Mittwoch, 30. Juli 2014

Diggie und die Schanze

Ich sitze auf einer Treppe im Schanzenviertel, neben mir in der Ecke liegt noch der von anderen zurückgelassene Unrat des vergangenen Tages. Eine leere Zigarettenschachtel, eine zerdrückte Coladose und eine Verpackung des Döner-Dealers um die Ecke, aus der eine Taube sich ihr Abendessen heraus pickt, als ich an komme.

Den darauffolgenden "Wer zuerst weg guckt, hat verloren!"-Wettstreit gegen sie gewinne ich spielend, denn in sowas bin ich gut. Also setze ich mich und sie pickt in stiller Koexistenz in meinem Rücken weiter.

Ich trinke ein Bier vom Kiosk nebenan, beobachte mal mehr und mal weniger interessiert und belustigt die, die an mir vorbei laufen und plane mit der besten Hamburg-Freundin kommende Unternehmungen.

Per WhatsApp, da sie krank zuhause im Bett liegt.

Es ist ein prima Abend.

Zumindest für mich, für sie wohl weniger.

Rechts neben mir lässt sich ein Schatten auf der Treppe nieder, die Taube flüchtet und drei Sekunden später reckt sich eine Hand samt Astra-Knolle zwischen mein Gesicht und das Display meines Handys.

"Prost Diggie!"

"Diggie"...

An sich mag ich den hamburger Schnack ja, meistens zumindest, aber "Diggie" geht absolut gar nicht.

Vor allem nicht von jemandem, den ich nicht ansatzweise kenne. Den ich bis dato nichtmal zu Gesicht bekommen, sondern nur als Schatten im Augenwinkel und als Hand mit Bierflasche vor meinem Gesicht wahrgenommen habe.

Blöderweise hängen meine Kopfhörer um meinen Hals, da ich nicht multitasking-fähig bin und ergo nicht gleichzeitig Musik hören und der rein platonischen besseren hamburger Hälfte sinnvolle Dinge schreiben kann, ich kann also nicht so tun, als hätte ich ihn nicht gehört.

Fuck, Anfängerfehler! Hätte ich doch die Kopfhörer trotzdem aufgesetzt, ob da wirklich Musik läuft, merkt ja eh niemand. Man kann ja immer so tun als ob.

Einen Moment lang starre ich die Hand mit der Bierflasche an, aber sie verschwindet leider nicht von selbst, obwohl ich mich sehr darauf konzentriere, sie verschwinden zu lassen.

Nach einem tiefen innerlichen Seufzer schaue ich nach rechts und da sitzt einer mit gegeltem Haar und Grinsefresse, der mich erwartungsvoll anschaut.

Offenbar sucht er einen neuen Freund.

Der will ich nicht sein.

Aber da ich gut erzogen wurde und manchmal ein bisschen zu wenig oder einfach gar nicht nach- oder mitdenke, stoße ich mit ihm an und lasse mich auf Small Talk ein.

Mein zweiter kapitaler Fehler innerhalb kürzester Zeit.

"Was machste denn hier, Diggie?"

"Es ist Wochenende, es ist warm, was soll ich groß machen? Trinke n Bier, guck mir die Leute an, komm bisschen runter. Und du so?"

Der dritte verheerende Fehler in Folge. Keine Fragen fragen, verdammt!!

Mein Verhalten erinnert mich spontan an das der brasilianischen Abwehrkette im Halbfinale. Vollkommen kopflos laufe ich ins Verderben.

Meine Antwort hätte natürlich anders lauten müssen. Irgendwas, das ihn vertreibt oder zumindest abschreckt.

"Ach, ich häng hier auf der kühlen Steinstufe ab, das ist total angenehm. Weisste, meine Drecks-Hämorrhoiden sind mal wieder so entzündet, Alter. Eitern wie bescheuert, echt! Und das brennt, ernsthaft, willste nicht haben! Aber eyh, wo wir doch jetzt Kumpels sind, vielleicht hilfst du mir beim Wechseln der Wundpflaster? Is schwer allein, ich seh da ja nix. Dunkle Seite des Mondes und so, haha. Verstehste?"

Das wäre eine gute Antwort gewesen. Nach dem zweiten Satz hätte ich meine Treppe wieder für mich und meine Ruhe zurück gehabt.

Und was antworte ich?

"Und du so?"

Kurz überlege ich noch, mir spontan selbst meine Bierflasche über den Schädel zu ziehen, aber es ist zu spät.

