Mittwoch, 16. Januar 2013

In memoriam

Gestern Abend musste ich mal raus. Bin mit der Bahn zum Hafen gefahren und habe Musik hörend auf einem Poller gegenüber von Blohm&Voss unten an der Wasserkante, der Hafenpromenade, gesessen und die vorbeiziehenden Elbfähren und Schiffe und Boote und die Lichter drüben in der Werft angeschaut. Einfach nur da gesessen, geschaut, "Archive" oder "Fever Ray" im Ohr, der Wind fährt in die Kleidung und lässt einen frösteln, aber das macht nichts, das wird ausgeblendet oder sogar genossen. Ganz langsam runterkommen von dem alltäglichen Wahnwitz um einen herum, es klappt sehr gut. Selbsttherapie quasi.

"Ein ganzer Hafen für mich allein" hab ich gedacht, die Werftarbeiter zählen nicht, die gehören ja dazu. "Cool irgendwie, ein ganzer Hafen für mich allein". Manchmal, ganz ganz manchmal, da steh ich doch auf diese elende Stadt. Das ist so ein Moment.

Ich nehme die letzte Bahn heim nach Barmbek, nachts Bahn fahren liebe ich, ich starre aus dem Fenster auf die vorbeiflitzenden Lichter, fokussieren klappt nicht, sie flitzen zu schnell. Menschen steigen ein, Menschen steigen aus, alle sind erstaunlich still, kein Geschreie, keine lauten Diskussionen, es wird nicht gelacht oder gestritten. Ungewöhnlich. Angenehm.

Am Barmbeker Bahnhof steige ich die Treppe zu meinem Bahnsteig hoch, kaum jemand ist zu sehen, fast wie ausgestorben. Der Bahnsteig ist menschenleer, ich sehe nur in ein paar Metern Entfernung ein Flackern und gehe dem entgegen, interessiert und irritiert.

Vor einem der stählernen Pfeiler, die das Bahnhofsdach tragen, stehen Grablichter, viele, die Kerzenflammen flackern und züngeln und werfen bizarre rotverfärbte Schatten auf die grauen Bahnsteigplatten. Ein Blumenmeer, Rosen, rot und weiß, Tulpen, rot und weiß, ich sehe Briefe zwischen den Blumen liegen, am Pfeiler selbst kleben handgeschriebene Nachrichten und einige Fotos.

Eine Gedenkstätte. Ein Schrein. Ein Mahnmal?

Ich schlucke einmal tief und trete dann näher heran. Die Fotos zeigen einen jungen Mann, Mitte zwanzig, wenn überhaupt. Dunkelblond, sympathisches Lächeln, durchtrainiert, einer, der sicher die Blicke vieler Mädchen und Frauen auf sich gezogen hat. Er lacht lebensfroh in die Kamera.

Ich überfliege die Briefe und Nachrichten, die mit Tesafilm angebracht wurden. Ich erfahre seinen Namen. Ich lese weiter. "Wir lieben dich, R.!" "Du fehlst uns jetzt schon, R.!!" "Warum du? Warum du???"

Ich wende mich ab. Es geht nicht mehr. Mir ist schlecht und ich möchte hier grad nicht sein. Ich könnte heulen.
...
Ein paar Meter weiter sitze ich auf einer Bank, der Bahnsteig füllt sich, was mir lieb ist, allein mit den flackernden Totenlichtern war es seltsam. Jeder einzelne Ankommende bleibt am Pfeiler stehen. Wird still. Ein Jugendlicher, optisch Schläger-Style, kniet in einer stillen Sekunde mit geschlossenen Augen vor den Fotos nieder, ich nehme an, daß er betet. Eine Frau mit Fahrrad fängt an zu weinen und jemand gibt ihr ein Taschentuch, sie setzt sich danach schluchzend neben mir auf die Bank. Ich lasse sie lieber in Ruhe.

Ich habe keine Ahnung, wer "R." war oder was ihm zugestoßen ist. In den Medien findet sich nichts. Ich wüsst es gern. Nicht aus Sensationsgeilheit, sondern weil ich wissen möchte, was dahinter steckt. Was ist passiert? Warum ist es passiert. Wer war "R."? Ich werds vermutlich nie erfahren.

Die Bahn fährt ein. Als sie wieder abfährt, sieht jeder in meinem Waggon nach links heraus auf die Lichter, die Blumen, die Fotos, die Briefe...das Andenken.

R.I.P.

