Es ist laut.
Es ist chaotisch.
Es stinkt.
Um mich herum wuseln Gestalten, sie verschwimmen ob ihrer puren Menge und den hektischen Bewegungen miteinander und das verwirrt mich. Ich kneife für ein paar Sekunden die Augen fest zu und genieße das bisschen Dunkelheit.
Herzlich willkommen zurück in Hamburg.
Nach einer kompletten Woche zuhaus im niedersächsischen Nichts fühle ich mich jetzt auf dem S1-Bahnsteig des Hauptbahnhofes, als hätte mich irgendjemand in einen Ameisenhaufen voller menschengroßer Ameisen geworfen.
Es wimmelt um mich herum. SIE wimmeln um mich herum.
Eigentlich mag ich das. Ich mag das Chaos.
Aber nicht gerade jetzt.
An der Bahnsteigkante vor mir tigert einer umher, immer von links nach rechts nach links nach rechts wie ein Zoo-Löwe mit Gehegekoller bei Hagenbeck, dabei brüllt er in einer mir unbekannten Sprache in sein Handy wie Aale-Dieter auf dem Fischmarkt.
Laut. Aggressiv. Heisere Stimme. Aber welche Sprache?? Ich kann sie nicht identifizieren. Türkisch ist es nicht. Arabisch auch nicht. Für Persisch klingt es zu hart. Aber wie klingt ein wütender Perser? Ich habe noch nie einen kennengelernt. Ich kenne Perser nur in der freundlichen eher leisen Version.
Ich einige mich nach hitziger Diskussion mit mir selbst darauf, dass es Rumänisch ist und damit kann ich gut leben.
Der vermutliche Rumäne steht nun direkt neben mir und brüllt seine Tiraden ins Telefon. Er hat die Augenbrauen zusammen gezogen und ab und zu fliegt ein kleines Spucketröpfchen aus seinem Mund. Ich beobachte seine Kopfbewegungen genau und manövriere mich jedes Mal rein prophylaktisch aus der Streuzone.
Er rückt noch näher. Beinahe Ellbogenkontakt. Die letztmögliche Steigerung wäre, dass er auf meine Schultern klettert und von dort aus weiter telefoniert. Das möchte ich nicht, also gehe ich weg. Dreißig Meter weiter finde ich bestimmt auch einen gemütlichen Platz, um auf die Bahn zu warten.
Als ich auf dem Bahnsteig ankam sagte die Anzeigetafel, dass die S1 in drei Minuten kommt. Die drei Minuten dauern bereits fünf Minuten und auf der Anzeigetafel hat sich nichts getan. Drei Minuten. Dann kommt die Bahn. Ich bin gespannt.
Ich finde einen neuen Warteplatz auf dem Bahnsteig, viele Meter entfernt vom vermutlichen Rumänen. Ich höre ihn noch aus der Entfernung und trotz des Lärms lautstark in sein Handy bellen. Wahrscheinlich wünscht er nur seinen Kindern eine gute Nacht...
Zu meiner Rechten jetzt statt dem vermutlichem Rumänen das obligatorische Hipsterpärchen im Einheitslook. Angelehnt an die Front eines Kioskes halten sie Händchen und bewegen synchron die Köpfe zur Musik aus den Marken-Kopfhörern. WoodKid sicherlich. Oder CHVRCHES. Oder irgendwas von Audiolith.
Ihre Dutts wippen im Rhythmus. Seiner ist größer.
Zwischen obligatorischen bunten Nike Airs und obligatorisch albern hochgekrempelten skinny Jeans und skinny Jeans-Leggins-Lookalikes blenden mich milchweiße Fußknöchel und mir wird kalt. Wegen der Außentemperatur und der Gesamtsituation, mit der ich unzufrieden bin. Mal im Ernst, wer krempelt sich bei diesem Wetter freiwillig die Hosenbeine hoch und entblößt nackte Haut? Und vor allem: Warum?
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter und erneut suche ich mir einen neuen Warteplatz. Eine Minute noch, dann kommt die Bahn. Sagt die Anzeigetafel.
Seit drei Minuten.
Es dudelt in meinem Kopf. Ich habe einen Ohrwurm und werde fast wahnsinnig, der Akku meines Handys hat sich aber leider kurz nach Oldenburg verabschiedet. Also dudelt seitdem der Ohrwurm weiter und weiter und gleich platzt mir der Schädel und irgendwer muss die Sauerei dann aufwischen.
Auf dem Weg Richtung neuem Warteplatz passiere ich die üblichen Verdächtigen, ohne die diese Stadt nicht die wäre, die sie ist.
Bis zum Exzess zerschminkte Tussis, die auch bei einstelligen Temperaturen immer noch im luftigen Blüschen mit Blumenmuster und kurzem Röckchen im Reeperbahn-Laufhaus-Style bibbernd den vergangenen Sommer zurück wünschen und denen auch ihr sieben Quadratkilometer großer Schal nicht mehr hilft, den sie als Accessoire auch im Hochsommer zum gleichen Outfit durch die Gegend trugen und der an ihnen in etwa so aussieht wie eine überdimensionale Schwimmweste aus Kamelwolle.
Oder Wichtige, die so wichtig sind, dass sie selbst in den drei Minuten Wartezeit auf dem S-Bahnsteig, die inzwischen bald sieben Minuten dauert, noch auf den Monitor des Apfel-Laptop starren und so fixiert sind, dass sie um sich herum gar nichts mehr wahrnehmen. Die bibbernde Brünette könnte Schal und Blumenmusterbluse ausziehen und oben ohne vor dem Wichtigen auf und ab springen. Ich könnte ihm die Schnürsenkel zusammenbinden oder die S-Bahn könnte entgleisen und direkt auf ihn zu schießen. Er würde nichts davon mitbekommen. Rumms, klatsch, splatter. Da zerballert dich eine komplette S-Bahn auf dem Weg gen Bahnhofswand und du hast nichtmal die Titten von der mit dem albernen Schal gesehen. Das Leben ist nicht fair.
Ich habe einen neuen Warteplatz. Mal wieder.
Normale Menschen um mich herum. Endlich. Einer nickt mir sogar freundlich zu, als ich ihm nach einem Nieser Gesundheit wünsche. Eine Minute noch. Dann kommt die Bahn.
Tut sie nicht. Dafür kreuzen wieder Gestalten mein Blickfeld bei deren Anblick ich mich spontan ins niedersächsische Nichts zurück wünsche.
Einer von denen ist mein Reiserucksack im Weg, statt ihm aber auszuweichen versetzt er ihm einen satten Tritt, sodass die zwei mitgebrachten Flaschen guten Weines im Inneren klirrend gegeneinander schlagen und der Rucksack trotz seiner Schwere ein Stück weit über den Bahnsteig rutscht, eine Schneise in den herumliegenden Zigarettenkippen und Kaffeebechern hinterlässt und direkt in einer von Jugendlichen mit schiefsitzenden Basecaps und noch schiefsitzenderer Grammatik produzierten Spuckepfütze liegen bleibt. Bevor ich den Treter in angemessener Weise beschimpfen kann, verschwindet er in der Unmenschenmenge.
Kurz darauf kommt die Bahn dann zu meiner Überraschung doch. Natürlich finde ich keinen Sitzplatz. Natürlich hören Minderjährige ohne vorhandenen Musikgeschmack lautstark deutschen "Rap". Und natürlich redet einer in Jogginghose am Handy was von "Neger" und "...nicht rechts, aber..."
Hamburg. Du selbsternannte "schönste Stadt der Welt". Du "Weltstadt mit Herz".
Da bin ich wieder.
Zuhaus auf dem Dorf war nicht alles schlecht...
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Freitag, 23. Oktober 2015
Home sweet home
Labels: Mitten im Leben, Nahverkehrsgeschichten,
Hamburg hates me/I hate back,
Irrsinn,
Menschen,
Rant
Samstag, 12. September 2015
Riding home to Oberkassel
Es ist eine Nacht auf Freitag gegen 00.40 Uhr am Hauptbahnhof Köln.
Mir steckt ein mehrstündiges Konzert in den Knochen, ich bin verschwitzt, müde, leicht heiser, hungrig, ich friere und möchte nur noch heimfahren. Gern so schnell es eben geht.
Auf dem Abfahrtsplan nichts zu sehen von meinem Reiseziel nördlich von Bonn. Also ab zum Serviceschalter der Deutschen Bahn, der zu meiner Überraschung um diese nachtschlafende Zeit noch immer besetzt ist.
"Guten Abend, ich möchte schnellstmöglich nach Bonn. Oberkassel-Nord. Können Sie mir sagen, welche Bahn mich hinbringt? Oder ob überhaupt noch eine in die Richtung fährt?"
"01.01 Uhr ab Bahnsteig 5."
"Super, vielen Dank!"
Abgang.
Mit knurrendem Magen und zwei frisch erworbenen Käseburgern von der amerikanischen Botschaft auf Bahnsteig 5 angekommen, fällt mir ein: "Scheiße, Fahrkarte!"
Kurz wäge ich ab, schwarzfahren ja, schwarzfahren nein, Pros (einige) und Contras (Karma), dann laufe ich wieder hinunter zu einem Fahrkartenautomaten, deren gibt es im Kölner HBF viele, sehr viele. Zeit bis zur Abfahrt ist noch ein wenig, an Bahnsteig 5 steht eh noch der ICE nach Frankfurt, der seit zehn Minuten unterwegs sein sollte und die Käseburger schmecken notfalls auch kalt. Der Hunger treibt's rein.
Fahrkartenautomat 1: Einzelfahrt Erwachsener, Start Köln HBF, Ziel...mit O sind so einige vorgegeben, Oberhausen, Osnabrück, Olchau (wo zum Henker...?). Oberkassel ist nicht dabei, was mich aber nicht weiter verwundert. Man kann sein Reiseziel ja notfalls auch manuell eingeben und des Tastendrückens bin ich grad noch so eben mächtig.
Hochmotiviert tippe ich auf die O-Taste und auf dem Monitor passiert Erstaunliches. Buchstaben verschwinden wie von Geisterhand, aus irgendeinem Grund finde ich das äußerst amüsant und freue mich darüber. Bis ich bemerke, dass zu den nicht mehr auswählbaren Lettern auch das B zählt. "Oberkassel" kann ich nun also nicht mehr als Reiseziel eingeben. Was suboptimal ist, denn exakt da will ich ja hin.
Ich schweige kurz betreten, dann stehe ich wieder beim Servicepoint auf der Matte.
"Guten Abend nochmal. Ich möchte immer noch nach Oberkassel reisen und - Sie werden mich für verrückt halten - ich möchte dafür sogar eine Fahrkarte kaufen! Um diese Uhrzeit noch! Aus Gründen, die ich selber nicht ganz verstehe. Ich habe nur ein Problem: Der Automat stellt sich quer!"
Die eigentlich recht hübsche Dame am Infoschalter zuckt zusammen als ich sie anspreche und äugt mich mit einem Blick an, der irgendwo zwischen Desinteresse und "Ohje, jetzt hab ich grad gepupst!" liegt.
"Warum?" Sie presst die Frage unwillig zwischen den einwandfrei gebleichten Zähnen hindurch. Ich erläutere knapp mein Problem. "Na wenn ich mein gewünschtes Reiseziel eingeben will, scheitere ich bereits beim zweiten Buchstaben. Sobald ich auf's "O" getippt habe..."O" für "Oberkassel"...verschwindet das "B". Zack, weg ist es. Einfach so. Und ohne "B" komme ich dann irgendwie nicht weiter. Ich gäbe grad einiges für ein "B"!"
Sie schaut. Mich an. "Liegt sicher am Automaten. Programmfehler oder sowas. Probieren Sie einfach einen anderen! Das liegt bestimmt am Betriebssystem!"
"Nein" denke ich, "tut es nicht. Das hat mit dem Betriebssystem so wenig zu tun wie ich mit einem Professorenstuhl in höherer Mathematik oder die Parolen gröhlenden Widerlinge auf den Straßen Freitals und Heidenaus mit Menschlichkeit und Empathie. Eure Fahrkartenautomaten sind Arschlöcher, Mathe ist ein Arschloch und was die "besorgten Bürger" unseres ach so schönen Landes angeht: Da ist "Arschloch" noch deutlichst zu nett formuliert."
Aber ich sage nichts, ich lächle sie an und tue ihr den Gefallen, ich hab ja noch Zeit, die Burger schmecken auch kalt, ich probiere einen weiteren Automaten, dann noch einen, dann einen an der gegenüberliegenden Wand, dann den, vor den vor ein paar Minuten ein Besoffener gereihert hat, der Fladen Erbrochenes dampft noch leicht dank der im Bahnhofsgebäude aufgestauten Tageshitze.
Ich bin guten Willens, ich versuche mein Glück an insgesamt acht Fahrkartenautomaten, allein das Ergebnis bleibt das gleiche.
Try. Fail. Repeat.
Dann habe ich die Faxen dicke und auch nur noch knappe zehn Minuten bis zur Abfahrt Richtung Bett. In Oberkassel.
Dritter Akt am Servicepoint.
"N'Abend, ich wieder! Vollkommen überraschend kann ich auch an keinem anderen der wirklich hübsch anzusehenden Kartenautomaten eine Fahrkarte zu meinem Wunschziel...Na? NA???...richtig, immer noch Oberkassel...lösen. Und ehrlich gesagt hab ich jetzt auch keine Lust mehr. Von Nerven und Zeit mal ganz zu schweigen. Also, Fakten auf den Tisch. Was tun?"
Sie starrt mich aus großen braunen Rehaugen, die tragischerweise recht dämlich aus ihrem hübschen Gesicht glotzen, an und wünscht mir vermutlich grad die Pest an den Hals.
Ich höre die kleinen Rädchen in ihrem Kopf förmlich rattern und klickern während sie gefühlt ein halbes Leben lang durch mich hindurch ins Leere starrt.
Kurz, ganz kurz bevor es lächerlich wird und sie irgendetwas möglichst logisch Klingendes von sich geben muss, entdeckt sie im Augenwinkel Uniformierte und reißt reflexartig den Arm hoch. "Fragen sie doch mal meine Kollegen! Die können sicher weiterhelfen!" Dann greift sie zum Telefonhörer und tut so, als sei es ein wichtiger Anruf. Jeder unterirdischen Laienschauspielertruppe wäre diese Darbietung peinlich, sie aber zieht sie in aller Konsequenz durch.
Vor so wenig Selbstachtung ziehe ich meinen Hut und wende mich mit meinem Anliegen den Uniformierten zu, die mir Miss Information so warm ans Herz gelegt hatte.
Es sind Mitarbeiter einer Security-Firma, die nachts durch den Bahnhof patrouillieren und natürlich nicht den Hauch einer Ahnung von Fahrplänen, Fahrkartenautomaten und dem Streckennetz der Deutschen Bahn haben. Wie die Trulla am Infoschalter quasi, nur in weniger hübsch und in weniger nervtötend.
Ich kriege gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg.
"Fährsse schwatt. Is doch ejal hömma!"