"Diggie, ich such Weiber! Aber nur geile! Mein Kumpel hat mich angerufen, sagte, er hat zwei Torten am Start, ich direkt rein ins Taxi und hergefahren, vom Kiez, Diggie, vom Kiez! Und dann? Sehen die Weiber aus wie Typen. Null Titten Diggie! Null!! Was soll das? Will der mich verarschen?? Ernsthaft Diggie, Tussen müssen Titten haben! Ernsthaft!"

Peng.

Meine rechte Gehirnhälfte ist direkt komplett betäubt, die linke schreit panisch nach mehr Bier, um das, was da garantiert noch nachkommen wird, ansatzweise anständig zu überstehen.

Eigentlich sollte ich meinen Rucksack nehmen und kommentarlos gehen, aber das ist hier irgendwie wie bei einem Unfall auf der Autobahn, da gucken auch immer alle und fühlen sich dabei und vor allem danach schlecht.

Man könnte es auch als eine Form der Selbstkasteiung betrachten, nur ohne Büßergürtel und blutige Striemen auf dem Rücken.

Dafür halt blutige Striemen in den Ohren und im Hirn...

Ich öffne ein neues Bier und höre mir an, was er so zu sagen hat.

Er wohnt direkt an der Reeperbahn, direkt mitten drin, da wo was geht, da wo man was starten kann, "wennde in Hamburg geil wohnen willst, geht das nur direkt in Pauli, Diggie!", er zwinkert mir verschwörerisch zu. "Is mal so ne Info für dich Diggie, is schwer als Neuling in Hamburg, Großstadt und so, klar, aber wenn was geht, dann aufm Kiez Diggie!"

Ich sage nichts, ich nicke nur und trinke.

Er schmeißt mir Quadratmeterzahlen und Mietpreise um die Ohren, bei denen mir schwindelig wird.

"Unter 100 Quadrat zieh ich gar nicht erst ein, Diggie, was soll das denn? Kann ich auch gleich auf der Strasse leben wie so'n Asi. Wir wohnen jetzt auf 140 zu zweit. 2200 warm, kannste nix sagen!"

Womit er vermutlich sogar Recht hat. 140 qm in der Lage für 2200€ dürften ein Schnäppchen sein. Wahrscheinlich ist sein Scheißhaus größer als mein Schlafzimmer. Und mit goldenen Fliesen gekachelt. Und während er auf dem Thron sitzt, fächelt ihm ein Haussklave mit einem Palmwedel Luft zu...

Ich nicke. Und trinke.

"Wo wohnst du denn?" will er wissen.

"Barmbek-Nord."

"Ok, Barmbek. Da soll es ja grad ziemlich bergauf gehen!"

Er klingt tatsächlich interessiert.

"Ja, das Viertel verändert sich. Da wird neu gebaut, vor allem aber saniert. Wie bekloppt. Altes raus, Neues rein, nur halt für die dreifache Miete dann. Das es bergauf geht, würd ich nicht sagen. Alteingesessene können sich ihre Wohnungen, in denen sie teilweise seit Jahrzehnten gelebt haben, nicht mehr leisten und müssen wegziehen. Irgendwo an den Stadtrand. Alte Menschen werden aus ihrem Lebenszentrum gedrängt. Mit "bergauf gehen" hat das in meinen Augen wenig zu tun. Im Gegenteil, ich find's ziemlich ätzend. Ich hab's nicht so mit Gentrifikation."

Das erzähle ich aber definitiv dem Falschen.

Er schaut mich an, als hätte ich mich grad als Marsianer geoutet und mir wären Tentakel aus den Nasenlöchern gewachsen.

"Ist doch geil!" sagt er. "Haben die halt Pech, wenn sie keine Kohle haben. Und wer will schon uralte Nachbarn? Ist doch scheißegal, wenn die weg sind, zieht da vielleicht ne geile Alte ein und lässt dich ran!"

Er freut sich diebisch über sein Wortspiel. Alte Nachbarin raus, geile Alte rein, haha, ein Knaller, ich kann kaum noch an mich halten...

Er grinst mich voller Erwartung an.

Ich soll jetzt applaudieren und ihm eine hohe Fünf anbieten, mindestens aber lachen. Und das lauthals. Bis zur Atemnot.

Ich sage nichts, sondern starre ihn wortlos an und exe mein Bier.

Er wirkt kurz verunsichert, fängt sich aber schnell. "Diggie, wenn Barmbek mal irgendwann cool ist, fahr ich vielleicht auch mal hin!"

Ich schaue, er überlegt, was nun zu tun ist. Ich höre die kleinen Rädchen in seinem Kopf förmlich rattern.

"Willste noch ein Bier Diggie? Ich hol was."

