Montag, 24. März 2014

Frühling in der großen Stadt

Früher Nachmittag, überfüllte U3 Richtung St. Pauli, schlechte Laune.

Ich war Stunden vorher von der in mein Schlafzimmer scheinenden Sonne und den herum brüllenden Vogelhorden vor dem Fenster aufgewacht, das hatte den Start in den Tag ein wenig ruiniert. Der erste Gedanke des Tages war "Toll, dann ist jetzt wohl Frühling!".

"Letztes Jahr um diese Zeit lag Schnee" erinnerte ich mich unter der Dusche stehend und lachte gedankenverloren. Früher war alles besser...

Jetzt hocke ich in der zu vollen U3 inmitten von Chaos und sehe pilotensonnenbrillentragende Styler in Flip Flops, hipsterdutttragende Tussen im wehenden Sommerkleidchen und jutebebeutelte Oberlippenbartträger, deren leichengleich bleiche Stelzen in über dem Knie umgekrempelten Jeans-Shorts beginnen und weiter unten in Chuck`s oder, vielleicht einer der grausigsten Anblicke aller Zeiten, in Clogs enden. In dunkelgrünen Clogs kombiniert mit babyblauen Füßlingen. Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt die Steigerung der deutschen Sauf-und-Ficktouristen mit den weißen Tennissocken in den Sandalen in El Arenal oder Phuket ist oder eben diese einfach nur parodieren soll.

Ich schüttele mich und versuche, die gewonnenen...eher aufgedrängt bekommenen...Eindrücke wieder aus dem Kopf zu verjagen.

Weder Gedanken an tote niedliche Miezekätzchen noch das Gebrülle von "August Burns Red" in meinem Ohr schaffen das. Ich gebe auf.

"Nächste Haltestelle: Sankt Pauli". Das Kackvolk wird zwar fast ausnahmslos mit mir zusammen aussteigen, in den Weiten Sankt Paulis verläuft sich das aber glücklicherweise schnell. Das dümmliche Gekicher wird abgelöst von den Koberern vor den Laufhäusern ("Willst du ficken? Komm rein, hier kannst du ficken! Und ein Bier kriegst du sogar gratis dazu. Zum Ficken!") oder von Typen, die sich kaum auf den Beinen halten können, unkontrolliert und manchmal eingepisst vor und zurück schwanken und wahllos Passanten am Jackenärmel zu fassen kriegen, mich leider auch.

"Alder, hassu ma Euro für mich oda zwei?"

Ja, ich hab einen Euro, vielleicht auch zwei, nur vergeude ich den nicht an irgendeinen Zugedröhnten, der mich nötigt stehen zu bleiben, indem er mich vehement am Ärmel fest hält, sodass ich mich fast losreißen muss. Ich gebe gern wenn ich kann. Nur eben nicht jedem. "Sorry, neeh. Hab nix. Und jetzt lass mal meine Jacke los bitte!"

"Ne Fotze bissu, Alder!" wird mir hinterher gebrüllt und vermutlich zeigt er mir auch noch den Finger, wenn er dazu bei dem Alkoholpegel oder der Chemie, die da durch sein System kreist, überhaupt noch in der Lage ist. "Ne verfickte Fotze bissu!". Innerlich koche ich und würde gern umdrehen und ihm die Meinung geigen - aber das verstünde er ja eh nicht mehr. Soll er eben in seiner eigenen Kotze pennen. Seine Entscheidung.

Ich laufe durch die Seiten- und Parallelstraßen der Reeperbahn, mache hier und da mal ein paar Fotos, wenn ich Street Art entdecke, die mir gefällt.



Oder wenn ansonsten (fast) weiße Wände interessanter werden, weil irgendjemand in ein bisschen falschem Deutsch seinen Begleitern die Fehler der letzten Nacht ankreidet.