"De Käsburger schmecke ooch kalt. Da schmeckese sogar besser!"
"Fah doch nach Niederkassel un lauf von da! Et kann doch nimmer weit sin dann!"...nein, nur knapp fünfzig Kilometer...
00.59 Uhr. Ich hetze mit entnervtem Blick, neu dazugewonnenen grauen Haaren und einer Papiertüte mit zwei mit Industriekäse, einer millimeterdicken Bulette aus Fleischabfällen und sonstigen zu vernachlässigenden Zutaten belegten erkalteten Schaumgummibrötchen, dafür aber ohne Fahrkarte Treppenstufen hinauf zu Bahnsteig 5, rein in meinen Zug, hinein in eine Sitzreihe, gegenüber einer in den Zwanzigern, Hemd, hellblaue Krawatte, edel aussehendes Sakko, teure Lederslipper, glänzend, frisch poliert, er trägt die Haare zum Seitenscheitel gegelt und gehaarsprayed, vermutlich kann der Frisur selbst eine in direkter Nähe explodierende Handgranate nichts anhaben.
Rakka. 16.47 Uhr. Fliegerbombe. Das Gesicht ist weg. Aber die Frisur sitzt.
Er mustert mich von oben bis unten. Abschätzig. Ich missfalle. Schwarzer Kapu, Cargo-Pants, uralte bemalte Chucks, einen Button an der Hose, auf dem ein Stilisierter einem anderen Stilisierten ins Gesicht tritt, good night white pride in der inzwischen indizierten Version. Meine ziemlich angeschlagene Optik wird ihren Teil zu seinem Misstrauen beitragen.
Ich mache mich auf meinem Sitz breit. Und warte auf jemanden, der meine nicht vorhandene Fahrkarte kontrollieren möchte.
Ungewollt auffällig beobachtet mich dabei der Gelackte von gegenüber, seine natürlich absolut zufälligen Blicke kitzeln jedes Mal ein bisschen im Nacken, wenn ich ihm eben den Rücken zuwende. Und sobald ich auch nur ansatzweise in seine Richtung schielen kann, versteckt er sich hinter seiner Zeitung und tut, als sei er gar nicht da.
Während sich die zu hellen Deckenleuchten im polierten Kunstleder seiner Slipper und in seinem Gelhelm spiegeln und ich noch überlege, wie albern das auf einer Skala von eins bis zehn aussieht, betritt die Zugbegleiterin den Waggon.
Natürlich. Das musste so kommen. Auf der einen von x-hundert Fahrten, für die man grad mal kein gültiges Ticket hat, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen. Weil sie sowas aus zwölf Kilometern Entfernung gegen den Wind wittern wie Schmeißfliegen den frisch gesetzten Kuhfladen.
"Guten Abend, ihre Fahrkarte bitte!". Sie lächelt mich erwartungsvoll an. Ich lächele so charmant wie in meinem Zustand eben noch möglich zurück. Und der Schmierlapp im Abteil gegenüber grinst vorfreudig über den Rand seiner Zeitung. Denn dass ich keine gültige Fahrkarte besitze, ist ihm klar. Das hat er Millisekunden, nachdem er mich zum ersten Mal gesehen hat, gewusst. Der durchgerockte Asi? Fahrkarte? Im Leben nicht.
Jetzt muss improvisiert werden. "Klären Sie das einfach im Zug!" hatte mir der Komplettausfall am Infoschalter noch mit auf den Weg gegeben, bevor erneut ein "wichtiger Anruf" ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
"Ihnen auch einen guten Abend! Tja,Fahrkarte, wo fange ich bloß an? Sagen Sie, könnten Sie den Ort "Oberkassel" ohne den Buchstaben B schreiben?" Die Zugbegleiterin schaut erst irritiert, dann wissend.
"Richtig, ich habe kein Ticket. Eine unglückliche Verkettung von Umständen. Elektronische Fahrkartenautomatenmängel, optisch ansehnliche aber in der Praxis vollkommen wertlose Service-Point-Mitarbeiterinnen - wie löblich übrigens, dass der um diese Uhrzeit noch besetzt ist! Da wo ich herkomme, da..."
"Das macht dann sechzig Euro." stellt sie trocken aber nicht unfreundlich fest und das ist mein Startsignal.
In meinen Jahren in NRW habe ich gelernt: Reden hilft. Viel Reden hilft viel. Am besten ohne Punkt, Komma und jeglichen unnötigen Atemzug. Immer druff!
Ich erzähle von der stressigen Anreise in der Bullenhitze und davon, wie ich die Konzert-Location zunächst nicht gefunden habe, ich erwähne den schlecht tätowierten Muskelberg, der mir während des Konzerts auf den Fuß trat und mir zeitgleich sein Bier übers Shirt kippte, ich lobe die Preise des VRS und des KVB und halte ihr die entsprechenden Fahrkarten meiner nachmittäglichen Anreise (die ich vorher aus den Untiefen meines Rucksackes gefischt habe) unter die Nase, "Schauen Sie, selbst für die paar Stationen S-Bahn hab ich bezahlt, das tu ich auch nicht immer, das können Sie mir glauben, kontrolliert ja eh so gut wie nie wer! Aber Sie kontrollieren hier um diese Uhrzeit noch, gut finde ich das, sehr gut, wird doch sicher auch nicht sooo toll bezahlt, dass Sie sich hier die Nacht um die Ohren schlagen in fast leeren Zügen, außer mir und dem da (Kopfnicken Richtung Gelfrisur) ist ja kaum wer hier, also für mich wär das ja nichts, Mann Mann Mann."
Einen Mitleid erheischenden Hinweis auf schmerzende Füße und eine zur Absicherung hinterher geschobene interessierte Nachfrage nach der aktuellen Form des EffZeh Köln (das funktioniert erfahrungsgemäß im Kölner Umland in neun von zehn Fällen in jeder Lebenssituation und öffnet so gut wie jede Tür) habe ich gewonnen.
Sie ist zermürbt. Weich gekocht. Oder schlicht durch mein Gelaber so durcheinander, dass sie nichts mehr möchte, als mich endlich loszuwerden.
"Und Sie steigen ganz sicher in Oberkassel aus?" - "Aber sowas von! Da freu ich mich schon die ganze Zeit drauf!"
Mit dem Hinweis, sie würde nochmal beide Augen zudrücken und beim nächsten Mal müsse ich aber zahlen, wendet sie sich dem Schlipsträger zu, der mich seit knapp drei Minuten anstarrt wie einen Außerirdischen.
So sehr hatte er sich darauf gefreut, wie ich hochgenommen werde, wahrscheinlich so sehr, dass er schon einen kleinen nassen Fleck im Schlüpfer hatte - und jetzt das.
Ich lehne mich entspannt auf meinem Sitz zurück. Zehn Minuten noch bis Bonn-Oberkassel.
Ich grinse mein gegeltes Gegenüber breit an und für einen Moment, in dem das Licht richtig auf ihn fällt, spiegele ich mich in seiner Tolle. Zumindest sieht es fast so aus.
"Nächster Halt: Oberkassel-Nord"
Zischend öffnet sich die Tür des Waggons und nachdem ich meinem weiterreisenden Freund noch ein Mal freundlich zugewunken habe, springe ich auf den dunklen Bahnsteig.
Ein paar Minuten Fußweg noch durch dunkle menschenleere Vorstadtstraßen und ich bin zuhaus.
Was für ein toller Tag.
Mir steckt ein mehrstündiges Konzert in den Knochen, ich bin verschwitzt, müde, leicht heiser, hungrig, ich friere und möchte nur noch heimfahren. Gern so schnell es eben geht.
Auf dem Abfahrtsplan nichts zu sehen von meinem Reiseziel nördlich von Bonn. Also ab zum Serviceschalter der Deutschen Bahn, der zu meiner Überraschung um diese nachtschlafende Zeit noch immer besetzt ist.
"Guten Abend, ich möchte schnellstmöglich nach Bonn. Oberkassel-Nord. Können Sie mir sagen, welche Bahn mich hinbringt? Oder ob überhaupt noch eine in die Richtung fährt?"
"01.01 Uhr ab Bahnsteig 5."
"Super, vielen Dank!"
Abgang.
Mit knurrendem Magen und zwei frisch erworbenen Käseburgern von der amerikanischen Botschaft auf Bahnsteig 5 angekommen, fällt mir ein: "Scheiße, Fahrkarte!"
Kurz wäge ich ab, schwarzfahren ja, schwarzfahren nein, Pros (einige) und Contras (Karma), dann laufe ich wieder hinunter zu einem Fahrkartenautomaten, deren gibt es im Kölner HBF viele, sehr viele. Zeit bis zur Abfahrt ist noch ein wenig, an Bahnsteig 5 steht eh noch der ICE nach Frankfurt, der seit zehn Minuten unterwegs sein sollte und die Käseburger schmecken notfalls auch kalt. Der Hunger treibt's rein.
Fahrkartenautomat 1: Einzelfahrt Erwachsener, Start Köln HBF, Ziel...mit O sind so einige vorgegeben, Oberhausen, Osnabrück, Olchau (wo zum Henker...?). Oberkassel ist nicht dabei, was mich aber nicht weiter verwundert. Man kann sein Reiseziel ja notfalls auch manuell eingeben und des Tastendrückens bin ich grad noch so eben mächtig.
Hochmotiviert tippe ich auf die O-Taste und auf dem Monitor passiert Erstaunliches. Buchstaben verschwinden wie von Geisterhand, aus irgendeinem Grund finde ich das äußerst amüsant und freue mich darüber. Bis ich bemerke, dass zu den nicht mehr auswählbaren Lettern auch das B zählt. "Oberkassel" kann ich nun also nicht mehr als Reiseziel eingeben. Was suboptimal ist, denn exakt da will ich ja hin.
Ich schweige kurz betreten, dann stehe ich wieder beim Servicepoint auf der Matte.
"Guten Abend nochmal. Ich möchte immer noch nach Oberkassel reisen und - Sie werden mich für verrückt halten - ich möchte dafür sogar eine Fahrkarte kaufen! Um diese Uhrzeit noch! Aus Gründen, die ich selber nicht ganz verstehe. Ich habe nur ein Problem: Der Automat stellt sich quer!"
Die eigentlich recht hübsche Dame am Infoschalter zuckt zusammen als ich sie anspreche und äugt mich mit einem Blick an, der irgendwo zwischen Desinteresse und "Ohje, jetzt hab ich grad gepupst!" liegt.
"Warum?" Sie presst die Frage unwillig zwischen den einwandfrei gebleichten Zähnen hindurch. Ich erläutere knapp mein Problem. "Na wenn ich mein gewünschtes Reiseziel eingeben will, scheitere ich bereits beim zweiten Buchstaben. Sobald ich auf's "O" getippt habe..."O" für "Oberkassel"...verschwindet das "B". Zack, weg ist es. Einfach so. Und ohne "B" komme ich dann irgendwie nicht weiter. Ich gäbe grad einiges für ein "B"!"
Sie schaut. Mich an. "Liegt sicher am Automaten. Programmfehler oder sowas. Probieren Sie einfach einen anderen! Das liegt bestimmt am Betriebssystem!"
"Nein" denke ich, "tut es nicht. Das hat mit dem Betriebssystem so wenig zu tun wie ich mit einem Professorenstuhl in höherer Mathematik oder die Parolen gröhlenden Widerlinge auf den Straßen Freitals und Heidenaus mit Menschlichkeit und Empathie. Eure Fahrkartenautomaten sind Arschlöcher, Mathe ist ein Arschloch und was die "besorgten Bürger" unseres ach so schönen Landes angeht: Da ist "Arschloch" noch deutlichst zu nett formuliert."
Aber ich sage nichts, ich lächle sie an und tue ihr den Gefallen, ich hab ja noch Zeit, die Burger schmecken auch kalt, ich probiere einen weiteren Automaten, dann noch einen, dann einen an der gegenüberliegenden Wand, dann den, vor den vor ein paar Minuten ein Besoffener gereihert hat, der Fladen Erbrochenes dampft noch leicht dank der im Bahnhofsgebäude aufgestauten Tageshitze.
Ich bin guten Willens, ich versuche mein Glück an insgesamt acht Fahrkartenautomaten, allein das Ergebnis bleibt das gleiche.
Try. Fail. Repeat.
Dann habe ich die Faxen dicke und auch nur noch knappe zehn Minuten bis zur Abfahrt Richtung Bett. In Oberkassel.
Dritter Akt am Servicepoint.
"N'Abend, ich wieder! Vollkommen überraschend kann ich auch an keinem anderen der wirklich hübsch anzusehenden Kartenautomaten eine Fahrkarte zu meinem Wunschziel...Na? NA???...richtig, immer noch Oberkassel...lösen. Und ehrlich gesagt hab ich jetzt auch keine Lust mehr. Von Nerven und Zeit mal ganz zu schweigen. Also, Fakten auf den Tisch. Was tun?"
Sie starrt mich aus großen braunen Rehaugen, die tragischerweise recht dämlich aus ihrem hübschen Gesicht glotzen, an und wünscht mir vermutlich grad die Pest an den Hals.
Ich höre die kleinen Rädchen in ihrem Kopf förmlich rattern und klickern während sie gefühlt ein halbes Leben lang durch mich hindurch ins Leere starrt.
Kurz, ganz kurz bevor es lächerlich wird und sie irgendetwas möglichst logisch Klingendes von sich geben muss, entdeckt sie im Augenwinkel Uniformierte und reißt reflexartig den Arm hoch. "Fragen sie doch mal meine Kollegen! Die können sicher weiterhelfen!" Dann greift sie zum Telefonhörer und tut so, als sei es ein wichtiger Anruf. Jeder unterirdischen Laienschauspielertruppe wäre diese Darbietung peinlich, sie aber zieht sie in aller Konsequenz durch.
Vor so wenig Selbstachtung ziehe ich meinen Hut und wende mich mit meinem Anliegen den Uniformierten zu, die mir Miss Information so warm ans Herz gelegt hatte.
Es sind Mitarbeiter einer Security-Firma, die nachts durch den Bahnhof patrouillieren und natürlich nicht den Hauch einer Ahnung von Fahrplänen, Fahrkartenautomaten und dem Streckennetz der Deutschen Bahn haben. Wie die Trulla am Infoschalter quasi, nur in weniger hübsch und in weniger nervtötend.
Ich kriege gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg.
"Fährsse schwatt. Is doch ejal hömma!"
"De Käsburger schmecke ooch kalt. Da schmeckese sogar besser!"
"Fah doch nach Niederkassel un lauf von da! Et kann doch nimmer weit sin dann!"...nein, nur knapp fünfzig Kilometer...
