Samstag, 1. November 2014

Personenschaden

Die U3 ist vollkommen überfüllt mit in braun und weiß oder gelb und schwarz gekleideten Menschen, die allesamt im Millerntorstadion oder in einer Bar in Stadionnähe das Pokalspiel St. Pauli gegen Borussia Dortmund gesehen haben und jetzt vollkommen unabhängig vom Ausgang des Spiels feiern.

Die Dortmunder feiern den Einzug in die nächste Runde und die Paulianer feiern mangels sportlicher Erfolgserlebnisse einfach sich selbst.

Mittendrin sitze ich und bin genervt, da das ganze Gejohle und Gesinge das DJ-Set, das in vollster Lautstärke aus meinen Kopfhörern wummert, immer noch zeitweise übertönt. Fan-Gesänge der falschen Vereine statt elektronischen Klängen aus dem Ostbahnhof, herzlichen Dank.

Leise in mich hinein fluchend nehme ich die Kopfhörer ab, ständig von Gejohle unterbrochene Musik auf dem Ohr ist noch anstrengender als der ungefilterte Mist, den die Umwelt generell so mit sich bringt, also spare ich mir die gute Musik für ein anderes Mal auf.

Mir gegenüber sitzt eine Dunkelhaarige mit einem Pauli-Button an der Wollmütze, sie singt keine ihren Verein glorifizierenden Lieder, sondern lächelt verliebt ihren neben ihr sitzenden Freund an, der das aber gar nicht wahrnimmt und stattdessen gedankenverloren Löcher in die Luft starrt.

In meinem Rücken wird laut gegröhlt, eine Gruppe von Borussen besingt Flaschen billigen Bieres herumschwenkend den Auswärtssieg beim unterklassigen Gegner, als sei dieser ähnlich geschichtsträchtig wie die Eroberung Trojas.

"BORUSSIAAAAAA! BORUSSIAAAAAAAAAAAA!!"

Im Sitzabteil gegenüber telefoniert einer lautstark brüllend gegen das ganze Chaos an.

"Ja Schatz!"..."Nein Schatz!"..."Verloren!"..."Pauli! Verloren!!"..."Is scheiße, richtig!"..."Scheiße is das sag ich!"..."Was??"..."Ich sag, daß das Schei..."..."Ja, is laut hier inner Bahn!"..."Laut! Hier! Bahn!"..."LAUT verdammt! L, A, U, T, LAUT!!"

So geht das noch eine Weile.

Am Bahnhof Rödingsmarkt steht die Bahn etwas länger als im Normalfall, das ist vermutlich normal bei so einer Masse Angetrunkener an Bord, die brauchen halt ein bisschen länger um ein- oder auszusteigen.

Die Türen schließen, die Bahn nimmt Fahrt auf.

Und dann bremst sie abrupt ab bis zum Stillstand.

Währenddessen wackelt der ganze Waggon heftig und wäre er etwas leerer gewesen, dann hätte es die im Gang Stehenden wohl herumgeworfen wie Crash-Test-Dummies. So aber werden sie dank der nahezuhen Überfülltheit nur ein wenig durchgeschüttelt.

Kurz legt sich eine irritierte Stille über den Waggon. Ein paar Sekunden lang sagt niemand einen Ton und in die Stille hinein scheppert die Stimme des Bahnführers aus den Lautsprecherboxen.

Sie ist leise und klingt verstört und mitgenommen.

"Bitte steigen sie alle aus. Ich habe jemanden überfahren. Bitte steigen sie alle aus!"

Dem Mädchen gegenüber fällt das verliebte Lächeln aus dem Gesicht und sie wird kalkweiß, ihr Freund steht wortlos auf und zieht sie mit sich.

Nach und nach stehen alle auf und verlassen die Bahn. Ein Betrunkener intoniert erneut Lobgesänge auf den Club aus dem Ruhrpott, während er in Schlangenlinien den Bahnsteig in Richtung der Unfallstelle entlang läuft, einige filmen ihn, einige feiern ihn, der Großteil schaut verständnislos, was ich in dieser Situation sehr angebracht finde.

Ich steige mit als Letzter aus und komme nur langsam vorwärts und Richtung Ausgang, denn die Menge derer, die neben den Ersthelfern stehen bleiben und lange Hälse machen, um einen Blick auf das Opfer zu erlangen, auf eine eventuelle Verstümmelung - eine abgetrennte Extremität sieht im wirklichen Leben sicher noch viel cooler aus als im Computerspiel - ist riesig. Ein riesengroßer Haufen von Asozialen und jedem einzelnen von ihnen gönne ich es in dem Moment von Herzen, anstelle des Opfers dort grad hilflos unter der Bahn zu liegen.

Es gab natürlich auch Handyfilmer, die das Gefilmte dann später im Freundeskreis herumzeigen, "Guck da, da sieht man Blut!" oder die es bei youtube etc hochladen oder sich allein zuhause darauf einen runterholen. Wir leben in einer echt kaputten Welt.