Ich laufe durch die Kastanienallee, durch die Erichstraße, mache Halt auf dem Hans-Albers-Platz, den ich zu meiner Verwunderung trotz der nervenden Menschenmassen in der Bahn komplett für mich allein habe.

Ich laufe vorbei an Bars und Clubs und Orten, zu denen mir direkt Geschichten einfallen, die "Cobra Bar" in der Friedrichstraße, da war ich in meinen hamburger Anfangsjahren Stammgast und habe in dem Schuppen von absoluten Gelagen über böseste Keilereien bis hin zu Sex auf dem Klo, welches man nicht abschließen konnte, so ziemlich alles erlebt.

Vorbei an der Prinzenbar, in der ich mal "Dashboard Confessional" spielen sah, damals, als Chris Carrabba noch allein mit seiner Gitarre auf der Bühne stand. Bei "Screaming infedelities" habe ich einer vergangenen Beziehung wegen Rotz und Wasser geheult.

Einmal schwer schlucken, dann weiter. Hunger setzt ein. Kurz überlegen. Ja, heut mal was Verrücktes tun. Vegetarisch essen. Freiwillig. Falafel.

Zwanzig Minuten später endlich am Neuen Pferdemarkt angekommen, betrete ich den mir als "bester Falafel-Laden der verdammten WELT!!" empfohlenen Laden und steh vor dem Tresen wie der Ochs vor dem Berg. Stammele herum. Von vegetarischem Essen hab ich halt mal einfach keine Ahnung und jetzt soll ich mir mein Essen hier selbst zusammenstellen. Dabei kann ich maximal die Hälfte dessen, was da hinter Glas liegt, überhaupt identifizieren. Und generell ist da ja dieses Entscheidungsproblem. Zuviel Auswahl überfordert mich... Ich muss sehr hilflos ausgesehen haben.

Der Mensch neben mir, komplett in schwarz gekleidet, schwerst gepierct und mit einem "FCK CPS"-Shirt bekleidet, der Typ Mensch, der beim "Normalbürger" Gedanken an den bösen bösen "Schwarzen Block" aufkommen lässt und Fluchtreflexe auslöst, grinst erst sich einen und dann mich an. "Wenn ich dir was empfehlen darf..." Natürlich darf er und den Empfehlungen folge ich.

Eine halbe Stunde später sitze ich pappsatt auf der Rasenfläche vorm "Grünen Jäger", blinzele über den Rand meiner Sonnenbrille in die Sonne und erinnere mich an grandiose Momente und Nächte, die ich im "Jäger" erlebt habe. Das waren viele. Und Konzerte. Vor allem eines. "Maybeshewill" im März 2012. Ich skippe im Handy zu ihrem grandiosen Album, höre in der Sonne sitzend meine zwei liebsten Lieder und laufe dann weiter.

Auf der großen Kreuzung vom Neuen Pferdemarkt und der Stresemannstraße ist es zu einem Unfall gekommen, während ich dem Essen und der Musik frönte. Drei Polizeiwagen sind vor Ort, ich befürchte Schlimmes. Ein teurer Sportwagen hat einen Smart auf die Hörner genommen, der Smart liegt nun direkt vor einem angesagten Restaurant auf der Fahrerseite und die dort im Freien sitzenden Gäste verdrehen sich die Hälse und recken die Köpfe. Und tuscheln.

Ein Polizeibeamter nimmt die Personalien des Sportwagenfahrers auf, die restlichen fünf Cops stehen entspannt herum und genießen den Sonnenschein, der Fahrer des Smart beäugt währenddessen sein auf der Seite liegendes Vehikel.

Der Fahrer des Sportwagens, ich glaube, es ist ein Aston Martin, regt sich fürchterlich auf. Dabei hat sein Auto nur eine kleine Beule und ein paar Lackschäden.

Also in etwa einen Schaden von 24500 Euro.