00.59 Uhr. Ich hetze mit entnervtem Blick, neu dazugewonnenen grauen Haaren und einer Papiertüte mit zwei mit Industriekäse, einer millimeterdicken Bulette aus Fleischabfällen und sonstigen zu vernachlässigenden Zutaten belegten erkalteten Schaumgummibrötchen, dafür aber ohne Fahrkarte Treppenstufen hinauf zu Bahnsteig 5, rein in meinen Zug, hinein in eine Sitzreihe, gegenüber einer in den Zwanzigern, Hemd, hellblaue Krawatte, edel aussehendes Sakko, teure Lederslipper, glänzend, frisch poliert, er trägt die Haare zum Seitenscheitel gegelt und gehaarsprayed, vermutlich kann der Frisur selbst eine in direkter Nähe explodierende Handgranate nichts anhaben.
Rakka. 16.47 Uhr. Fliegerbombe. Das Gesicht ist weg. Aber die Frisur sitzt.
Er mustert mich von oben bis unten. Abschätzig. Ich missfalle. Schwarzer Kapu, Cargo-Pants, uralte bemalte Chucks, einen Button an der Hose, auf dem ein Stilisierter einem anderen Stilisierten ins Gesicht tritt, good night white pride in der inzwischen indizierten Version. Meine ziemlich angeschlagene Optik wird ihren Teil zu seinem Misstrauen beitragen.
Ich mache mich auf meinem Sitz breit. Und warte auf jemanden, der meine nicht vorhandene Fahrkarte kontrollieren möchte.
Ungewollt auffällig beobachtet mich dabei der Gelackte von gegenüber, seine natürlich absolut zufälligen Blicke kitzeln jedes Mal ein bisschen im Nacken, wenn ich ihm eben den Rücken zuwende. Und sobald ich auch nur ansatzweise in seine Richtung schielen kann, versteckt er sich hinter seiner Zeitung und tut, als sei er gar nicht da.
Während sich die zu hellen Deckenleuchten im polierten Kunstleder seiner Slipper und in seinem Gelhelm spiegeln und ich noch überlege, wie albern das auf einer Skala von eins bis zehn aussieht, betritt die Zugbegleiterin den Waggon.
Natürlich. Das musste so kommen. Auf der einen von x-hundert Fahrten, für die man grad mal kein gültiges Ticket hat, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen. Weil sie sowas aus zwölf Kilometern Entfernung gegen den Wind wittern wie Schmeißfliegen den frisch gesetzten Kuhfladen.
"Guten Abend, ihre Fahrkarte bitte!". Sie lächelt mich erwartungsvoll an. Ich lächele so charmant wie in meinem Zustand eben noch möglich zurück. Und der Schmierlapp im Abteil gegenüber grinst vorfreudig über den Rand seiner Zeitung. Denn dass ich keine gültige Fahrkarte besitze, ist ihm klar. Das hat er Millisekunden, nachdem er mich zum ersten Mal gesehen hat, gewusst. Der durchgerockte Asi? Fahrkarte? Im Leben nicht.
Jetzt muss improvisiert werden. "Klären Sie das einfach im Zug!" hatte mir der Komplettausfall am Infoschalter noch mit auf den Weg gegeben, bevor erneut ein "wichtiger Anruf" ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
"Ihnen auch einen guten Abend! Tja,Fahrkarte, wo fange ich bloß an? Sagen Sie, könnten Sie den Ort "Oberkassel" ohne den Buchstaben B schreiben?" Die Zugbegleiterin schaut erst irritiert, dann wissend.
"Richtig, ich habe kein Ticket. Eine unglückliche Verkettung von Umständen. Elektronische Fahrkartenautomatenmängel, optisch ansehnliche aber in der Praxis vollkommen wertlose Service-Point-Mitarbeiterinnen - wie löblich übrigens, dass der um diese Uhrzeit noch besetzt ist! Da wo ich herkomme, da..."
"Das macht dann sechzig Euro." stellt sie trocken aber nicht unfreundlich fest und das ist mein Startsignal.
In meinen Jahren in NRW habe ich gelernt: Reden hilft. Viel Reden hilft viel. Am besten ohne Punkt, Komma und jeglichen unnötigen Atemzug. Immer druff!
Ich erzähle von der stressigen Anreise in der Bullenhitze und davon, wie ich die Konzert-Location zunächst nicht gefunden habe, ich erwähne den schlecht tätowierten Muskelberg, der mir während des Konzerts auf den Fuß trat und mir zeitgleich sein Bier übers Shirt kippte, ich lobe die Preise des VRS und des KVB und halte ihr die entsprechenden Fahrkarten meiner nachmittäglichen Anreise (die ich vorher aus den Untiefen meines Rucksackes gefischt habe) unter die Nase, "Schauen Sie, selbst für die paar Stationen S-Bahn hab ich bezahlt, das tu ich auch nicht immer, das können Sie mir glauben, kontrolliert ja eh so gut wie nie wer! Aber Sie kontrollieren hier um diese Uhrzeit noch, gut finde ich das, sehr gut, wird doch sicher auch nicht sooo toll bezahlt, dass Sie sich hier die Nacht um die Ohren schlagen in fast leeren Zügen, außer mir und dem da (Kopfnicken Richtung Gelfrisur) ist ja kaum wer hier, also für mich wär das ja nichts, Mann Mann Mann."
Einen Mitleid erheischenden Hinweis auf schmerzende Füße und eine zur Absicherung hinterher geschobene interessierte Nachfrage nach der aktuellen Form des EffZeh Köln (das funktioniert erfahrungsgemäß im Kölner Umland in neun von zehn Fällen in jeder Lebenssituation und öffnet so gut wie jede Tür) habe ich gewonnen.
Sie ist zermürbt. Weich gekocht. Oder schlicht durch mein Gelaber so durcheinander, dass sie nichts mehr möchte, als mich endlich loszuwerden.
"Und Sie steigen ganz sicher in Oberkassel aus?" - "Aber sowas von! Da freu ich mich schon die ganze Zeit drauf!"
Mit dem Hinweis, sie würde nochmal beide Augen zudrücken und beim nächsten Mal müsse ich aber zahlen, wendet sie sich dem Schlipsträger zu, der mich seit knapp drei Minuten anstarrt wie einen Außerirdischen.
So sehr hatte er sich darauf gefreut, wie ich hochgenommen werde, wahrscheinlich so sehr, dass er schon einen kleinen nassen Fleck im Schlüpfer hatte - und jetzt das.
Ich lehne mich entspannt auf meinem Sitz zurück. Zehn Minuten noch bis Bonn-Oberkassel.
Ich grinse mein gegeltes Gegenüber breit an und für einen Moment, in dem das Licht richtig auf ihn fällt, spiegele ich mich in seiner Tolle. Zumindest sieht es fast so aus.
"Nächster Halt: Oberkassel-Nord"
Zischend öffnet sich die Tür des Waggons und nachdem ich meinem weiterreisenden Freund noch ein Mal freundlich zugewunken habe, springe ich auf den dunklen Bahnsteig.
Ein paar Minuten Fußweg noch durch dunkle menschenleere Vorstadtstraßen und ich bin zuhaus.
Was für ein toller Tag.
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Donnerstag, 30. Juli 2015
Babo my ass
"Alter, was machst du?" fragt mich F. per WhatsApp.
"Nichts mach ich, was soll ich schon machen, viel zu heiß draußen, Kackwetter, ich häng vorm Fernseher ab. Guck ne Doku. Tiere und so. Grad hat ein Hai ein niedliches Seelöwenbaby erwischt. War ne ziemliche Sauerei. Derbe blutig, sowas willste nicht in den eigenen vier Wänden erleben. Wieso fragst du?"
"Hab Zeug bestellt. Grünes, weißt schon. Der Typ wohnt in deiner Straße und ich kann grad nicht hin und das selbst abholen. Mach du das mal bitte, Kohle geb ich dir nachher! Du kommst ja später am Abend eh noch rum."
Was für eine beschissene Idee. Aber was tut man nicht alles für gute Freunde.
"Ok, sag an. Wo und wieviel?"
"Für n Fuffi. Das Haus mit der grauen Eingangstür, Hausnummer weiß ich nicht. Klingel bei XYZ, der ist bisschen komisch drauf aber an sich ganz ok. Glaub ich." Das klingt ermutigend.
Eine Stunde später stehe ich vor der grauen Haustür und klingele. Zeug abholen, rüber zu F., rauf auf die Couch und PES15 zocken. Vielleicht noch ein oder zwei gekühlte Bier vom Kiosk an der Ecke mitnehmen. Eigentlich ein guter Plan.
"Wer ist da?" fragt es aus der Gegensprechanlage. Die Stimme klingt soweit tatsächlich ganz sympathisch.
"Jo, hier ist Fährlich, ich soll für F. was abholen."
"Alles klar! Zweiter Stock rechts! Komm rein Alter!" dröhnt es aus dem beigen leicht vergilbten Lautsprecher und zeitgleich rasselt der Türöffner.
Das Treppenhaus ist angenehm kühl und im zweiten Stock rechts werde ich bereits an der Wohnungstür erwartet wie ein Pizzabote.
"Hi Mann, komm rein! Ich bin Babo!"
Ich schaue ihn ungläubig an und kann ein Lachen nur schwer unterdrücken. "Babo" nennt er sich. Na denn...
Er hält mir seine Hand hin, die Nägel sind länger nicht mehr geschnitten worden, unter ihnen klebt Dreck. Außerdem ziert ein langer verschorfter Kratzer oder Schnitt seinen Handrücken. Statt seine Hand zu schütteln halte ich ihm meine Faust zum fist bump hin und zu meiner Erleichterung geht er darauf ein.
"Setz dich Alter!" sagt der Babo, der mit verblichener Kapuzenjacke, Schnellfickerhose und umgedrehter Baseball-Cap mit Werbung eines deutschen Sportartikelanbieters irgendwie gar nicht so Babo-mäßig aussieht, wie eher unterdurchschnittlicher deutscher Rap mir das vor nicht allzu langer Zeit vermitteln wollte und ich setze mich eher widerwillig auf ein weißes Ledersofa mit Blick auf eine sicher nicht billige Schrankwand samt integriertem Flatscreen, der mindestens doppelt so breit ist wie meiner, der für einen Normalsterblichen vollkommen ausreicht.
Seine Bude will nicht so ganz mit seiner Optik zusammenpassen.
"Was trinken?" fragt er.
"Danke nein. Ich will nur das Zeug für F. abholen. Hier ist die Kohle. Gib mir doch einfach das Weed und ich bin wieder weg."
Aber so einfach geht das nicht, denn der Typ sucht scheinbar nach neuen Freunden. Oder Kunden.
Das ungewollte Holsten - auch das noch, Holsten! - steht offen vor mir und der Möchtegern-Gangster prostet mir zu.
"Guter Deal wird das Alter!", er hält mir seine Bierflasche hin und ich stoße mit ihm an.
Er nimmt mehrere schnelle tiefe Schlucke und leert seine Flasche direkt mal zur Hälfte. Dabei beobachtet er mich etwas zu gewollt unauffällig, ich kenne das Verhalten, genau so haben es einige meiner ehemaligen Stammkunden in der Wettbutze gemacht, wenn sie mich um Kohle anschnorren wollten, damit sie ihren eigenen letzten Zehner versaufen können, wenn ich sie endlich aus dem Laden herauskomplimentiert hatte. Die gewollt unauffälligen Blicke aus dem Augenwinkel, mit denen sie abzuschätzen versuchen, wann der richtige Zeitpunkt für den Vorstoß gekommen ist, sind immer gleich. Und der oberkrasse Babo im Sessel gegenüber schätzt auch ab. Er hat sich vermutlich schon eine Taktik zurecht gelegt, denn er weiß ja nicht, dass ich solche Situationen seit Jahren kenne und schon hundertfach durch habe.
Er aber macht erstmal auf Smalltalk.
Standardfragen. Und direkt danach mehr Standardfragen.
"Neu in der Stadt? Ich wohn hier seit über nem Jahr aber hab dich noch nie gesehen!"
Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück an die gute alte Zeit vor knapp zehn Minuten, als ich Babo noch nicht kannte. Er interessiert sich weiter.
"Ach was, dreizehn Jahre schon? DAS ist krass Mann." Pause. Sechs Sekunden später. "Und? Weiber? Gibt doch echt viele geile in Hamburg Alter! Fast alle vögelbar! Außer die fetten! Die gehen gar nicht! Oder? Oder?? Oder hast du eine Alter??"
Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück. Die gute alte Zeit. Ohne Babo.
Damals.
Vor jetzt knapp elf Minuten.
"Sag mal Typ...ist ja irgendwie alles soweit nett hier bei dir. Bier und so, deine Couch ist auch echt prima." - Wenn ich eins kann, dann ist es lügen ohne auch nur ansatzweise mit der Wimper zu zucken - "Aber ich bin echt nur hier, um das Zeug für F. abzuholen. Können wir das eventuell mal etwas beschleunigen?"
"Klar Mann!" sagt er und zieht einen zerdellten Schuhkarton unter der Couch hervor auf der ich sitze. "Da ist meine Schatzkiste!", er strahlt über alle vier Backen wie ein Honigkuchenpferd. "Wieviel war's noch? Fuffi?"
Er wühlt im Karton herum, es raschelt und klimpert und mich erinnert die Situation irgendwie an das überhastete Auspacken eines Weihnachtsgeschenkes. Ich verdränge den irritierenden Gedanken schnellstmöglich und stürze das übrige inzwischen leicht abgestandene Restbier hinunter, während ich auf ein Ergebnis seiner unkontrollierten Suchaktion warte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit von einer halben Minute taucht der mützenbedeckelte Kopf wieder aus den Untiefen des Schuhkartons auf, "Na endlich, hier isses ja!" und er wirft mir einen randvollen Gefrierbeutel mit Gras zu, den ich gerade noch fangen kann, bevor er mitten in meinem Gesicht landet und der zum Glück während des Fluges über den Tisch verschlossen bleibt anstatt seinen Inhalt quer durch den Raum und über mich zu verteilen, worüber ich sehr dankbar bin. Der Geruch hängt ewig in den Klamotten...
"Gutes Zeug! Echt jetzt!" Babo nickt heftig. Was soll er auch sonst sagen? "Willste testen? Oder nachwiegen? Waage steht inner Küche, kann ich holen! Echt guuutes Zeug Alter!" Der geborene Verkäufer, ich verzichte trotzdem dankend auf beides.
"Danke, lass mal, erstens seh ich ja, dass die Menge passt und zweitens hab ich das Zeug seit sicher zehn Jahren nicht mehr angerührt, weil's mich eh nur derbe müde macht. Und das werd ich früher oder später von ganz allein. Verblüffend aber wahr! Hier, deine Kohle!"
Ich lege ihm den Schein auf den Tisch und will aufstehen und gehen. Eine nett formulierte aber nicht wirklich so gemeinte Verabschiedungsfloskel und raus, rüber auf die nächste Ledercouch vor den nächsten unsinnig riesigen Flatscreen und endlich den Controller in die Hand. In Gedanken gehe ich bereits seit Minuten die Startaufstellung für das anstehende Halbfinale gegen Juventus durch. Belotti in den Sturm? Oder doch lieber den Torres obwohl der nicht bei hundert Prozent ist? Schlecht trainiert hatte er die Woche über, muskuläre Probleme. Sagte der programmierte Assistenztrainer. Oder einfach beide von Anfang an und dafür Flügelflitzer Koné auf die Bank? Fragen über Fragen.