Ich habe, während ich die Unfallstelle passierte, nach rechts durch die Glasscheiben auf die Lichter der Stadt geschaut.

Ich habe in meinem Leben schon genug Mist gesehen, ich habe jemanden durch die Luft fliegen sehen, nachdem er frontal von einem Auto erfasst wurde, ich habe blutende Freunde aus einem zerstörten Autowrack gezogen und ich war dabei, als jemand sich schwerste Verbrennungen zugezogen hat.

Einen, den eine Bahn erwischt hat, habe ich noch nicht gesehen und das sollte auch so bleiben.

Also den Blick nach rechts auf das Hamburg-Panorama. Augen rechts und durch.

Nur ein Mal habe ich, als ich in etwa auf Höhe der Bahnführerkanzel war, kurz nach links geschaut und sah dort jemanden in HVV-Uniform auf dem Boden hocken, der die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Das Bild werde ich lange nicht vergessen.

Als ich die letzten Treppenstufen aus der Haltestelle hinunter ging, kamen mir schon die ersten Polizisten entgegen gerannt, kurz darauf kam der erste RTW an, dann die Feuerwehr mit einem kompletten Zug.

Nach einem glimpflich ausgegangenen Unfall sah das alles nicht mehr aus.

Im Bus Richtung Hauptbahnhof war dann wieder der Telefonierer aus meinem Waggon dabei, dieses Mal war es nicht so laut, er musste nicht brüllen und ich hörte ihn sagen:

"...mich nervt's auch, daß es so spät wird. Hätte der Idiot nicht vor die nächste Bahn stürzen können?"

Ich lasse das einfach unkommentiert, es spricht für sich.

...

....

....

Am Tag darauf las ich online, daß der Verunfallte zwar schwer verletzt ist, mehrere Knochenbrüche sollen es sein, er hat es aber wohl sogar von allein geschafft, von den Gleisen auf den Bahnsteig zu klettern...

Ich hatte deutlich Schlimmeres befürchtet und gratuliere hiermit unbekannterweise zum zweiten Geburtstag.

6 Kommentare:

  1. Oh wie heftig. So etwas passiert wohl öfter als man denkt, die Medien berichten über so etwas wohl selten wegen dem Werther-Effekt.

    Bloss gut, dass es hier halbwegs gut gegangen ist.

    Zu dem Typen, der ins Handy gebrüllt hat. In Japan gibt es Schilder, auf denen die Leute ermahnt werden, sich bitte nicht zur Rush Hour vor die Bahn zu werfen, weil dann alle zu spät kommen.

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    1. In Japan werden die Kosten, die durch den Suizid entstehen auch den Angehörigen aufgebrummt. Führte dazu, dass es ein Buch mit Tipps gibt, wie man sich kostengünstig um die berühmte Ecke bringen kann.

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  2. Wir leben in einer echt kaputten Welt.
    Sehe ich genauso, Gaffer sind die Pest.

    @ Amélie: öfter als man denkt
    Ich strande ungefähr einmal pro Jahr auf dem Weg zur Arbeit oder zurück, weil jemand sich vor den Zug geworfen hat. Da ist die Bahnstrecke dann jedesmal zwei, drei Stunden vollgesperrt. Da das aber fast immer auf freier Strecke passiert, gibt es da wenigstens kaum Gaffer. Es wird in den Medien fast immer nur von der Streckensperrung selbst berichtet (außer jemand Prominentes ist betroffen). Zum Glück habe ich noch nie in einem der verunfallten Züge selbst gesessen...

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  3. Ich mußte mir das zwangsläufig mal antun. Die Regiobahn vor uns hatte ein Menschlein auseinandergeteilt, Ich saß hinter dem Lokführer, der die Gardine offen hatte, der war bedient. Ich auch. 5 Tage kaum gepennt. Und auf dem Walkman (länger her) auch noch Slayer mit "Suicide" - no joke. Und das Kaff, wo es passierte, setzte sich aus meinem Namen und einer heimatlichen Mundartbeschreibung für "fort" zusammen. Meine Nerven.

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  4. Ich las gerade, dass in Deutschland zu"normalen" Zeiten drei bis vier Menschen pro Tag vor einen Zug springen. Ob das hier auch der Fall oder tatsächlich ein Unfall war, sei mal dahingestellt. Aber ich möchte definitiv nicht in der Haut des Fahrers oder der Fahrerin stecken. Das Bild bekommt man wohl auch nicht mehr aus dem Kopf.

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  5. Ich glaube weder an Himmel noch an Hölle. Würde aber jedem Suizidanten, der diese Art des Ablebens wählt, die Hölle wünschen. Zumindest solange, bis der Zugführer, oder andere Zeugen drüber weg sind.

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