Der Smart wird derweil wieder aufgerichtet. Da muss nur ne neue Fensterscheibe rein und kurz über den Lack gepinselt werden. Kostenpunkt 300 Euro oder so. Die Dinger sind halt unkaputtbar. Da anscheinend auch noch der Sportwagenfahrer schuld am Zusammenstoß ist, grinst der Smartfahrer zufrieden und ich freue mich mit ihm.

In der vielköpfigen Gruppe von Schaulustigen, die sich versammelt hat, wird unwissend getuschelt. Ob der Fahrer des Smart, der leibhaftig vor ihnen steht aber nicht erkannt wird, denn wohl wohlauf sei? Oder doch schwerstverletzt oder tot? "Immerhin ist der Smart ja umgekippt!" wirft eine mit wichtigem Blick ein und alle tuscheln zustimmend. Die Sensationsgeilheit tropft aus allen Poren.

Das wäre ja jetzt eigentlich mein großer Moment, meine five minutes of fame, ich sollte da jetzt auf die Mauer klettern, alle zur Ruhe bitten und dann erzählen, wie ich in einem Smart mal einen Unfall bei über 100 km/h erlebte und überlebte. Dann sollte ich sie auffordern, vor mir danieder zu knien und mich ab dann nur noch mit "gottgleicher Meister" anzusprechen.

Stattdessen setze ich meinen Weg fort, weg von den Spannern, hin zur Bahn.

Das geht gut mit Musik im Kopf. Kein weiteren Zwischenfälle.

Acht Minuten noch, dann darf ich wieder den HVV nutzen, ohne ständig nervös herum blicken zu müssen weil meine Monatskarte grad mal wieder nicht gültig ist. Ich stehe wartend vor dem Bahnhof Sternschanze inmitten von Menschen, die sich grad zum gemeinsamen Essen gehen, zum ersten Date oder zum Junggesellenabschied treffen. Tohuwabohu. Früher hätte ich mir in solchen Momenten eine Kippe angesteckt, heute beobachte ich nur und versuche, Eindrücke zu gewinnen.

"Darf ich dich fragen, ob du eine Zeitung kaufen möchtest?" fragt ein "Hinz&Kunzt"-Verkäufer schüchtern. Er ist übel zugerichtet, blaues Auge, blutverkrustete Lippe.

Ich verneine, ich möchte die Zeitung nicht kaufen. Stattdessen drücke ich ihm das letzte Geld, das ich noch dabei habe, in die Hand. Mehr als zwei Euro sind das auf keinen Fall, er freut sich aber tierisch darüber.

"Wenn noch ein paar mehr von deiner Sorte kommen, dann kann ich heut vielleicht in einem richtigen Bett pennen" sagt er, "von meinem alten Schlafplatz haben sie mich vertrieben.", dabei zeigt auf seine Wunden. Als ich frage, warum er vertrieben wurde, zuckt er mit den Schultern. "Die waren zu dritt und ich bin allein. Da wird nicht diskutiert."

Dann fehlen mir die Worte. Und ich muss schon wieder den Kloß im Hals herunter schlucken.

"Passt schon" sagt er, "ich kenn das ja nicht anders!"

Dann verabschiedet er sich optimistisch lächelnd per Handschlag, er möchte noch die restliche Kohle für eine Nacht in einem Bett rein kriegen.

Und ER wünscht MIR viel Glück, während ich immer noch sprachlos bin.

Ich sehe noch, wie einige wortlos und ohne seinen Blick zu erwidern an ihm vorbei laufen als er sie anspricht und es ist schwer zu ertragen.

Als ich später zuhause im warmen Bett liege, schäme ich mich fast dafür und schlafe mit fest gedrückten Daumen ein.

Sonntag, 9. März 2014

He fuckin` hates me!

Montag Nacht. Zwei Uhr. Domian ist zu Ende. War ganz gut und fast ermüdend. Mal hinlegen und gucken, ob das Ding mit dem Schlaf klappt.