Aufstehen in drei, zwei, eins... "Wie, kiffen macht dich ausschließlich müde? Kein gechilltes Feeling? Keine Filme??" Babo schaut vollkommen perplex.
"Nein und nein. Keine geschobenen Filme. Und ganz sicher kein gechilltes Feeling, ich "chille" schon aus Prinzip nicht, wenn überhaupt entspann ich mich und selbst das kommt selten vor. Alter, ich muss jetzt auch..."
"...echt mal los, F. wartet auf mich!" hätte ich noch sagen wollen, aber dazu komme ich nicht.
"Aaaaalter, dass kann doch gar nicht angehen! Guck mal Mann, ist doch sicher was dabei hier für dich in meiner Schatzkiste!"
Er hält mir den Karton unter die Nase und ich kann gar nicht anders, als hineinzuschauen. Es hat was von früher im Bonbonladen, nur dass ich nicht überlege, was ich mir für meine 25 Pfennig von der Oma für Süßigkeiten kaufen werde, sondern welches von dem Zeug in dem verschissenen Schuhkarton mich wohl am schnellsten zum Zombie machen wird.
Die Beutelchen voller abgezählter Ecstasypillen in verschiedenen Farben? Die vorportionierten Haschplatten? Das Koks? Wohl eher das Zeug in den kleinen Ampullen mit dem so eindeutigen "H" darauf. Oder das etwas gröbere flockige Stöffchen, von dem ich vermute, dass das Chrystal ist.
Der Typ hat alles. Alles. Und bewahrt es in einem Scheiß-Schuhkarton unter seinem scheiß-weißen Ledersofa auf. Und sitzt mir in Schnellfickerhose und ranziger Basecap gegenüber, grinst mich schief an, macht auf dicker Kumpel und will mich eigentlich nur als Neukunden gewinnen.
"Komm, pack weg, das ist mir alles egal. Ich steh nicht auf den ganzen Mist. Und um ehrlich zu sein mag ich dich nicht. Gar nicht. Deal ist durch, danke für's Bier und sollten wir uns mal zufällig auf der Straße begegnen, dann kennen wir uns nicht. Ist das angekommen?"
Auf dem Weg zur Wohnungstür bin ich selbst überrascht ob meiner direkten Ansage und Babo schaut jetzt etwas irritiert aus der Wäsche.
Als ich schon ein paar Treppen hinunter gestiegen bin, startet er einen letzten Versuch.
"Alter, am Wochenende ist ein derbes Goa-Festival und ich kann wen mitnehmen für lau! Da kannst du endlich mal wieder eine unter zwanzig vögeln! Kein Scheiß!!"
Habe kurz innegehalten und überlegt, wieder hochzugehen und ihm die Nase zu brechen. Die Vernunft hat schlussendlich gesiegt.
Später bei F. gibt es sein Bier für mich und Babo's Zeug für F., eine happige Halbfinalpleite für Juventus und einen Dreierpack für Torres. Der Mann knipst selbst dann, wenn er nicht komplett fit ist. Chapeau!
"Nichts mach ich, was soll ich schon machen, viel zu heiß draußen, Kackwetter, ich häng vorm Fernseher ab. Guck ne Doku. Tiere und so. Grad hat ein Hai ein niedliches Seelöwenbaby erwischt. War ne ziemliche Sauerei. Derbe blutig, sowas willste nicht in den eigenen vier Wänden erleben. Wieso fragst du?"
"Hab Zeug bestellt. Grünes, weißt schon. Der Typ wohnt in deiner Straße und ich kann grad nicht hin und das selbst abholen. Mach du das mal bitte, Kohle geb ich dir nachher! Du kommst ja später am Abend eh noch rum."
Was für eine beschissene Idee. Aber was tut man nicht alles für gute Freunde.
"Ok, sag an. Wo und wieviel?"
"Für n Fuffi. Das Haus mit der grauen Eingangstür, Hausnummer weiß ich nicht. Klingel bei XYZ, der ist bisschen komisch drauf aber an sich ganz ok. Glaub ich." Das klingt ermutigend.
Eine Stunde später stehe ich vor der grauen Haustür und klingele. Zeug abholen, rüber zu F., rauf auf die Couch und PES15 zocken. Vielleicht noch ein oder zwei gekühlte Bier vom Kiosk an der Ecke mitnehmen. Eigentlich ein guter Plan.
"Wer ist da?" fragt es aus der Gegensprechanlage. Die Stimme klingt soweit tatsächlich ganz sympathisch.
"Jo, hier ist Fährlich, ich soll für F. was abholen."
"Alles klar! Zweiter Stock rechts! Komm rein Alter!" dröhnt es aus dem beigen leicht vergilbten Lautsprecher und zeitgleich rasselt der Türöffner.
Das Treppenhaus ist angenehm kühl und im zweiten Stock rechts werde ich bereits an der Wohnungstür erwartet wie ein Pizzabote.
"Hi Mann, komm rein! Ich bin Babo!"
Ich schaue ihn ungläubig an und kann ein Lachen nur schwer unterdrücken. "Babo" nennt er sich. Na denn...
Er hält mir seine Hand hin, die Nägel sind länger nicht mehr geschnitten worden, unter ihnen klebt Dreck. Außerdem ziert ein langer verschorfter Kratzer oder Schnitt seinen Handrücken. Statt seine Hand zu schütteln halte ich ihm meine Faust zum fist bump hin und zu meiner Erleichterung geht er darauf ein.
"Setz dich Alter!" sagt der Babo, der mit verblichener Kapuzenjacke, Schnellfickerhose und umgedrehter Baseball-Cap mit Werbung eines deutschen Sportartikelanbieters irgendwie gar nicht so Babo-mäßig aussieht, wie eher unterdurchschnittlicher deutscher Rap mir das vor nicht allzu langer Zeit vermitteln wollte und ich setze mich eher widerwillig auf ein weißes Ledersofa mit Blick auf eine sicher nicht billige Schrankwand samt integriertem Flatscreen, der mindestens doppelt so breit ist wie meiner, der für einen Normalsterblichen vollkommen ausreicht.
Seine Bude will nicht so ganz mit seiner Optik zusammenpassen.
"Was trinken?" fragt er.
"Danke nein. Ich will nur das Zeug für F. abholen. Hier ist die Kohle. Gib mir doch einfach das Weed und ich bin wieder weg."
Aber so einfach geht das nicht, denn der Typ sucht scheinbar nach neuen Freunden. Oder Kunden.
Das ungewollte Holsten - auch das noch, Holsten! - steht offen vor mir und der Möchtegern-Gangster prostet mir zu.
"Guter Deal wird das Alter!", er hält mir seine Bierflasche hin und ich stoße mit ihm an.
Er nimmt mehrere schnelle tiefe Schlucke und leert seine Flasche direkt mal zur Hälfte. Dabei beobachtet er mich etwas zu gewollt unauffällig, ich kenne das Verhalten, genau so haben es einige meiner ehemaligen Stammkunden in der Wettbutze gemacht, wenn sie mich um Kohle anschnorren wollten, damit sie ihren eigenen letzten Zehner versaufen können, wenn ich sie endlich aus dem Laden herauskomplimentiert hatte. Die gewollt unauffälligen Blicke aus dem Augenwinkel, mit denen sie abzuschätzen versuchen, wann der richtige Zeitpunkt für den Vorstoß gekommen ist, sind immer gleich. Und der oberkrasse Babo im Sessel gegenüber schätzt auch ab. Er hat sich vermutlich schon eine Taktik zurecht gelegt, denn er weiß ja nicht, dass ich solche Situationen seit Jahren kenne und schon hundertfach durch habe.
Er aber macht erstmal auf Smalltalk.
Standardfragen. Und direkt danach mehr Standardfragen.
"Neu in der Stadt? Ich wohn hier seit über nem Jahr aber hab dich noch nie gesehen!"
Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück an die gute alte Zeit vor knapp zehn Minuten, als ich Babo noch nicht kannte. Er interessiert sich weiter.
"Ach was, dreizehn Jahre schon? DAS ist krass Mann." Pause. Sechs Sekunden später. "Und? Weiber? Gibt doch echt viele geile in Hamburg Alter! Fast alle vögelbar! Außer die fetten! Die gehen gar nicht! Oder? Oder?? Oder hast du eine Alter??"
Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück. Die gute alte Zeit. Ohne Babo.
Damals.
Vor jetzt knapp elf Minuten.
"Sag mal Typ...ist ja irgendwie alles soweit nett hier bei dir. Bier und so, deine Couch ist auch echt prima." - Wenn ich eins kann, dann ist es lügen ohne auch nur ansatzweise mit der Wimper zu zucken - "Aber ich bin echt nur hier, um das Zeug für F. abzuholen. Können wir das eventuell mal etwas beschleunigen?"
"Klar Mann!" sagt er und zieht einen zerdellten Schuhkarton unter der Couch hervor auf der ich sitze. "Da ist meine Schatzkiste!", er strahlt über alle vier Backen wie ein Honigkuchenpferd. "Wieviel war's noch? Fuffi?"
Er wühlt im Karton herum, es raschelt und klimpert und mich erinnert die Situation irgendwie an das überhastete Auspacken eines Weihnachtsgeschenkes. Ich verdränge den irritierenden Gedanken schnellstmöglich und stürze das übrige inzwischen leicht abgestandene Restbier hinunter, während ich auf ein Ergebnis seiner unkontrollierten Suchaktion warte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit von einer halben Minute taucht der mützenbedeckelte Kopf wieder aus den Untiefen des Schuhkartons auf, "Na endlich, hier isses ja!" und er wirft mir einen randvollen Gefrierbeutel mit Gras zu, den ich gerade noch fangen kann, bevor er mitten in meinem Gesicht landet und der zum Glück während des Fluges über den Tisch verschlossen bleibt anstatt seinen Inhalt quer durch den Raum und über mich zu verteilen, worüber ich sehr dankbar bin. Der Geruch hängt ewig in den Klamotten...
"Gutes Zeug! Echt jetzt!" Babo nickt heftig. Was soll er auch sonst sagen? "Willste testen? Oder nachwiegen? Waage steht inner Küche, kann ich holen! Echt guuutes Zeug Alter!" Der geborene Verkäufer, ich verzichte trotzdem dankend auf beides.
"Danke, lass mal, erstens seh ich ja, dass die Menge passt und zweitens hab ich das Zeug seit sicher zehn Jahren nicht mehr angerührt, weil's mich eh nur derbe müde macht. Und das werd ich früher oder später von ganz allein. Verblüffend aber wahr! Hier, deine Kohle!"
Ich lege ihm den Schein auf den Tisch und will aufstehen und gehen. Eine nett formulierte aber nicht wirklich so gemeinte Verabschiedungsfloskel und raus, rüber auf die nächste Ledercouch vor den nächsten unsinnig riesigen Flatscreen und endlich den Controller in die Hand. In Gedanken gehe ich bereits seit Minuten die Startaufstellung für das anstehende Halbfinale gegen Juventus durch. Belotti in den Sturm? Oder doch lieber den Torres obwohl der nicht bei hundert Prozent ist? Schlecht trainiert hatte er die Woche über, muskuläre Probleme. Sagte der programmierte Assistenztrainer. Oder einfach beide von Anfang an und dafür Flügelflitzer Koné auf die Bank? Fragen über Fragen.
Aufstehen in drei, zwei, eins... "Wie, kiffen macht dich ausschließlich müde? Kein gechilltes Feeling? Keine Filme??" Babo schaut vollkommen perplex.
"Nein und nein. Keine geschobenen Filme. Und ganz sicher kein gechilltes Feeling, ich "chille" schon aus Prinzip nicht, wenn überhaupt entspann ich mich und selbst das kommt selten vor. Alter, ich muss jetzt auch..."
"...echt mal los, F. wartet auf mich!" hätte ich noch sagen wollen, aber dazu komme ich nicht.
"Aaaaalter, dass kann doch gar nicht angehen! Guck mal Mann, ist doch sicher was dabei hier für dich in meiner Schatzkiste!"
Er hält mir den Karton unter die Nase und ich kann gar nicht anders, als hineinzuschauen. Es hat was von früher im Bonbonladen, nur dass ich nicht überlege, was ich mir für meine 25 Pfennig von der Oma für Süßigkeiten kaufen werde, sondern welches von dem Zeug in dem verschissenen Schuhkarton mich wohl am schnellsten zum Zombie machen wird.
Die Beutelchen voller abgezählter Ecstasypillen in verschiedenen Farben? Die vorportionierten Haschplatten? Das Koks? Wohl eher das Zeug in den kleinen Ampullen mit dem so eindeutigen "H" darauf. Oder das etwas gröbere flockige Stöffchen, von dem ich vermute, dass das Chrystal ist.
Der Typ hat alles. Alles. Und bewahrt es in einem Scheiß-Schuhkarton unter seinem scheiß-weißen Ledersofa auf. Und sitzt mir in Schnellfickerhose und ranziger Basecap gegenüber, grinst mich schief an, macht auf dicker Kumpel und will mich eigentlich nur als Neukunden gewinnen.
"Komm, pack weg, das ist mir alles egal. Ich steh nicht auf den ganzen Mist. Und um ehrlich zu sein mag ich dich nicht. Gar nicht. Deal ist durch, danke für's Bier und sollten wir uns mal zufällig auf der Straße begegnen, dann kennen wir uns nicht. Ist das angekommen?"
Auf dem Weg zur Wohnungstür bin ich selbst überrascht ob meiner direkten Ansage und Babo schaut jetzt etwas irritiert aus der Wäsche.
Als ich schon ein paar Treppen hinunter gestiegen bin, startet er einen letzten Versuch.
"Alter, am Wochenende ist ein derbes Goa-Festival und ich kann wen mitnehmen für lau! Da kannst du endlich mal wieder eine unter zwanzig vögeln! Kein Scheiß!!"
Habe kurz innegehalten und überlegt, wieder hochzugehen und ihm die Nase zu brechen. Die Vernunft hat schlussendlich gesiegt.
Später bei F. gibt es sein Bier für mich und Babo's Zeug für F., eine happige Halbfinalpleite für Juventus und einen Dreierpack für Torres. Der Mann knipst selbst dann, wenn er nicht komplett fit ist. Chapeau!
Dienstag, 14. April 2015
Mitgehört (6): Punx not dead
Auf dem Gehweg an der Reeperbahn hat es sich eine Gruppe Punks bequem gemacht.
Sie sitzen oder liegen entspannt herum, ab und an wird an der Billigbierdose genippt oder mal ganz beiläufig ein Vorbeilaufender angeschnorrt.
Man muss entweder - wenn grad kein Auto kommt - auf die Fahrbahn ausweichen und läuft so außen um die Gruppe herum oder man läuft mitten hindurch und umkurvt die herumchillenden möglichst elegant wie Slalomstangen.
