uns ein Bier aufgemacht und auf unseren gemeinsamen "zweiten Geburtstag" angestoßen, denn die Aktion hätte auch ganz ganz anders ausgehen können. Am Abend des 15.12. gönne ich mir bis heute etwas besonderes und das wird auch so bleiben.

Die weichen Kniee und all das kamen bei mir erst viel später. Als ich das erste Mal viele Wochen später wieder auf einen Beifahrersitz steigen musste, es war ein Taxi heim vom Kiez und der Fahrer akzeptierte nur mich als Nebenmann, da der Rest der Truppe ihm zu betrunken war. Es hat Überwindung gekostet, mich auf den Beifahrersitz zu setzen und die zwanzig Minuten von der Reeperbahn heim nach Barmbek-Nord waren nicht wirklich angenehm. Festhalten, Mitbremsen, Schwitzen...auf ein Mal alles da.

Seitdem vermeide ich das. Wenn ich eine Mitfahrgelegenheit nutze, dann bin ich möglichst früher als alle anderen am Treffpunkt, damit ich meinen liebsten Platz hinter dem Fahrer ergattere - also das genaue Gegenteil vom Beifahrersitz...aber das fällt mir jetzt grad erst auf und mag Zufall sein.

Am Wochenende sitze ich wohl wieder neben oben angesprochener Fahrerin auf oben angesprochenem Beifahrersitz. Das Wetter wird besser sein, keine vereisten Scheiben mehr. Sehr gut! Das macht ein wenig Hoffnung.

Vielleicht trink ich am Abend vorher einfach ein Bier zuviel, dann schlaf ich innerhalb von Minuten im Auto ein.

Das ist zwar unhöflich, insgesamt aber gar keine schlechte Idee...