"She fuckin` hates me! Lalalala, she fuckin` hates me!" brüllt es von irgendwo.

Dienstag Nacht. Zwei Uhr. Domian ist zu Ende. War wieder ganz gut und fast ermüdend. Mal hinlegen und gucken, ob Schlaf vielleicht heut klappt.

"...then I started to realize I was living one big lie, she fucking hates me! Lalalala..." brüllt es. Scheint von oben zu kommen.

Mittwoch Nacht. Zwei Uhr. Domian ist zu Ende. War spannend, Themen-Nacht. Nicht ermüdend, aber das wird schon. Einfach hinlegen und gucken, ob`s klappt. Schlaf und so. Schafe zählen. Eins. Zwei. Drei. Vier.

"I tried too hard and she tore my feelings like I had none and ripped them away! She fuckin` hates me!" brüllt es. Ja, kommt von oben. Da stampft auch wer im Takt mit dem Fuß mit.

Donnerstag Nacht. Zwei Uhr. Domian ist zu Ende. Ging so. Viel Scheiße. Viel Krebs. Nur ein lustiger Anrufer, der ne Olle aus nem Club in der U-Bahn-Station gepimpert hat, während er ein Gorilla-Kostüm trug. Haha, lol. Lustig. Halbwegs. Jetzt einfach hinlegen. Schlaf. Augen zu und durch.

"That's my story, as you see, learned my lesson and so did she. Now it's over and I'm glad 'cause I'm a fool for all I've said. She fuckin` hates me!" brüllt es. Ernsthaft? Vier Nächte am Stück?

Freitag Nacht. Zwei Uhr. Domian, Ende und so. Gut, schlecht, Wayne!? Kein Schlaf. Hoch in den vierten Stock. Leise.

"La la la la la la la la la la love. Trust! La la la la la la la la la la la love. Trust!" brüllt es.

Im vierten Stock vor der Tür des musikalischen Attentäters Hundehäufchen (am Freitag tagsüber handverlesen ausgesucht und mit Einweghandschuhen und spitzen Fingern eingesammelt) drapiert. Acht an der Zahl. In jeden ein handbeschriftetes Fähnchen gesteckt. Aufschrift: "I fucking hate you!"

Dann eine schöne Nacht gehabt. Mit Schlaf und so.

Gestern spätabends im Treppenhaus kommt mir der Vogel aus dem vierten Stock entgegen. "Da mag mich wer aus dem Haus nicht, ich habe Drohungen bekommen!" erzählt er aufgebracht. "Da lag Hundescheiße vor meiner Wohnungstür!". Ich nicke anerkennend und lasse ihn dann stehen.

Ja, da mag ihn wohl wer aus dem Haus nicht. So ein Mist.

In meiner Bude schaue ich noch ein bisschen fern und gehe dann zu Bett. Ich bin lange nicht mehr so zufrieden eingeschlafen.

Samstag, 8. März 2014

"Wenn kommt, kommt!" (2): Damals im Ex-Job:Das Problemvolk und die Suchtis

Leider habe ich länger als geplant gebraucht, um der angestrebten "Wettbüro-Serie" ein zweites Kapitel hinzu zu fügen. Das tut mir leid. Ich hoffe, dass das in Zukunft zügiger geht. Aber wenn der Kopf nicht frei ist, dann fällt mir leider das Schreiben schwer.

Im ersten Teil der "Wettbüro-Serie" hatte ich ja über gewisse Kunden sowohl positiver als auch negativer Natur erzählt. Und mein werter Mitleser und Co-Blogger "gnaddrig" hat da in seinem Kommentar erwähnt, dass es in seiner relativ direkten Nachbarschaft auch ein Wettbüro gäbe, dieses sei ihm aber nie negativ oder generell eigentlich gar nicht aufgefallen.

Das war mir neu. Ich kenne das anders.