Ein Bodybuildertyp in klischeehafter Klamotte, die ihm fast vom Körper platzt, hat darauf keine Lust. Er pflügt einfach durch die Gruppe hindurch, seine solariensonnensüchtige Freundin hat er dabei fest im Griff und zerrt sie hinter sich her.
Während er eine Schneise durch die Herumsitzenden schlägt, tritt er wohl im Vorbeilaufen einem von ihnen mehr oder weniger versehentlich gegen das Bein und sein Opfer, ein junger Typ von vielleicht sechzehn Jahren mit grüngefärbtem Iro und SLIME-Shirt windet sich daraufhin so theatralisch auf dem Boden wie Pippo Inzaghi es seinerzeit regelmäßig und mit viel Erfolg im Strafraum des jeweiligen Gegners tat.
"Eyh, das war Absicht! Bleib stehen!" ruft er dem Übeltäter mit weinerlicher Stimme hinterher und er schaut tatsächlich, als wolle er gleich losheulen.
"Bleib stehen oder ich ruf die Polizei!"
"Geht nicht!" ruft ihn sein maximal ein Jahr älterer schlecht blondierter Kumpel zur Raisson. "Du kannst nicht die Polizei rufen, wir sind Punks, wir hassen die Polizei. Und die hassen uns! Das weißt du doch!"
Darauf überlegt der Iro-Träger kurz und zuckt dann entschuldigend mit den Schultern.
"Ja, Scheiße, hast Recht. Das vergesse ich immer. Du bist halt schon länger Punk als ich, das merkt man voll!"
Sie sitzen oder liegen entspannt herum, ab und an wird an der Billigbierdose genippt oder mal ganz beiläufig ein Vorbeilaufender angeschnorrt.
Man muss entweder - wenn grad kein Auto kommt - auf die Fahrbahn ausweichen und läuft so außen um die Gruppe herum oder man läuft mitten hindurch und umkurvt die herumchillenden möglichst elegant wie Slalomstangen.
Ein Bodybuildertyp in klischeehafter Klamotte, die ihm fast vom Körper platzt, hat darauf keine Lust. Er pflügt einfach durch die Gruppe hindurch, seine solariensonnensüchtige Freundin hat er dabei fest im Griff und zerrt sie hinter sich her.
Während er eine Schneise durch die Herumsitzenden schlägt, tritt er wohl im Vorbeilaufen einem von ihnen mehr oder weniger versehentlich gegen das Bein und sein Opfer, ein junger Typ von vielleicht sechzehn Jahren mit grüngefärbtem Iro und SLIME-Shirt windet sich daraufhin so theatralisch auf dem Boden wie Pippo Inzaghi es seinerzeit regelmäßig und mit viel Erfolg im Strafraum des jeweiligen Gegners tat.
"Eyh, das war Absicht! Bleib stehen!" ruft er dem Übeltäter mit weinerlicher Stimme hinterher und er schaut tatsächlich, als wolle er gleich losheulen.
"Bleib stehen oder ich ruf die Polizei!"
"Geht nicht!" ruft ihn sein maximal ein Jahr älterer schlecht blondierter Kumpel zur Raisson. "Du kannst nicht die Polizei rufen, wir sind Punks, wir hassen die Polizei. Und die hassen uns! Das weißt du doch!"
Darauf überlegt der Iro-Träger kurz und zuckt dann entschuldigend mit den Schultern.
"Ja, Scheiße, hast Recht. Das vergesse ich immer. Du bist halt schon länger Punk als ich, das merkt man voll!"
Freitag, 20. März 2015
Finster
Typisch Hamburger Schietwetter: Kaum ist Frühling, schon ist die Sonne weg.
Was mir als ausgesprochenem Freund der kalten Jahreszeit ja durchaus entgegen kommt, ich will gar nicht schon wieder meckern. Aber so ein dusteres Wetter zum Frühlingsanfang? Ach komm...
Zum Glück ist Besserung in Aussicht, denn außer Frühlingsanfang ist heute auch Sonnenfinsternis und die dauert ja nur ein paar Stunden. Gegen Mittag ist das Spektakel schon wieder Geschichte, so steht's in den Medien. Da macht die Sonnenfinsternis quasi Mittagspause.
In den Medien heißt die Sonnenfinsternis nur "Sofi". Natürlich nicht in allen Medien, das hat die Springerpresse mal wieder exklusiv.
Erst die GroKo, jetzt die Sofi, es wird nicht besser. Wobei, irgendwie ja ganz treffend, in den Tiefen des Weltraums koalieren zumindest rein optisch Sonne und Mond und wenn Sonne und Mond das tun, dann ist das schon eine amtliche GroKo. Das gebe ich zu. Von GroKo zu Sofi ist es dann ja auch kein allzu langer Weg mehr.
In sechs, sieben Jahren sitzen dann in jeder dritten Grundschul...Entschuldigung, GruSchu-Klasse der Republik mindestens ein kleiner GroKo und eine kleine Sofi - wobei letzteres vermutlich heut schon der Fall ist. Da muss man realistisch bleiben.
Ich hatte übrigens mal eine Freundin namens Sofi(e) und das war auch alles ziemlich finster. So schließt sich der Kreis. Aber das ist ewig her und gehört hier eh nicht hin.
Nun stehe ich also auf einem Freitag Vormittag in Erwartung des Mega-Ereignisses ein wenig gelangweilt auf einer Seitenstraße in Hamburg-Alsterdorf herum, umringt von Freundin H. und ihren wild durcheinander plappernden Kommilitoninnenfreundinnen, halte ein Glas Prosecco in der Hand, denn "So ein Ereignis muss man doch feiern! Sowas erleben wir nie wieder!!". "Naja, eigentlich schon. In 24 Jahren um genau zu sein." erwidere ich. "24 Jahre? Das ist ja noch eeeeewig hin!! Wer weiß wie tot ich bis dahin bin!?" quietscht eine der Kommilitoninnenfreundinnen und stößt kichernd und das obligatorische "Stößcheeeen!!" quiekend mit ihrer Nebenfrau an.
Ein wenig betroffen starre ich auf das Glas Prosecco in meiner Hand und beschließe, dass mehr Prosecco in dieser Situation eventuell besser da hilfreich für mich ist. Einfach schönsaufen den ganzen Quatsch.
Ich muss lachen. Etwas Schönsaufen mit Prosecco, da wäre ich der erste Mensch ohne Doppel-x-Chromosom, dem das gelingt. Ross Anthony vielleicht mal ausgenommen, wobei ich mir bei dem mit den Chromosomen nicht so sicher bin.
Whisky. Wodka. Das würd jetzt helfen.
Balvenie Doublewood. Grasovka. Ich tagträume.
Aber kann man ja auch nicht bringen, sich morgens halb zehn in Deutschland die Pulle Grasovka an den Hals zu setzen.
Gut, auf Pauli ginge das, da fiele man gar nicht weiter auf. Oder vor der grau in grauen Plattenbauwohnsilo-Kulisse von Osdorf. Oder im Niemandsland von Neuwiedenthal.
Aber nicht hier in Alsterdorf, da geht morgens um halb zehn nichtmal Prosecco. Wobei allerdings auch nur ich abschätzig von oben bis unten gemustert werde, der wild jubilierenden und zappelnden Weiberhorde zwei Meter links von mir wird zugelächelt, vermutlich, weil das alles sehr "niedlich" ist. Oder "lebensfroh", "lebensbejahend" gar. Der Kerl nebendran dagegen ist wahrscheinlich ein Spanner, Stalker und Tunichtgut, der, nachdem er sein Plastikglas Prosecco in sich gekippt hat, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit marodierend, mordend und brandschatzend durch's Wohnviertel ziehen wird. Klare Sache.
Als mich wieder ein vorbeispazierendes Rentnerpaar auf's Korn nimmt, exe ich mein Glas, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und bilde mir kurz ein, Panik in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Schwarze Kapuze, Jeans mit Loch, Fünftagebart, da steht er, der Endgegner und ist im Begriff, die gesamte Nachbarschaft in Schutt und Asch...
"Oh, dein Glas ist ja leer! Ich schenk dir mal nach!" zerfetzt die Hochfrequenzstimme einer der Kommilitoninnenfreundinnen meine Tagtraumblase und bevor ich mich wehren kann, ist mein Glas wieder voll. "Stößcheeeen!!"
Ich kapituliere.
So ganz allmählich verfinstert es sich. Bevor meine Laune das ebenso tut, schütte ich sicherheitshalber noch ein weiteres Glas Prosecco in mich rein und dann noch eins.
Wirkung trotz nicht vorhandenen Frühstücks: Null.
"Guckt mal, jetzt geht die Sonne unter!" piepst aufgeregt eine Komilitoninnenfreundin und zeigt in den von blau zu grau wechselnden Himmel. "Na, hoffentlich kommt die wieder!" nuschelt ein solariengegerbter Trainigshosenträger mit glänzendem Gelhelm ihr schleimscheißend zu und setzt seinen Allesfickerblick auf, eine Mischung aus treudoofem Monchichi und testosterongeschwängertem notgeilen Grundschulabbrecher. Auch so was, das ich in der Form in diesem Teil Hamburgs eher nicht erwartet hätte.
Das ist alles schwer zu ertragen. Und es wird nicht besser werden, vor allem nicht, da grad bereits die letzte Proseccopulle geöffnet wird, der Trainigshosenträger Artgenossen angeschleppt hat und die Komilitoninnenfreundinnen umso lauter quieken und juchzen je grauer der Himmel wird.
Das ist eine absolut skurrile Situation hier, Abschlussball-Party trifft auf Weltuntergangsgruselstimmung, dazu liegt der Duft von Prosecco-Atem, ausgeschwitztem Testosteron und dem Kebab vom letzten Abend in der Luft. Und nebenbei wird rein optisch innerhalb von drei Minuten aus strahlendem Frühjahr tiefster Herbst.
Zu unserem illustren Grüppchen haben sich nun noch zwei Paare älteren Semesters gesellt, die sich aufgeregt mit H.'s Freundinnen austauschen. Ein "Weltereignis" sei das ja schließlich, alle sprächen darüber, was für ein Privileg, live dabei zu sein! Man nickt sich eifrig und zustimmend zu, die Trainigshosenträger machen mit, ohne jegliche Hintergedanken natürlich...die Komilitoninnenfreundinnen blicken gespannt in einen grauen Himmel und die Trainigshosenträger blicken auf Komilitoninnenfreundinnenärsche. Weil sie es können.
Und Freundin H. stibitzt derweil unbemerkt die letzte verbliebene Flasche Prosecco, die wir uns mit belustigtem Blick auf die Gesamtsituation teilen.
Ja Mensch Sofi, was ist geblieben?
Nichts eigentlich bis auf einen fiesen süßlichen Nachgeschmack im Hals vom Prosecco und der Erkenntnis, dass #Sofi2015 in etwa so spannend war wie eine in den Hang kackende Bergziege.
Hach. Sofi2039.
Ich freu mich jetzt schon drauf...
Was mir als ausgesprochenem Freund der kalten Jahreszeit ja durchaus entgegen kommt, ich will gar nicht schon wieder meckern. Aber so ein dusteres Wetter zum Frühlingsanfang? Ach komm...
Zum Glück ist Besserung in Aussicht, denn außer Frühlingsanfang ist heute auch Sonnenfinsternis und die dauert ja nur ein paar Stunden. Gegen Mittag ist das Spektakel schon wieder Geschichte, so steht's in den Medien. Da macht die Sonnenfinsternis quasi Mittagspause.
In den Medien heißt die Sonnenfinsternis nur "Sofi". Natürlich nicht in allen Medien, das hat die Springerpresse mal wieder exklusiv.
Erst die GroKo, jetzt die Sofi, es wird nicht besser. Wobei, irgendwie ja ganz treffend, in den Tiefen des Weltraums koalieren zumindest rein optisch Sonne und Mond und wenn Sonne und Mond das tun, dann ist das schon eine amtliche GroKo. Das gebe ich zu. Von GroKo zu Sofi ist es dann ja auch kein allzu langer Weg mehr.
In sechs, sieben Jahren sitzen dann in jeder dritten Grundschul...Entschuldigung, GruSchu-Klasse der Republik mindestens ein kleiner GroKo und eine kleine Sofi - wobei letzteres vermutlich heut schon der Fall ist. Da muss man realistisch bleiben.
Ich hatte übrigens mal eine Freundin namens Sofi(e) und das war auch alles ziemlich finster. So schließt sich der Kreis. Aber das ist ewig her und gehört hier eh nicht hin.
Nun stehe ich also auf einem Freitag Vormittag in Erwartung des Mega-Ereignisses ein wenig gelangweilt auf einer Seitenstraße in Hamburg-Alsterdorf herum, umringt von Freundin H. und ihren wild durcheinander plappernden Kommilitoninnenfreundinnen, halte ein Glas Prosecco in der Hand, denn "So ein Ereignis muss man doch feiern! Sowas erleben wir nie wieder!!". "Naja, eigentlich schon. In 24 Jahren um genau zu sein." erwidere ich. "24 Jahre? Das ist ja noch eeeeewig hin!! Wer weiß wie tot ich bis dahin bin!?" quietscht eine der Kommilitoninnenfreundinnen und stößt kichernd und das obligatorische "Stößcheeeen!!" quiekend mit ihrer Nebenfrau an.
Ein wenig betroffen starre ich auf das Glas Prosecco in meiner Hand und beschließe, dass mehr Prosecco in dieser Situation eventuell besser da hilfreich für mich ist. Einfach schönsaufen den ganzen Quatsch.
Ich muss lachen. Etwas Schönsaufen mit Prosecco, da wäre ich der erste Mensch ohne Doppel-x-Chromosom, dem das gelingt. Ross Anthony vielleicht mal ausgenommen, wobei ich mir bei dem mit den Chromosomen nicht so sicher bin.
Whisky. Wodka. Das würd jetzt helfen.
Balvenie Doublewood. Grasovka. Ich tagträume.
Aber kann man ja auch nicht bringen, sich morgens halb zehn in Deutschland die Pulle Grasovka an den Hals zu setzen.
Gut, auf Pauli ginge das, da fiele man gar nicht weiter auf. Oder vor der grau in grauen Plattenbauwohnsilo-Kulisse von Osdorf. Oder im Niemandsland von Neuwiedenthal.
Aber nicht hier in Alsterdorf, da geht morgens um halb zehn nichtmal Prosecco. Wobei allerdings auch nur ich abschätzig von oben bis unten gemustert werde, der wild jubilierenden und zappelnden Weiberhorde zwei Meter links von mir wird zugelächelt, vermutlich, weil das alles sehr "niedlich" ist. Oder "lebensfroh", "lebensbejahend" gar. Der Kerl nebendran dagegen ist wahrscheinlich ein Spanner, Stalker und Tunichtgut, der, nachdem er sein Plastikglas Prosecco in sich gekippt hat, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit marodierend, mordend und brandschatzend durch's Wohnviertel ziehen wird. Klare Sache.