11 Kommentare:

  1. Hallo, es ging mir ziemlich genauso. Ich hatte ähnliche Erlebnisse und Eindrücke. Vielen Dank für deinen Bericht. Das einzige was ich mit seinem ganzen Namen bei Google gefunden habe war eine Trauerseite wo als sterbedatum der 13.03.2013 angegeben wurde.

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    1. Hallo "holo", vielen Dank für Deinen Kommentar! Google hatte ich nicht befragt gestern, auf die Idee bin ich nicht gekommen.

      Was mich ein wenig irritiert hat, ist, das Mittwoch (gegen 22 Uhr) außer zwei Lichtern nichts mehr zu sehen war. Ich kenn mich nicht aus, aber normalerweise bleiben solche Stätten länger erhalten (zB Jungfernstieg vor 1,5-2 Jahren).

      Bleibt zu hoffen, daß was auch immer dort geschehen ist, sich nicht so schnell wiederholt. Weder in "meinem" Stadtteil, noch sonstwo.

      Grüße, T.

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  2. gut geschrieben, sehr mitfühlend!!!!

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    1. Sunflower, Dir natürlich auch vielen Dank für die netten Worte, ich hab vor lauter Verwirrung und Gedankenflippern total vergessen, mich zu bedanken.

      Excuse moi! Merci!

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  3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  4. Habe dich im Übrigen abonniert, da ich deine Art zu denken und zu schreiben bereichernd finde. ;)

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  5. Hi holo!

    Danke Dir für den Link, das war jetzt noch mal emotional. Ich hab einen kleinen Text auf der Seite hinterlassen, vielleicht "hilft" das Familie und Freunden nur ein klitzekleines bisschen. 19 Jahre alt, mein Gott...
    Und Du wirst lachen, mir kam sein Gesicht auch direkt bekannt vor...wer weiß, wie oft sich die Wege am Barmbeker Bahnhof gekreuzt haben.
    Ob es Unfall oder Suizid war werden wir wohl nie erfahren. Aber mit 19 sollte man ganz einfach nicht gehen müssen...

    Nochmals Dank für den Link. Und, auch wenn das grad nicht so recht passen mag, ebenfalls dankeschön fürs Abonnieren und das tolle Kompliment, freut mich sehr, wenn mein "Zeugs" Dir gefällt! Das motiviert ungemein!!

    Hab ein tolles Rest-Wochenende! Grüße aus Barmbek, T_

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  6. Hi T.!

    unwahrscheinlich (im wahrsten Sinn des Wortes) nett, Deine Worte. ;)

    Ich hatte Dir am Wochenende auch eine Facebook-Nachricht geschickt, vielleicht schaust Du mal rein....

    Liebe Grüße ebenfalls aus Barmbek, T.

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  7. Hi!

    Da freut sich dann jetzt wohl jemand anders über eine unerwartete Nachricht bei FB, bei mir ist zumindest keine angekommen...?

    Ich hab übrigens einen Haufen Zugriffe auf diesen Post via Googlesuche nach R. und überlege, ob ich den Link oben lieber lösche. Bin mir nicht sicher, ob ich den Angehörigen/Freunden damit "einen Gefallen tue" (vor allem ist der Blog-Name, ja auch nicht der pietätvollste...)...werd nochmal eine Nacht drüber schlafen.

    Ich wünsch nen chicen Dienstag! T_

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  8. Hi,

    das mit dem Entfernen ist vielleicht besser. Wer den Blog findet, der kennt auch den Namen und damit auch die Gedenkseite. Ich habe diesen Blog nur über eine von vielen Wort-Kombinationen (Barmbek Bahnhof) und Einstellungen (letzte 24 std. oder Woche) bei Google gefunden.

    Was die Nachricht auf FB angeht: ich sollte dich angeschrieben haben, da das Profil deinen Namen und den Ort Barmbek drin stehen hat. Vielleicht ist es unter "Sonstiges" bei den Nachrichten. Das passiert glaube ich wenn einen nicht-facebook-befreundete-Menschen Nachrichten schicken. ;) LG

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    1. Hoi!

      Ich habs gelöscht, vermutlich gibts immer noch genug Wege, via Google hier zu landen, aber ich denk, das Löschen ist im Sinne der Angehörigen.

      Hmm, denn durchforste ich FB nochmal, ich kenn mich da nicht mehr wirklich aus - die Zeiten sind vorbei. Besuch ich nur noch sporadisch. Schaun mer mal :)

      Grüße und einen erfolgreichen Wochen-Endspurt! T_

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