Und zwar in der Form, dass Wettbüros zu 99,9% immer auffallen und negativ aufgenommen werden, wenn sie sich in der mehr oder weniger direkten Nachbarschaft befinden. Und nach meinen Jahren, die ich in so einem Laden gearbeitet habe, kann ich das nachvollziehen. Und zwar komplett. "Gnaddrig" ist da zu beneiden, entweder lebt er in der Nähe des entspanntestes Wettbüros der Republik oder er selber ist dermaßen tiefenentspannt, dass das Chaos, welches so ein Laden im Normalfall mit sich bringt, ihn einfach nicht tangiert. In beiden Fällen würde ich dazu gratulieren wollen. Beides ist beneidenswert.

In meinem Laden war das anders.

Es verging selten eine Schicht ohne Vorkommnisse. Das variierte von Pöbeleien über Herumgeschubse bis hin zu handfesten Auseinandersetzungen. Und ich spreche da nicht von "Mann gegen Mann", das waren ausgewachsene Massenprügeleien. Da gingen auch mal fünfzehn Leute auf der Straße aufeinander los, ohne dass ich oder andere Unbeteiligte irgendeinen Grund auch nur hätten erahnen können. Von einer auf die andere Sekunde brach das los.

Alles ruhig. Ein Mal zwinkern. BÄÄÄÄÄÄÄÄMM!!! Complete fucking mayhem! Einfach so, ohne irgendeine Vorankündigung.

Glücklicherweise passierte so etwas während meiner Schichten immer ohne Waffen. In den ganzen Jahren, in denen ich den Job gemacht habe, wurden "nur" zwei mal Messer als Drohgebärde eingesetzt, nie benutzt. "Komm doch, isch stesch disch ab, schwör!" Es flogen während meiner Schichten immer "nur" die Fäuste. Von Kollegen habe ich aber auch andere Geschichten gehört. Vom Totschläger über Gas- bis scharfer Waffe war da alles dabei. Ich bin froh, dass ich davon verschont geblieben bin.

Stress war an der Tagesordnung, aber meine Kollegen und ich haben oft beruhigend eingreifen können. Man glaubt es kaum, aber ein bisschen gutes Zureden ("Alter. lass doch den Scheiß, das lohnt doch gar nicht...komm, ich geb dir n Kaffee aus.") reichte häufig schon. Zumeist wurde der, der grad sein Gegenüber noch "ficken" und "kalt machen" wollte dann zum weinerlichen Verlierer, der zusammengesunken auf seinem Hocker hockend einen grausigen aber immerhin geschenkten Automaten-Kaffee aus einem Pappbecher trank und früher oder später fragte, ob ich ihm nicht was leihen könne. Einen Zehner nur. Todsichere Wette. "Wir sind doch Freunde, Alter!"

Man stumpft echt ab, wenn man tagtäglich so eine Scheiße erlebt und sogar mittendrin hängt. Oder besser: in dem abgefuckten Elend "gefangen" ist. Ich gebe Bedürftigen gerne mal einen Taler, aber während ich den Job gemacht habe, habe ich mir die Leute da in der Straßenecke genauer angeschaut als sonst. Ich wurde einfach zu oft von irgendwelchen Verlierern während der Schicht angeschnorrt. "Nur den Zehner! Bitte! Ein todsicherer Tipp! Das läuft, das Ding! Habe ich von nem Insider gehört! Komm Alter, ist doch nur n Zehner..."

Die richtig Kaputten, die auch ihre Leber oder ihre Enkeltochter verkauft hätten, um weiter zocken zu können, musste man echt abwimmeln. Einige von denen hätten mir vermutlich auch ohne mit der Wimper zu zucken einen geblasen, wenn ich das für "Leih mir mal zehn Euro" gefordert hätte. Tragisch, wie tief ein Mensch abrutschen kann...mich macht das traurig. Im Nachhinein.