Als mich wieder ein vorbeispazierendes Rentnerpaar auf's Korn nimmt, exe ich mein Glas, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und bilde mir kurz ein, Panik in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Schwarze Kapuze, Jeans mit Loch, Fünftagebart, da steht er, der Endgegner und ist im Begriff, die gesamte Nachbarschaft in Schutt und Asch...
"Oh, dein Glas ist ja leer! Ich schenk dir mal nach!" zerfetzt die Hochfrequenzstimme einer der Kommilitoninnenfreundinnen meine Tagtraumblase und bevor ich mich wehren kann, ist mein Glas wieder voll. "Stößcheeeen!!"
Ich kapituliere.
So ganz allmählich verfinstert es sich. Bevor meine Laune das ebenso tut, schütte ich sicherheitshalber noch ein weiteres Glas Prosecco in mich rein und dann noch eins.
Wirkung trotz nicht vorhandenen Frühstücks: Null.
"Guckt mal, jetzt geht die Sonne unter!" piepst aufgeregt eine Komilitoninnenfreundin und zeigt in den von blau zu grau wechselnden Himmel. "Na, hoffentlich kommt die wieder!" nuschelt ein solariengegerbter Trainigshosenträger mit glänzendem Gelhelm ihr schleimscheißend zu und setzt seinen Allesfickerblick auf, eine Mischung aus treudoofem Monchichi und testosterongeschwängertem notgeilen Grundschulabbrecher. Auch so was, das ich in der Form in diesem Teil Hamburgs eher nicht erwartet hätte.
Das ist alles schwer zu ertragen. Und es wird nicht besser werden, vor allem nicht, da grad bereits die letzte Proseccopulle geöffnet wird, der Trainigshosenträger Artgenossen angeschleppt hat und die Komilitoninnenfreundinnen umso lauter quieken und juchzen je grauer der Himmel wird.
Das ist eine absolut skurrile Situation hier, Abschlussball-Party trifft auf Weltuntergangsgruselstimmung, dazu liegt der Duft von Prosecco-Atem, ausgeschwitztem Testosteron und dem Kebab vom letzten Abend in der Luft. Und nebenbei wird rein optisch innerhalb von drei Minuten aus strahlendem Frühjahr tiefster Herbst.
Zu unserem illustren Grüppchen haben sich nun noch zwei Paare älteren Semesters gesellt, die sich aufgeregt mit H.'s Freundinnen austauschen. Ein "Weltereignis" sei das ja schließlich, alle sprächen darüber, was für ein Privileg, live dabei zu sein! Man nickt sich eifrig und zustimmend zu, die Trainigshosenträger machen mit, ohne jegliche Hintergedanken natürlich...die Komilitoninnenfreundinnen blicken gespannt in einen grauen Himmel und die Trainigshosenträger blicken auf Komilitoninnenfreundinnenärsche. Weil sie es können.
Und Freundin H. stibitzt derweil unbemerkt die letzte verbliebene Flasche Prosecco, die wir uns mit belustigtem Blick auf die Gesamtsituation teilen.
Ja Mensch Sofi, was ist geblieben?
Nichts eigentlich bis auf einen fiesen süßlichen Nachgeschmack im Hals vom Prosecco und der Erkenntnis, dass #Sofi2015 in etwa so spannend war wie eine in den Hang kackende Bergziege.
Hach. Sofi2039.
Ich freu mich jetzt schon drauf...
Labels: Mitten im Leben, Nahverkehrsgeschichten,
Hamburg hates me/I hate back,
Irrsinn,
Menschen
Freitag, 13. Februar 2015
Herr B. echauffiert sich
Da will einer wegziehen aus Hamburg.
Weil ihm die Stadt gegen den Strich geht und er generell alle Einwohner Hamburgs als "dumm, arrogant und dekadent" empfindet. Absolut alle. Ausnahmslos. Er hat scheinbar nur einen Kamm, über den er scheren kann.
Jetzt sollte man eigentlich demonstrativ gähnen und dem Herrn und seiner Familie den immer gern genommenen, für alle Lebenslagen passenden und komplett totrezitierten Spruch "In Hamburg sagt man Tschüss...!", der mir komplett zum Hals und aus anderen Körperöffnungen heraushängt, weil er in dieser Stadt allgegenwärtig ist, hinterherrufen, aber nein.
Ein Aufruhr geht durch's Volk, die MoPo berichtet aufgebracht und reißerisch, wie man es von ihr kennt und es herrscht akuter Shitstorm-Alarm. #HängtIhnHöher.
Wahrscheinlich gibt es auch längst die dazugehörige Facebook-Gruppe, in der zutiefst verletzte und verstörte HamburgerInnen sich gegenseitig ihr Leid klagen und zum Seelenheil liken.
Das Foto, das Herr Boedekker (in der MoPo steht der Klarname, dann darf ich den wohl auch nennen) von sich in der Zeitung veröffentlichen ließ und auf dem er medienwirksam vor der Kulisse der Binnenalster eine Hamburg-Fahne zerreißt, macht die ganze Antistimmung sicherlich auch keinen Deut besser und ist natürlich überhaupt nicht provokativ. Ob das jetzt seine oder die Idee irgendeines zugekoksten Redakteurs war sei mal dahingestellt, es ist völlig egal.
Ich, der ich ja nun auch vieles an der Stadt in der ich lebe nicht sonderlich mag, habe mir den Artikel durchgelesen und dabei viel gelacht.
Die Argumente des Herrn B. sind - so es denn seine eigenen und keine frei erfundenen sind, um den Artikel noch provokanter zu machen - teilweise schon sehr...nun ja, ich nenne sie mal vorsichtig "seltsam".
Zunächst bekommt er allerdings meine volle Zustimmung, denn als "den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte" und ihn dazu bewog, Hamburg den Rücken zu kehren, benennt er das unsägliche Rumgeeiere von Stadt und Senat betreffend der Flüchtlingsunterkunft an den Sophien-Terrassen. Das empfinde ich ebenso als traurig und tragisch.
Vom Olympischen Komitee wünscht er sich, es möge Hamburgs Bewerbung für kommende Spiele "abschmettern", da "die Völker der Welt in Hamburg nur willkommen seien, wenn sie ihr Geld daließen". Auch da mag beziehungsweise wird er Recht haben, der Herr Boedekker. Die Olympischen Spiele würden Unmengen an Touristenkohle in die Stadtkasse spülen und Hamburg würde sich der ganzen Welt von seiner besten Seite präsentieren wollen.
Was vermutlich darauf hinauslaufen würde, dass man alles, was nicht ins Gesamtbild einer perfekten Stadt so wie Hamburg gern eine wäre passt einfach wegschafft.
Müll.
Graffitis.
Obdachlose.
Hilfsbedürftige.
Müssen alle weg, die Stadt muss sauber sein für die Touristen aus allen Teilen der Welt. Kann ja nicht angehen, dass später in Tokio, Sydney oder Tegucigalpa Fotos vom Rathaus oder vom Michel herumgezeigt werden, auf denen irgendwo versteckt ein Obdachloser auf seiner Decke sitzt und um ein paar Cent bittet. Die werden outgesorced. Irgendwo kurz hinter die Stadtgrenze. Wedel. Norderstedt. Scheißegal. Hauptsache weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sauber muss sie sein, die Stadt. Gelutscht. Steril.
Herr Boedekker will, dass das Olympische Komitee Hamburg nicht will wie er selbst Hamburg nicht mehr will. Nur dem Olympischen Komitee gibt er Gründe in die Hand, für sich selbst hat er keine. Zumindest keine, die mir einleuchten.
Egoistisch sei der Hamburger, arrogant, arm und dekadent. Ich bin kein gebürtiger Hamburger, aber immerhin bin ich elf Jahre länger hier als Herr Boedekker. Auf mich trifft genau eine seiner vier Hauptcharakterisierungen zu. Blöderweise, dass ich arm bin. Mit Abstrichen vielleicht noch die Arroganz-Geschichte, das liegt dann aber am Gegenüber.
Nach dreizehn Jahren Hamburg kenne ich vielleicht ein Sechzehntel der Stadtfläche und nichtmal einen Bruchteil von einem Prozent sämtlicher Einwohner Hamburgs. Herr Boedekker hat bereits nach zwei Jahren erkannt, dass 100 Prozent aller Einwohner Hamburgs dumme dekadente Arschlöcher sind, die vermutlich auch alle niedliche Hundewelpen vermöbeln und per se kleine Schwänze haben. Alle. Auch die Mädels. Isso.
Weiterhin echauffiert sich Herr Boedekker über Gerempel in der U-/S-Bahn. Das mag er nicht. Rücksichtslos sei das. Da hat er Recht. Ist echt hardcore hier in Hamburg. Während man sich in Shanghai, New York oder Rio in der Bahn höflich aus dem Weg geht und einen Mindestabstand von einem halben Meter wahrt, regiert im HVV der blanke Anarchismus. "Wall of death in der U3 Richtung Kellinghusenstraße", wie oft höre ich die Ansage und steige dann lieber nicht ein. Man lernt ja mit der Zeit. Kann Herr Boedekker mit seinen zwei Jahren Erfahrung nicht wissen. Fucking rookie!
Auch die "piefigen Nachbarn" stören ihn, die beschweren sich nämlich, wenn seine Kids auf der verkehrsberuhigten Straße im idyllischen Volksdorf Fußball spielen. In den Stadtteil ist er mit seiner Familie gezogen, "weil wir uns überlegt haben, daß wir mal ländlicher wohnen wollen". Ländlicher wohnen wollen und dann in die zweitgrößte Stadt des Landes ziehen. Das muss ich nicht verstehen, oder? Gut, Volksdorf heißt ja nun auch nicht zum Spaß VolksDORF, ist aber trotzdem immer noch Teil einer 1,73irgendwas-Millionen-Möchtegernmetropole und ländlich ist da anders.
Meine Eltern haben zwei Gästezimmer, dort ist es ländlich, sehr sogar. Dort können des Boedekkers Kids stundenlang auf der Straße bolzen bis zum Umfallen und niemand wird sich beschweren.
Außer meinen Eltern.
Über Herrn Boedekker.
Der jammert in der MoPo weiter herum. Seine Frau sei mal getreten worden, weil sie mit dem Rad auf dem Gehweg fuhr. Wer auch immer getreten hat, ist offenbar ein Vollidiot - es heißt aber ja auch nicht grundlos GEHweg. Wie oft hätte ich schon gern jemanden ansatzlos vom Sattel geboxt, der mich mit dem Rad auf dem GEHweg gerempelt, gestreift oder wenigstens drangsaliert hat. Auf dem GEHweg hat das FAHRrad nichts verloren. Punkt.
Dass die Radwege dieser meiner unserer selbsternannten Weltstadt in katastrophalem Zustand sind und erneuert werden müssen, diskutieren die Schlipsträger im Rathaus seit Jahren und prangen an, mahnen, weisen hin. Nur am Zustand der Radwege ändert sich. Nichts.
Herr Boedekker hat noch nicht fertig. Die Flaggen stören ihn. Die hamburgischen Stadtflaggen, die überall im Stadtgebiet wehen. Und die wohl nur er sieht. Ich kenne nur die am Rathaus und ein paar in Schrebergärten unterhalb des U3-Viadukts. That's it. Herr Boedekker sieht sie überall und das geht ihm gegen den Strich.
Vielleicht laufen die Dinge in Volksdorf anders und man ist patriotischer, vielleicht leben dort mehr Menschen, die ihre Stadt lieben als in meiner Nachbarschaft. Vielleicht flattern da mehr hamburgische Flaggen an Mästen oder aus Fenstern. Weiß ich nicht. Im Umkreis von 500 Metern um meine Wohnung kenne ich jedenfalls nur drei wehende Flaggen. Eine ghanaische, eine des FCSP und eine schwedische. Keine hamburgischen.
Herr Boedekker sieht überall die Hamburger Flagge und echauffiert sich. Ich wette, dass er im letzten Sommer zur WM einer der vielen Millionen war, die an Spieltagen mit Schland-Schminke durch die Gegend gelaufen sind, sich Fähnchen für's Autofenster zugelegt haben und auch ein Schlaaand!-Trikot trugen, notfalls auch das vom Penny für 9,95€. Hauptsache Fan. Alle zwei Jahre mal.
"Hamburg ist das Tor zur Welt, aber das Tor geht nicht auf!" sagt Herr Boedekker. Ich könnte mir jetzt Feinde machen und sagen, dass das so ist, weil Bremen (in der Stadtfahne) den Schlüssel dazu hat.
Aber ich sag's mal anders.
So sehr ich diese meine unsere Herrn Boedekkers Stadt auch manchmal nicht leiden kann, verfluche und verabscheue...trotzdem mag ich es hier. Meist sogar sehr.
Herr Boedekker zieht im Sommer samt Familie zurück nach Berlin. Wo die Menschen freundlicher, weniger arrogant und weniger dekadent sind, wo in der U-Bahn weniger gedrängelt, gerempelt und gepöbelt wird und wo man ohne getreten zu werden auf Gehwegen radeln und Fußgänger ummähen kann, solange es einem Spaß macht. Meinen Glückwunsch.
In Hamburg sagt man Tsch... Ach, drauf geschissen.
Weil ihm die Stadt gegen den Strich geht und er generell alle Einwohner Hamburgs als "dumm, arrogant und dekadent" empfindet. Absolut alle. Ausnahmslos. Er hat scheinbar nur einen Kamm, über den er scheren kann.
Jetzt sollte man eigentlich demonstrativ gähnen und dem Herrn und seiner Familie den immer gern genommenen, für alle Lebenslagen passenden und komplett totrezitierten Spruch "In Hamburg sagt man Tschüss...!", der mir komplett zum Hals und aus anderen Körperöffnungen heraushängt, weil er in dieser Stadt allgegenwärtig ist, hinterherrufen, aber nein.
Ein Aufruhr geht durch's Volk, die MoPo berichtet aufgebracht und reißerisch, wie man es von ihr kennt und es herrscht akuter Shitstorm-Alarm. #HängtIhnHöher.
Wahrscheinlich gibt es auch längst die dazugehörige Facebook-Gruppe, in der zutiefst verletzte und verstörte HamburgerInnen sich gegenseitig ihr Leid klagen und zum Seelenheil liken.
Das Foto, das Herr Boedekker (in der MoPo steht der Klarname, dann darf ich den wohl auch nennen) von sich in der Zeitung veröffentlichen ließ und auf dem er medienwirksam vor der Kulisse der Binnenalster eine Hamburg-Fahne zerreißt, macht die ganze Antistimmung sicherlich auch keinen Deut besser und ist natürlich überhaupt nicht provokativ. Ob das jetzt seine oder die Idee irgendeines zugekoksten Redakteurs war sei mal dahingestellt, es ist völlig egal.
Ich, der ich ja nun auch vieles an der Stadt in der ich lebe nicht sonderlich mag, habe mir den Artikel durchgelesen und dabei viel gelacht.
Die Argumente des Herrn B. sind - so es denn seine eigenen und keine frei erfundenen sind, um den Artikel noch provokanter zu machen - teilweise schon sehr...nun ja, ich nenne sie mal vorsichtig "seltsam".