Bestechung, natürlich, die einfachste aller Lösungen.

"Ja, für mich ein Getränk mit irgendwas, das mein Hirn abschaltet und für dich bitte eins mit Arsen!" denke ich.

"Neeh danke, lass mal. Alles gut!" sage ich und habe trotzdem wenig später ein offenes Astra vor mir stehen.

"Kiez Diggie, da geht immer was", er labert einfach ohne Punkt und Komma weiter, als wäre er nie weg gewesen, "aufm Berg, am Albers-Platz, geilste Orte der Stadt!"

Jetzt verspüre ich kurz fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Wenn der Hamburger Berg und der Hans-Albers-Platz die für ihn besten Orte dieser Stadt sind, dann läuft bei ihm irgendwas ganz gehörig falsch. Aber das war ja bereits vorher klar.

Kurz überlege ich, ihn zu fragen, ob er den Park Fiction oder das Gelände auf der anderen Seite des alten Elbtunnels mit der grandiosen Aussicht auf die Landungsbrücken kennt...aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder.

So einer kennt solche Orte nicht. Er wüsste sie nicht zu würdigen. Und er hat sie auch gar nicht verdient.

Ich nippe am von ihm ausgegebenen Bier. Es schmeckt seltsam. Irgendwie eklig. Ob das am Käufer liegt?

Der legt wieder los.

"Diggie, aufm Berg findest du die derbsten Schlampen! Echt, derbe geil! Einen Longdrink und ich nehm die mit nach Hause, die Schlampen. Deswegen wohn ich ja da direkt da an der Reeperbahn!"

Natürlich, warum auch sonst. Ich nicke und trinke. Nein, das Bier schmeckt nicht. Aber es macht vieles ein bisschen egaler und das ist grad recht hilfreich.

Zwei Mädels laufen vorbei, er ruft "Hallo ihr!", packt mich unverhofft an der Schulter und zerrt mich zu sich heran. "Entschuldigung, wir sind nicht von hier, wo kann man denn hier gut feiern gehen?"

Ich fasse es nicht. Der Mistkerl macht einen auf Barney Stinson aus meiner Lieblingsserie und kopiert einen seiner Abschlepp-Moves. Allmählich reicht es mir.

"Oh, hmmm," die Blondine im Minirock überlegt. "Da gibt es echt viel hier in der Gegend" sagt sie, "Die Schanze ist voll angesagt, ich geh hier schon seit zwei Jahren hin! Ihr findet bestimmt was!"

"Seit zwei Jahren schon? Wow, Glückwunsch! Und was genau mit Medien machst du? Lass mich raten: Mode-Blog??"

Fast hätte ich es laut ausgesprochen und nicht nur gedacht.

"Ok und wohin geht ihr?" fragt er die beiden und lächelt.

Ein kaltes Lächeln.

So wie die Schlange das Kaninchen anlächelt, bevor sie zubeißt.

Das Püppchen kichert angetan, deutet dann aber wohl meine abwehrende Gestik in seinem Rücken richtig und antwortet irgendetwas Belangloses.

Dann dreht sie sich um und geht.

Ich grinse.

Er flucht.

"Diggie, in der Schanze gibt's echt nur prüde hässliche Weiber! Hätte ich die auf dem Berg getroffen, dann würd ich sie in einer halben Stunde in meiner Bude knallen. Schwöre ich! Mehr kann die eh nicht außer sich knallen lassen!"

Ich schaue ins Leere. Ich habe keine Lust mehr. Er ekelt mich an. Ich lege mir im Kopf ein paar Schimpfworte zurecht, die ich ihm gleich nacheinander vor den Schädel ballern will.

Dazu kommt es nicht mehr.

"Gregor, Diggie!!" Einer der grad vorbei lief, dreht sich um und schaut. Sie fallen sich in die Arme und ich spüre so etwas wie Erleichterung.

Wenn ich da jetzt nicht dazwischen funke, dann bin ich ihn endlich los, diesen ekelhaften Typen.

Sie reden. "Komm doch mit Diggie!" - "Kann nicht Diggie, in paar Stunden geht mein Flieger!" - "Flieger Diggie?" - "Ja Diggie, ich flieg nach Kapstadt Diggie!" - "Was geht ab Diggie, Kapstadt, warum das denn Diggie?" - "Ist cool da Diggie! Coole Leute! Coole Stadt! Ich hab echt wenig Zeit. Hab grad fertig gepackt und will mit meiner Mitbewohnerin gleich noch auf einen Cocktail los Diggie. Kommt doch mit, du und dein Kumpel!"