Während man da im Laden steht und seinen Job macht, darf man daran nicht denken. Sonst verleiht man hier mal einen Zehner und da mal einen Fünfer und hat am Ende der Schicht ganz schnell für umsonst gearbeitet und den Verstand riskiert und wenn es ganz dumm kommt, dann zahlt man sogar drauf.

Um die Kasse auszugleichen.

Und aus einer 8-/10-/12-Stunden-Schicht will man nicht mit einem Minus im Portemonnaie rausgehen. Ist mir zwei Mal passiert, dann aber auch richtig derbe. Allerdings nicht wegen gnädiger Gaben, sondern weil ich mich (vermutlich) bei einer Auszahlung verzählt hatte. Nach zehn Stunden anstrengender Arbeit ein Minus von fast 200 Tacken in der Kasse zu haben, ist ein unfassbar beschissenes Gefühl!...es macht absolut gar keinen Spaß.

Zurück zum eigentlichen Thema.

Warum auch immer hatte vor allem ich bei der "problematischen Kundschaft" einen guten Stand und viele Sympathisanten, das hat mir bei meinen Schichten oft geholfen. Und deshalb habe ich auch zumeist die Spätschichten bis 23 Uhr, 0 Uhr oder darüber hinaus machen "dürfen".

Je später der Abend, desto schwieriger die "Gäste". Alkohol, Drogen, Frust wegen bereits verlorener Wetten, you name it. Mit den Folgen durfte ich mich dann abends herum schlagen.

Aus unerfindlichen Gründen bin ich mit dem Problemvolk aber meist gut klargekommen. Ich hatte meine Verbündeten unter den Kunden, die standen mir in den seltenen Konfliktsituationen, in die ich geraten bin, zur Seite, ohne die hätte ich garantiert mal Dresche bezogen. Und dafür bin ich den Jungs auf jeden Fall dankbar. Im Vergleich zu dem, was ich von Kollegen gehört habe, waren meine Spätschichten eher so entspannte Abende im Freundeskreis.

So hab ich sie natürlich nie gesehen, aber in Relation zu Erzählungen, von denen ich mir sicher bin, dass sie nicht erfunden sind (Schläge, Tritte, Anspucken, Drohungen gegen die Familie etc)...ich hab wohl echt Glück gehabt. Und hab wohl den richtigen Weg, um mit dem komplizierten Kundenvolk umzugehen, gefunden.

"You get what you give!"

Eine gewisse freundliche Bestimmtheit, ein offenes Ohr und vor allem Offenheit gegenüber jedem, der einem gegenüber steht, sind da ganz hilfreich. Und all besitze ich wohl in einem gewissen Maße. Und wenn ich es erst während dem Ex-Job gelernt habe. Es ist da und es ist hilfreich. In den skurrilsten, stressigsten und unerwartetsten Situationen.

"Problemvolk". Damit asoziiert man ja im Normalfall und ganz klischeehaft den "Digger, Alder, Schwör!"-sagenden Jugendlichen mit Emigrations-Hintergrund, dicken Oberarmen und ner aufgemotzten Karre, nichts anderes als 3er BMW oder direkt einen fetten Benzer. Davon hatte ich tagtäglich einige im Laden.

Mit keinem der Jungs habe ich jemals Sorgen gehabt. Im Gegenteil: freundlich, hilfsbereit, wenn es nötig war. Die haben mich sogar gesiezt! Ernsthaft, da steht ein Typ Mitte zwanzig vor mir, doppelt so breit wie ich, 1,5 Köpfe größer als ich, Oberarme wie ich Oberschenkel, das ganze natürlich mit den entsprechenden Tribals "verziert", an dem würd ein verdammter D-Zug abprallen...und der fragt dann fast schon schüchtern mit leisem Stimmchen "Entschuldigen Sie, ich bräuchte mal Ihre Hilfe!"