Zunächst bekommt er allerdings meine volle Zustimmung, denn als "den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte" und ihn dazu bewog, Hamburg den Rücken zu kehren, benennt er das unsägliche Rumgeeiere von Stadt und Senat betreffend der Flüchtlingsunterkunft an den Sophien-Terrassen. Das empfinde ich ebenso als traurig und tragisch.
Vom Olympischen Komitee wünscht er sich, es möge Hamburgs Bewerbung für kommende Spiele "abschmettern", da "die Völker der Welt in Hamburg nur willkommen seien, wenn sie ihr Geld daließen". Auch da mag beziehungsweise wird er Recht haben, der Herr Boedekker. Die Olympischen Spiele würden Unmengen an Touristenkohle in die Stadtkasse spülen und Hamburg würde sich der ganzen Welt von seiner besten Seite präsentieren wollen.
Was vermutlich darauf hinauslaufen würde, dass man alles, was nicht ins Gesamtbild einer perfekten Stadt so wie Hamburg gern eine wäre passt einfach wegschafft.
Müll.
Graffitis.
Obdachlose.
Hilfsbedürftige.
Müssen alle weg, die Stadt muss sauber sein für die Touristen aus allen Teilen der Welt. Kann ja nicht angehen, dass später in Tokio, Sydney oder Tegucigalpa Fotos vom Rathaus oder vom Michel herumgezeigt werden, auf denen irgendwo versteckt ein Obdachloser auf seiner Decke sitzt und um ein paar Cent bittet. Die werden outgesorced. Irgendwo kurz hinter die Stadtgrenze. Wedel. Norderstedt. Scheißegal. Hauptsache weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sauber muss sie sein, die Stadt. Gelutscht. Steril.
Herr Boedekker will, dass das Olympische Komitee Hamburg nicht will wie er selbst Hamburg nicht mehr will. Nur dem Olympischen Komitee gibt er Gründe in die Hand, für sich selbst hat er keine. Zumindest keine, die mir einleuchten.
Egoistisch sei der Hamburger, arrogant, arm und dekadent. Ich bin kein gebürtiger Hamburger, aber immerhin bin ich elf Jahre länger hier als Herr Boedekker. Auf mich trifft genau eine seiner vier Hauptcharakterisierungen zu. Blöderweise, dass ich arm bin. Mit Abstrichen vielleicht noch die Arroganz-Geschichte, das liegt dann aber am Gegenüber.
Nach dreizehn Jahren Hamburg kenne ich vielleicht ein Sechzehntel der Stadtfläche und nichtmal einen Bruchteil von einem Prozent sämtlicher Einwohner Hamburgs. Herr Boedekker hat bereits nach zwei Jahren erkannt, dass 100 Prozent aller Einwohner Hamburgs dumme dekadente Arschlöcher sind, die vermutlich auch alle niedliche Hundewelpen vermöbeln und per se kleine Schwänze haben. Alle. Auch die Mädels. Isso.
Weiterhin echauffiert sich Herr Boedekker über Gerempel in der U-/S-Bahn. Das mag er nicht. Rücksichtslos sei das. Da hat er Recht. Ist echt hardcore hier in Hamburg. Während man sich in Shanghai, New York oder Rio in der Bahn höflich aus dem Weg geht und einen Mindestabstand von einem halben Meter wahrt, regiert im HVV der blanke Anarchismus. "Wall of death in der U3 Richtung Kellinghusenstraße", wie oft höre ich die Ansage und steige dann lieber nicht ein. Man lernt ja mit der Zeit. Kann Herr Boedekker mit seinen zwei Jahren Erfahrung nicht wissen. Fucking rookie!
Auch die "piefigen Nachbarn" stören ihn, die beschweren sich nämlich, wenn seine Kids auf der verkehrsberuhigten Straße im idyllischen Volksdorf Fußball spielen. In den Stadtteil ist er mit seiner Familie gezogen, "weil wir uns überlegt haben, daß wir mal ländlicher wohnen wollen". Ländlicher wohnen wollen und dann in die zweitgrößte Stadt des Landes ziehen. Das muss ich nicht verstehen, oder? Gut, Volksdorf heißt ja nun auch nicht zum Spaß VolksDORF, ist aber trotzdem immer noch Teil einer 1,73irgendwas-Millionen-Möchtegernmetropole und ländlich ist da anders.
Meine Eltern haben zwei Gästezimmer, dort ist es ländlich, sehr sogar. Dort können des Boedekkers Kids stundenlang auf der Straße bolzen bis zum Umfallen und niemand wird sich beschweren.
Außer meinen Eltern.
Über Herrn Boedekker.
Der jammert in der MoPo weiter herum. Seine Frau sei mal getreten worden, weil sie mit dem Rad auf dem Gehweg fuhr. Wer auch immer getreten hat, ist offenbar ein Vollidiot - es heißt aber ja auch nicht grundlos GEHweg. Wie oft hätte ich schon gern jemanden ansatzlos vom Sattel geboxt, der mich mit dem Rad auf dem GEHweg gerempelt, gestreift oder wenigstens drangsaliert hat. Auf dem GEHweg hat das FAHRrad nichts verloren. Punkt.
Dass die Radwege dieser meiner unserer selbsternannten Weltstadt in katastrophalem Zustand sind und erneuert werden müssen, diskutieren die Schlipsträger im Rathaus seit Jahren und prangen an, mahnen, weisen hin. Nur am Zustand der Radwege ändert sich. Nichts.
Herr Boedekker hat noch nicht fertig. Die Flaggen stören ihn. Die hamburgischen Stadtflaggen, die überall im Stadtgebiet wehen. Und die wohl nur er sieht. Ich kenne nur die am Rathaus und ein paar in Schrebergärten unterhalb des U3-Viadukts. That's it. Herr Boedekker sieht sie überall und das geht ihm gegen den Strich.
Vielleicht laufen die Dinge in Volksdorf anders und man ist patriotischer, vielleicht leben dort mehr Menschen, die ihre Stadt lieben als in meiner Nachbarschaft. Vielleicht flattern da mehr hamburgische Flaggen an Mästen oder aus Fenstern. Weiß ich nicht. Im Umkreis von 500 Metern um meine Wohnung kenne ich jedenfalls nur drei wehende Flaggen. Eine ghanaische, eine des FCSP und eine schwedische. Keine hamburgischen.
Herr Boedekker sieht überall die Hamburger Flagge und echauffiert sich. Ich wette, dass er im letzten Sommer zur WM einer der vielen Millionen war, die an Spieltagen mit Schland-Schminke durch die Gegend gelaufen sind, sich Fähnchen für's Autofenster zugelegt haben und auch ein Schlaaand!-Trikot trugen, notfalls auch das vom Penny für 9,95€. Hauptsache Fan. Alle zwei Jahre mal.
"Hamburg ist das Tor zur Welt, aber das Tor geht nicht auf!" sagt Herr Boedekker. Ich könnte mir jetzt Feinde machen und sagen, dass das so ist, weil Bremen (in der Stadtfahne) den Schlüssel dazu hat.
Aber ich sag's mal anders.
So sehr ich diese meine unsere Herrn Boedekkers Stadt auch manchmal nicht leiden kann, verfluche und verabscheue...trotzdem mag ich es hier. Meist sogar sehr.
Herr Boedekker zieht im Sommer samt Familie zurück nach Berlin. Wo die Menschen freundlicher, weniger arrogant und weniger dekadent sind, wo in der U-Bahn weniger gedrängelt, gerempelt und gepöbelt wird und wo man ohne getreten zu werden auf Gehwegen radeln und Fußgänger ummähen kann, solange es einem Spaß macht. Meinen Glückwunsch.
In Hamburg sagt man Tsch... Ach, drauf geschissen.
Sonntag, 14. Dezember 2014
Wenn kommt, kommt (4): Damals im Ex-Job: Die werte Kundschaft
Lang ist er her, der letzte veröffentlichte Teil drei meiner gestarteten Serie über den Ex-Job im Wettbüro.
Ich hatte die Teile vier bis sechs fertig geschrieben und war auch ganz glücklich damit - bis mir mal wieder der Laptop komplett abgeschmiert ist und sämtliche Daten gen Nirvana wanderten. Danach schob ich Frust, vor allem weil ich mir recht sicher war, die verloren gegangenen Texte kein zweites Mal so zufriedenstellend hinzukriegen und ich hatte keine Lust mehr, über den Ex-Job zu schreiben.
Aber irgendwer muss es ja machen.
Und als ich vor einigen Tagen durch Zufall von einem Bekannten mal wieder in meine alte Arbeitsstelle gezerrt wurde, weil er unbedingt seine Kohle verbrennen wollte, fiel mir auf, daß ich von den Angestellten gar keinen mehr kannte, sich an der Kundschaft aber so gut wie gar nichts geändert hatte.
Da sitzen immer noch von früh bis spät die gleichen Fratzen wie zu meiner Zeit und versenken ihre Stütze in der steten Hoffnung auf den großen Treffer und da fahren auch immer noch die gleichen Unsympathen in ihren Luxuskarossen vor und schmeißen mit Kohle um sich, für die garantiert nicht sie sich krumm gemacht haben, sondern die Mädels oder die Kleindealer, die kleinen Fische, die sie grad irgendwo laufen oder in dunklen Ecken stehen haben.
Und der kleine Rest derer, die seit Jahr und Tag aus Spaß an der Freude zocken, weil sie es sich leisten können, ist natürlich auch immer noch da.
Viele bekannte Gesichter also. Und ich wurde vom sympathischen Teil der Kundschaft mit großem Hallo begrüßt, wurde umarmt, mir wurde auf die Schulter geklopft und ich musste beziehungsweise durfte viele Hände schütteln.
Irgendwas muss ich wohl richtig gemacht haben in meinen Jahren im Ex-Job. Ich habe zumindest viele "Fans" behalten. Das fand ich schon sehr lustig und zugegebenermaßen ist das ja auch ein kleines bisschen was fürs Ego.
Also habe ich mich zuhause nochmal hingesetzt, mich an Erwähnenswertes aus den sechseinhalb Jahren Ex-Job erinnert und mir ein paar Notizen gemacht. Und war dann erstaunt, daß da doch noch einiges zusammengekommen ist.
Da ich ohne diesen herzlichen Empfang gar nicht auf die Idee gekommen wäre, der Serie nochmal einen zweiten Push zu geben anstatt sie weiterhin als gescheitert anzusehen, crash and burn quasi, sehr bildlich mit Blick auf den abgerauchten Laptop, habe ich mir gedacht, ich probier es nochmal.
Und erzähle in Teil vier über die Menschen, denen man (ich) tagtäglich gegenüber stand und die mich garantiert ein paar Jahre Lebenszeit und einen großen Teil meiner Nerven gekostet haben: die werte Kundschaft.
Da waren ein paar Granaten dabei. Sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
Über die richtig negativen Gestalten, die Poser, die Aggros hatte ich mich ja teilweise schon ausgelassen, die waren aber auch zumeist keine Stammkunden in dem Sinne, daß sie den lieben langen Tag im Shop hockten. Sie kamen zwar jeden Tag vorbei, gern auch mehrmals, ihre Auftritte bestanden aber im Großteil daraus, ihren Luxusschlitten direkt vorm Eingang auf dem Gehweg zu parken, samt Entourage in den Laden zu stürmen und innerhalb kürzester Zeit Unsummen zu verballern. Hier mal 500, da mal 1000, man hat's ja. Wenn andere - normale - Kunden bereits Schlange standen, war das egal. Anstellen kam nicht in Frage und war dank aufgepumpten Oberarmen und grimmig dreinschauenenden Kompagnons auch nicht notwendig. In den allermeisten Fällen wurde den Arschlöchern Vortritt gewährt, weil jeder wusste, was sonst passieren könnte. Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, selbst wenn man nur noch wenige funktionierende Hirnzellen besitzt.
In meinem Shop gab es drei dieser Prolls und ich habe sie gehasst wie die Pest. Zwar waren sie zu mir immer extrem freundlich und es gab bei Gewinn immer ein gutes Trinkgeld, klar, man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Die waren in gewisser Weise abhängig von mir, denn hätten sie mir ans Bein gepisst, hätte ich sie dank Hausrecht und notfalls mit Hilfe herbeigerufener Polizeibeamter jederzeit vor die Tür setzen können - was ich unter Umständen später bitter bereut hätte. Also machten sie auf gut Freund und ich spielte mit, alles andere wäre unklug gewesen.
Jeder im Shop war froh, wenn die Spinner nach ein paar Minuten wieder verschwunden waren.
Der Großteil der Kundschaft war aber friedlich, freundlich, ab und an sogar mal höflich oder zuvorkommend. Zwar meistens auch nicht ganz lupenrein, aber das ist in so einem Umfeld halt so und man sieht darüber hinweg beziehungsweise gewöhnt sich daran. Wenn man das nicht kann, dann ist man eh definitiv im falschen Job.
Ich habe zum Eingewöhnen etwa zwei Wochen gebraucht, nach meiner ersten Schicht war ich "schockiert" über das, was ich da erlebt hatte und wollte direkt wieder hinschmeißen. Das war eine Parallelwelt, mit der ich überhaupt nicht klar kam. Zu den nächsten Schichten bin ich nur dank besorgniserregender Kontostände und gutem Zureden der besseren Hälfte gegangen.
Aber zurück zum meist friedlichen, meist freundlichen, selten höflichen und ebenso selten lupenreinen Teil der werten Kundschaft.
An diese Typen erinnere ich mich gern und einige von ihnen habe ich tatsächlich ziemlich gemocht.
Einer von denen mit nicht lupenreiner Weste war "Apotheken-Ali", ein Jahr älter als ich, Türke, den Spitznamen hatte er, weil man bei ihm alles bekommen konnte was Pillen und Pülverchen anging. Jepp, ein Dealer. Und zwar einer, der sich nicht mehr mit Gras aufhält, sondern eher das "heftigere Zeug" vertickt.
Dabei war er aber ein klasse Typ, wir lagen abgesehen von den Drogen voll auf einer Wellenlänge was andere Themen betraf. Das war fast schon ein freundschaftliches Verhältnis.
Als mich mal jemand aus seinem Bekanntenkreis um Geld beschissen hat - das wird häufig versucht und anfangs fällt man ohne Erfahrung halt auf die plumpesten Maschen herein - sorgte "Ali" dafür, daß ich meine bereits verloren geglaubte Kohle samt Zinsen und persönlicher Entschuldigung des Betrügers zurückbekam und der Typ, ein kahlrasierter Riese, kam tatsächlich zu Kreuze gekrochen, schämte sich furchtbar, zahlte mir das Geld zurück und hätte mir vermutlich auch noch die Füße geküsst, wenn ich das verlangt hätte. Bei einigen kritischen Stresssituationen in den darauffolgenden Jahren war es dann recht beruhigend, diesen Brecher im Notfall auf seiner Seite zu wissen.