Ich lehne dankend ab. Gern hätte ich Gregor irgendwas wie "Schaff mir den Typen bloß vom Hals!!" zugerufen...der mir zugelaufene Proll-Psychopath ist aber bereits aufgesprungen und Feuer und Flamme für die Cocktail-Sache.

"Diggie, du hast ne Mitbewohnerin?? Ist die geil??"

Als Gregor zögernd bejaht, bin ich vergessen.

Endlich.

Mein notgeiler Sitznachbar packt Gregor an der Schulter und macht Meter. Gregor schaut mich über die Schulter nochmal mit einem verwirrt-entschuldigenden Blick an und ein bisschen tut er mir leid, weil er das neureiche und vor lauter Potenz strotzende Testosteronbündel nun an der Backe hat.

Vor allem aber bemitleide ich seine Mitbewohnerin, die noch nicht ahnt, was da auf sie zu kommt.

Ich lehne mich entspannt auf meiner Stufe zurück, blinzele ins Licht der nächststehenden Straßenlaterne und nippe am ausgegebenen Bier, das auf ein Mal gar nicht mehr so übel schmeckt.

Es kann von hier an nur wieder aufwärts gehen in dieser Nacht.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Von Lucia und Paula und Tim und dem Namenlosen

Montag Nacht kurz vor 0 Uhr in der U-Bahn:

"Lucia, wann sind wir denn da?"

"Vier Stationen noch bis Barmbek und da steigen wir um in die S1 und dann eine Station später steigen wir aus und da holt uns Marvin dann ab."

"Cool, ich freu mich total. Ist echt super, das Marvins Kumpel eine Party schmeißt. Die Wohnung seiner Eltern soll total toll sein!"

"Ja, ich freu mich auch, die haben einen Pool und auch einen Kamin!"

"Echt? Wow, das ist geil!"

"Ja, ich mag Kamine auch, meine Großeltern haben einen und den machen sie an Weihnachten immer an, voll gemütlich!"

"Ooooooooooh!!! Tooooooooll!!"

"Ja, aber ich glaube, das wir heute eher den Pool nutzen als den Kamin. Der ist ja drinnen, da wird es nicht zu kalt nachts!"

"Heute Nacht wird es eh nicht kalt, es sind doch jetzt noch so 25 Grad!"

"Ich springe bestimmt in den Pool, ich hab mir sogar letzte Woche extra einen neuen Bikini gekauft, den zieh ich heut zum ersten Mal an! Premiereeeee!!" Lucia strahlt übers ganze Gesicht.

"Oooooooooooooooh, tooooooooooll!!!"

Die Jungs schauen sich beim Gedanken an Lucia in ihrem neuen Bikini aufgeregt an.

Sechzehn Sekunden Schweigen.

"Lucia, dein Oberteil ist echt hübsch! Steht dir!"

"Oh, cool, danke Tim, das habe ich letzte Woche bei H&M gekauft. Mit dem Bikini zusammen."

"Oh, dann bin ich auf den erst richtig gespannt!"

Lucia lacht. Tim grinst schief. Der namenlose Cap-Träger schaut genervt.

Dann:

"Paula, Marvin schreibt grad über Whatsapp, daß er uns nicht abholen kann, ruf den mal an!"

Paula ruft Marvin an.

"Hey Marvin, hier ist Paula, warum holst du uns nicht ab? Das hatten wir doch so abgemacht? Wir wissen doch gar nicht, wo wir hin müssen!"

Pause.

"Ach so, du bist schon betrunken...wir sind aber auch ziemlich spät dran. Ja dann ist ok, wir finden das dann schon irgendwie."

"Was?"

"HAHA, echt jetzt??"

"Ja ok, neeh, dann mach mal! Chrissie macht nicht mit jedem rum, die Chance musst du nutzen!"

"Ja, danke, dir auch! Bis nachher!"

"Was los Paula?" fragt Tim.

"Marvin kann uns nicht abholen, der macht gleich mit Chrissie rum sagt er!"

"Alter, der hat aber auch immer Glück! Scheiße, Chrissie wollte ich heut klar machen. Ich hab euch gesagt, daß wir früher fahren müssen!" sagt der Junge mit dem Cap und schaut noch genervter.

"Kannste doch trotzdem noch." sagt Paula. "Das wird ja ne lange Nacht. Und sonst suchste dir ne andere."

Dabei grinst sie ihn eindeutig zweideutig an.

Merkt er aber nicht.

"Stimmt, mach ich dann halt später" antwortet er und jetzt schaut sie auch genervt aus ihrem figurbetonten Träger-Top.