Die Jungs mögen anderswo "Problemvolk" sein, in meinem Laden waren sie es nicht, wenn ich dort war. Die waren alle entspannt und gute Jungs. Mit der Ausnahme, die ich in Teil eins erwähnte.

Die problematischsten Kunden waren immer die Besoffenen. Egal, welcher Nationalität sie angehörten.

Es gab "Marcelo" aus Tunesien, nüchtern der freundlichste Mensch der Welt. Ab spätestens 20 Uhr war er aber voll wie Indien, mir gegenüber immer noch freundlich, er wollte mich dann immer umarmen und küssen... ... ...jeden anderen im Shop bepöbelte er übelst und wenn er an den falschen geriet, gab es natürlich Ärger. Lauten Ärger. Die Cops kamen wegen ihm häufig, fast immer schaffte er es aber irgendwie, im Trubel zu entwischen. Ein Mal hat er mir sturzbesoffen in den Laden gepisst, ein RTW holte ihn ab. Die Sanitäter schlug und bespuckte er mit letzter Kraft solange, bis ich ihn beruhigen konnte. Mein Cheffe hätte mich wegen der vollgepissten Stühle fast gefeuert...

Wir hatten auch den "Immer-Nörgler". Irgendwo aus dem Osten Europas. Ich weiß es nicht genau. Der war zwar nicht besoffen, keifte meine Kollegen und mich aber sogar dann an, wenn er grad aus zwei Euro 200 gemacht hatte. "Hätte ich doch zehn Euro gesetzt! Oder zwanzig! Das war doch klar! So eine Scheiße"
. Trinkgeld gab er natürlich nie, stattdessen steigerte er sich, trotzdem er seine Kohle grad hundertfach vermehrt hatte, immer vollkommen in seine Wut hinein, sodass er irgendwann mal (nicht während einer meiner Schichten) um sich schlug und Hausverbot bekam.

Letztens traf ich ihn zufällig beim Einkaufen und er erkannte mich. Nüchtern (in diesem Fall ist "nüchtern als "nicht im Spielrausch" zu verstehen) ist er ein vollkommen ausgeglichener freundlicher Mensch...

Der krasseste war ein junger Deutschrusse, ich kenne seinen Namen nicht. Ein Tier von Mensch, knappe zwei Meter groß, lässig 120 kg schwer. Ein rasierter Sasquatch, eine absolute Kampfmaschine. Eines Tages am späten Abend, als ich allein meine Schicht erledigte und mich bereits auf den verdienten Feierabend vorbereitet hatte, stand er plötzlich vor mir. Blutüberströmt, taumelnd und lallend. Er hatte eine tiefe Platzwunde auf der Stirn, außerdem war seine Unterlippe aufgeschlitzt. Sein Blut tropfte auf den Tresen und in meinen Arbeitsbereich, er bemerkte das aber, besoffen wie er war, anscheinend gar nicht und beharrte darauf, seine Tipps abgeben zu wollen. Beim Ansagen seiner Wetten spuckte er sein Blut in meine Richtung.

Da war dann Feierabend. Es machte KLICK und mir wurde klar, dass ich aus dem Job schnellstmöglich raus will und muss.

Den Blutüberströmten hat dann unter seinem Protest ein von mir gerufener RTW abgeholt, später hat sich herausgestellt, das der Kerl vorher am Hauptbahnhof drei Typen, denen er Geld schuldete, übelst zugerichtet hat. In den regionalen Nachrichten war von "Schwerverletzten" die Rede. Einer von denen hat ihm wohl einen abgebrochenen Flaschenhals durchs Gesicht gezogen, daher seine Wunden. Sein überall im Laden verteiltes Blut durfte ich dann aufwischen. Um irgendwann gegen 0 Uhr.

Ich habe mich danach auf alle durch Blut und Spucke übertragbaren Krankheiten testen lassen. Alles gut gegangen. Alle Tests negativ. Man kommt da aber schon ins Schwitzen...