"Kann eigentlich einer von euch Tüten drehen?" fragt der Namenlose mit der Cap nach einer kurzen Pause.

"Das macht Marvin, wenn der grad nicht wieder irgendwo mit irgendeiner rum macht, der kann das!"

"Super, ich hab extra nochmal was eingekauft gestern, das war nicht leicht, aber ich kenn da ja Leute."

"Die sind älter, oder?" fragt Lucia.

"Ja, klar! Aber ich kenn die schon länger, die verkaufen keinen Scheiß, das glaub mal." antwortet der Namenlose.

"Oh Mann das ist so cool! Was hast du gekauft?" In Lucias Stimme schwingt eine gewisse Bewunderung mit.

Während Lucia den mit dem Cap anhimmelt, schießt Paula vernichtende Blicke in ihre Richtung, die selbst mir im Abteil gegenüber unangenehm sind.

"Nichts Dolles hab ich gekauft, Weed halt und ne kleine Platte, das reicht schon. Aber ihr müsst was dazu bezahlen!"

Zustimmendes Nicken.

Paulas Handy piept.

"Super, Fenja schreibt grad, daß sie den Wodka für die Mischen hat! Find ich voll gut!"

"Perfekt! Weil ohne betrunken sein kann ich nicht kiffen!" sagt Tim. "Dann muss ich immer so derbe husten und der Scheiß wirkt nicht. Geht nur, wenn ich dicht bin."

"Du bist ja auch ne Pussy!" antwortet der Namenlose.

Alle lachen.

Ich nicht.

Denn die, die da grad die derbe Abschussparty mit integriertem Rumhuren planen, sind keine Woodstock nachhängenden abgeranzten Studenten-Hippies und auch keine fast fest im Leben stehenden Mittzwanziger im alle paar Wochen auflodernden Partyrausch.

Lucia, Paula, Tim und der Namenlose sind vielleicht fünfzehn. Und das ist noch optimistisch geschätzt.

Mir ist sowas ja im Prinzip komplett egal, von mir aus kann jeder mit seinem Leben anstellen, was er will, der mit der Zeit angestaute Druck muss schließlich auch irgendwie irgendwann wieder raus und man muss da seine Wege finden. Kenn ich ja selbst.

Sollen sie doch von mir aus rauchen wie ein Schlot, sich gepanschten Dreck in die Venen drücken, bis die irgendwann platzen, saufen bis zum Untergang oder wie bescheuert und ohne Verstand mit allem und jedem durch die Gegend vögeln...ist mir alles vollkommen egal. Jeder so wie er es für richtig hält.

Solang es mir nicht auf den Sack geht.

Hier ist es anders.

Sohnemann ist nur ein, zwei Jahre jünger als die, die sich da grad lautstark über Alkohol, Drogen und Rumgeficke unterhalten.

Und die Jungs und Mädels sehen nicht mal aus wie fast volljährig, die sie ja auch nicht sind, sie sehen exakt aus wie das, was sie sind: Kinder.

Ich bin relativ selten sprachlos, aber das ist jetzt einer dieser Momente.

Barmbek.

Endhaltestelle.

Lucia, Paula, Tim und der Namenlose steigen aus und wechseln auf den S1-Bahnsteig Richtung alkohol-und drogenbeseelter Abschussfeierei bei Marvins Kumpel irgendwo in der "Friede, Freude, Eierkuchen"-Nachbarschaft in Stadtparknähe wo nicht der Pöbel und die Ghetto-Kids leben, sondern tendenziell eher die "gehobenere Gesellschaft".

Ich höre sie noch diskutieren und lautstark reden, während ich auf dem Weg aus dem Bahnhof hinaus meine Kopfhörer aufsetze und dem Telefon die Musikauswahl überlasse.

Das letzte, das ich höre, bevor die Musik einsetzt, ist eine der Mädels, die eine andere mit schriller Stimme als "Nutte" beschimpft.

Eine Millisekunde lang bin ich versucht zu grinsen, dann brettern mir ein paar amtliche breakdowns in den Gehörgang und ich bin wieder geerdet.


Solange Sohnemann seine Play Station und Fußball noch interessanter als das andere Geschlecht und irgendwelche Party-Eskapaden findet, kann ich ruhig schlafen.

Ich beschließe, über das "wie lange noch" ein anderes Mal nachzudenken, fühle mich augenblicklich besser und laufe nach Hause.

In meinem Rücken fährt die S1 aus dem Bahnhof und bringt Lucia, Paula, Tim und den mit der Cap an ihr Ziel.

Destination Abschuss.

Generation Abschuss.

Irgendwie auch ein bisschen tragisch.

Irgendwie schon.