"Ali" bezahlte seine Wetten auch gern mal direkt vom Kundenklo kommend mit noch zusammengerollten Scheinen, aus denen weiße Pulverreste rieselten...er kommentierte das immer nur mit einem Augenzwinkern. Er selbst war einer seiner besten Kunden.
Unser größter Pflegefall war "Emilio", Nordafrikaner, geschätzt Ende vierzig und abhängig von so ziemlich allem, was grad zu kriegen war.
Bis etwa drei oder vier Uhr am Nachmittag war er noch halbwegs zurechnungsfähig, ab dann war er innerhalb kürzester Zeit volltrunken oder high oder auf Koks, meistens aber alles zusammen. Der Typ hat sich jeden Tag komplett aus der Welt geschossen und konnte manchmal kaum noch laufen geschweige denn sich verständlich artikulieren - Wettscheine ausfüllen ging aber in jedem noch so lebensfernen körperlichen und geistigen Zustand.
Immer so ab dem fünften des Monats herum verzockte "Emilio" Tag für Tag angeblich "sein letztes Geld", bei den Worten hielt er einem mit traurigem Blick einen zerknüllten Zehner unter die Nase und wollte Mitleid oder lieber noch eine kleine Spende von meinem Trinkgeld oder aus dem Portemonnaie.
Zum tagtäglichen Komplett-Abschuss hat das angeblich nicht vorhandene Geld für "Emilio" allerdings immer gereicht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt...
Da "Emilio" an sich aber ein herzensguter Typ war, der leider ein riesiges Suchtproblem mit sich herum schleppte, habe ich ihm ab und zu etwas geliehen. Und er hat früher oder später immer (!) zurück gezahlt, was in der "Szene" sicher nicht der Normalfall ist. Das hat manchmal Monate gedauert, aber im Gegensatz zu mir wusste er immer noch genau, wann ich ihm welche Summe ausgeliehen hatte. Ich hatte das häufig längst vergessen.
Ein Mal lieh ich ihm einen Zehner, den er direkt in eine Kombiwette auf drei krasse Außenseiter reinvestierte und mit viel Glück und sehr wenig Verstand daraus über 500 Taler machte. Das blinde Huhn mit dem Korn und so. In diesem Fall mit dem Korn aus der Flasche.
Mir jedenfalls brachte die Nummer ein rekordverdächtiges Trinkgeld von 100 Euro ein. Den Zehner hatte ich unerwarteterweise extrem gut angelegt.
Um seine gute Tat wieder auszugleichen hat er mir dann wenige Tage später sturztrunken in den Laden gepisst und randaliert, als die Sanitäter ihn in den herbeigerufenen RTW verfrachten wollten. Davon, daß ich Pisspfützen aufwischen muss, stand nichts in der Job-Beschreibung. Es gab aber durchaus noch Schlimmeres. Nicht nur ein Mal.
Auch erwähnenswert ist "Don Alfonso". Ein freundlicher kleiner grauhaariger Herr mit Gehstock und buschigen Augenbrauen, der um die Ecke wohnte.
Auch er kam täglich in den Shop, trank mal einen Kaffee und verzockte ein Paar Taler. Er hatte besonders an mir einen Narren gefressen und so wusste ich nach einigen Wochen alles über ihn, ob es jetzt sein Bluthochdruck war oder die Krampfadern seiner Frau, mir wurde alles mit leicht feuchter Aussprache - das machte es nicht besser - erzählt und dazu wild gestikuliert. In der Kollegschaft war "Don Alfonso" allerdings wegen zwei anderer Dinge bekannt, berühmt und berüchtigt.
Zum einen sammelte er (BILD-)Zeitungsausschnitte von Überfällen auf Wettbüros, die er uns regelmäßig auf den Tresen knallte um uns mit todernster Stimme daran zu erinnern, daß wir Angestellten sehr wahrscheinlich demnächst blutige Opfer eines solchen Überfalls würden...zumindest die neuen Kollegen fanden das weniger lustig.
Zum anderen war der Don aber deswegen eine Art Celebrity, weil er es geschafft hatte, in sämtlichen anderen fünf Filialen, die mein Chef zu der Zeit im Stadtgebiet sonst noch betrieb, Hausverbot zu bekommen.
Und zwar nicht wegen Randalen oder sonstwas, nein, "Don Alfonso" verrichtete anscheinend aus mir unerfindlichen Gründen sein großes Geschäft sehr gern auswärts. Also auf dem jeweiligen Kundenlokus einer der Wettbutzen seines Vertrauens. Leider verpasste er es aber regelmäßig, die Spülung zu betätigen und vollkommen egal, wie zwielichtig oder unterbelichtet der Rest der Kundschaft auch war: über die Hinterlassenschaft hat sich irgendwie nie jemand gefreut.
So hat es ein grauhaariger hüftsteifer Rentner zu mehr Hausverboten gebracht als der Rest der gesamten anderen mehr oder minder kriminellen Kundschaft zusammen. Und das nur wegen seines Stuhlgangs. Ich ziehe meinen Hut.
Wo es grad um Stuhlgang geht: Der vermutlich meistverhasste Kunde abgesehen von den Aggro-Prolls war der "Stinker".
Anfang fünfzig, korpulent und trotz Gegenwind vermutlich bereits aus zwei Kilometern Entfernung zu riechen. Ich verstehe nicht, wie man mit so einem Eigengestank - EigenGERUCH wäre mehr als untertrieben - durchs Leben gehen kann.
Ich ertrage viel, ich habe schon Verwesung gerochen und übelsten Suffschiss und früher im Basketballteam hatten wir die seltsame Tradition, daß derjenige, der beim abschließenden Freiwurf-Training am schlechtesten abgeschnitten hatte, einen tiefen Zug aus dem verschwitzten Schuh eines zugelosten Mitspielers nehmen musste. Und das war leider oft ich, denn Freiwürfe sind mir zu einfach. Die kann ich nicht.
Ich habe also schon viele echt miese Gerüche in der Nase gehabt und überfordert war ich zum eigenen Erstaunen extrem selten.
Der "Stinker" war so ein seltener Fall und toppte alles. Mundgulli deluxe kombiniert mit Wochen ohne Dusche kombiniert mit wochenlang dem gleichen speckigen Flanellhemd, welches im Laufe der Zeit die Farbe von blau/weiß kariert zu bläulich/grüngelblich ohne klar erkennbares Karomuster geändert und vermutlich ein Eigenleben entwickelt hatte.
Das aus seinen schulterlangen Haaren das Fett nicht auf den Tresen triefte, wundert mich bis heute. Mir juckte beim bloßen Anblick seiner Haare die Kopfhaut. Wahnsinn!
Der Mann war absolut ekelhaft. Ich vertrage wirklich recht viel wenn es um Gerüche geht, es braucht schon größere Kaliber, um mich aus der Fassung zu bringen. Der "Stinker" schaffte es regelmäßig mit spielerischer Leichtigkeit.
Ich erinnere mich an einen Tag, als ein Fernsehteam des NDR bei uns im Shop war, um einen Beitrag zum Thema Sportwetten für irgendein Nachrichtenmagazin zu drehen. Irgendwas seriöses, Ansage vom Chef war: "Repräsentier uns anständig! Morgens rasieren, Firmenklamotten, kein Band-Shirt!"
Die passendere Ansage wäre gewesen: "Lass den "Stinker" nicht rein!"
Denn der riss, während ich fast frisch rasiert, beinahe ohne Bandshirt und mit vorbereiteten möglichst banalen Antworten für das kommende Interview ausgerüstet an meinen Arbeitsplatz stand, die Situation komplett an sich. Bis heute bin ich dem "Stinker" dafür wirklich dankbar, denn ich hatte absolut keine Lust auf die Nummer.
Die ganze Szene war eh vollkommen skurril, drei Sekunden nachdem die Filmcrew unseren Shop betreten hatte, waren 95% der Kundschaft verschwunden. So schnell konnte man gar nicht gucken! Der durchschnittliche (Klein-)Kriminelle möchte sein Konterfei halt ungern im TV sehen und im Fersengeld geben ist er vermutlich recht geübt. Wäre das Ganze ein Comic gewesen, dann wären die flüchtenden Kunden der Roadrunner gewesen, die Filmcrew Carl der Coyote und überall wären über den Köpfen Blasen gewesen, bei der Roadrunner-Kundschaft so Geräuschblasen mit "WRRRRRRRRRMM!!!" oder "WUUUUUUUUUUSCH!!!" darin und bei der Filmcrew solche Denkblasen mit Inhalten wie "OMG, WTF?!? LOL!!!!" oder nach sekundenspäterem Erriechen des "Stinkers" das Gleiche nur ohne das Lachen, dafür mit panischem Blick.
Der "Stinker" hat das Team vom NDR dann fast 90 Minuten lang bespaßt, währenddessen hatte ich mich nicht mit einen einzigen Kunden herumzuschlagen, denn es waren ja die TV-Kameras im Laden.
Am Strand zu liegen wäre kaum entspannender gewesen. Der Unterschied: Am Strand zu liegen bekommt man im Normalfall nicht bezahlt. Mein mangels Kundschaft mehr als einstündiges tiefenentspanntes Rumgehänge wurde fürstlich entlohnt und als das TV-Team dann grad zehn Minuten weg, die misstrauische Kundschaft vorsichtigerweise allerdings noch nicht wieder im Laden war, wurde ich auch schon abgelöst. Die definitiv beste Schicht, die ich jemals geschoben habe! Dank des "Stinkers".
Und trotzdem war der Kerl ekelhaft. Beziehungsweise seine Hygiene. Seine nicht vorhandene.
Ich könnte über viele weitere Charakterköpfe erzählen.
"George", ein Geschäftsmann aus Ghana, früher Profiboxer, jetzt erfolgreicher Vertreiber von alten KFZs nach Afrika. Er spielte aus Aberglaube nie gerade Summen. "Setz mal fünfzig Euro. Und zwei Cent!...nein, warte. Drei Cent!" Und wenn er einem zur Begrüßung eine hohe Fünf gab, schmerzte die Hand danach noch minutenlang.
"Bernhard" und "Sebastian" (so stand es zumindest in den Ausweisen), Vater und Sohn, zwei - dank der Namen leicht zu erraten - Vietnamesen, die nichtmal einen Hauch der deutschen und nur einen zu vernachlässigenden Teil der englischen Sprache verstanden oder selbst sprachen, trotzdem aber unbedingt ihre Kohle in meinem Shop versenken wollten. Irgendwann schleppten sie dann tagtäglich die deutschsprachige Schwiegermutter respektive Oma in den Shop, die zumindest ein wenig vermitteln konnte, dabei aber jedes Mal vor Scham fast im Boden versank. Ich habe ihr jedes Mal einen furchtbar schlechten Automaten-Kaffee für fünfzig Cent ausgegeben, weil ich Mitleid mit ihr hatte und das schien zu helfen. Zumindest während der paar Minuten mit dem "Kaffee" aus der Automatenhölle schien sie es ganz gut inmitten all der Irren auszuhalten.
Abgesehen von Bernhard und Sebastian hatten wir nur noch einen weiteren Vietnamesen als Stammkunde. Seinen Namen kenne ich nicht, jeder Mitarbeiter unseres Shops war allerdings großer Fan seiner langen Barthaare.
Von denen hatte er auf jedem Quadratzentimeter des bei einem durchschnittlichen Mann normalen Bartwuchsbereiches maximal fünfzig. Ich kann es nicht einschätzen. Viel zu wenige jedenfalls. Alle seiner paar Barthaare waren aber mehrere Zentimeter lang. Und silbrig grau, obwohl der Kerl höchstens Ende dreißig war. Das sah so dermaßen skurril aus, ich kann es gar nicht beschreiben! Hatte ein bisschen was von Lametta, vielleicht hatte er früher davon ja mehr. (Entschuldigung, der musste sein...)
Ab und zu treffe ich ihn noch beim Einkaufen und wenn er mich entdeckt, freut er sich immer sehr und winkt mir zu. Inzwischen trägt er nur noch Kinnhaare. Von einem "Bart" kann dabei noch immer keine Rede sein.
Ich habe in den sechs Jahren im Ex-Job einen Haufen Menschen kennengelernt. Über manche der Bekanntschaften bin ich froh, weil sie lehrhaft waren, über einige habe ich sehr gelacht und tue das auch heute noch, auf einige Begegnungen hätte ich sehr gerne verzichtet, manche Menschen sind so dermaßen unsympathisch, daß ich gern im Strahl kotzen würde und ich mich frage, wie zur Hölle man SO ätzend werden kann.
Trotzdem möchte ich die Jahre nicht missen. Im Rückblick war der damals als eher nervig und anstrengend empfundene tägliche Kundenkontakt schon recht interessant und voller neuer Erfahrungen. Und davon kann man ja eigentlich nie genug machen.
...
(Ich bin gespannt wie lange ich brauche, bis Teil fünf so weit ist, daß ich ihn guten Gewissens posten kann. Ich arbeite dran. Schwör!
Aber auch diesbezüglich gilt: Wenn kommt, kommt!)
Die Namen der erwähnten werten ehemaligen Kunden sind natürlich keine Realnamen. Versteht sich ja von selbst.
Ich hatte die Teile vier bis sechs fertig geschrieben und war auch ganz glücklich damit - bis mir mal wieder der Laptop komplett abgeschmiert ist und sämtliche Daten gen Nirvana wanderten. Danach schob ich Frust, vor allem weil ich mir recht sicher war, die verloren gegangenen Texte kein zweites Mal so zufriedenstellend hinzukriegen und ich hatte keine Lust mehr, über den Ex-Job zu schreiben.
Aber irgendwer muss es ja machen.
Und als ich vor einigen Tagen durch Zufall von einem Bekannten mal wieder in meine alte Arbeitsstelle gezerrt wurde, weil er unbedingt seine Kohle verbrennen wollte, fiel mir auf, daß ich von den Angestellten gar keinen mehr kannte, sich an der Kundschaft aber so gut wie gar nichts geändert hatte.
Da sitzen immer noch von früh bis spät die gleichen Fratzen wie zu meiner Zeit und versenken ihre Stütze in der steten Hoffnung auf den großen Treffer und da fahren auch immer noch die gleichen Unsympathen in ihren Luxuskarossen vor und schmeißen mit Kohle um sich, für die garantiert nicht sie sich krumm gemacht haben, sondern die Mädels oder die Kleindealer, die kleinen Fische, die sie grad irgendwo laufen oder in dunklen Ecken stehen haben.
Und der kleine Rest derer, die seit Jahr und Tag aus Spaß an der Freude zocken, weil sie es sich leisten können, ist natürlich auch immer noch da.
Viele bekannte Gesichter also. Und ich wurde vom sympathischen Teil der Kundschaft mit großem Hallo begrüßt, wurde umarmt, mir wurde auf die Schulter geklopft und ich musste beziehungsweise durfte viele Hände schütteln.
Irgendwas muss ich wohl richtig gemacht haben in meinen Jahren im Ex-Job. Ich habe zumindest viele "Fans" behalten. Das fand ich schon sehr lustig und zugegebenermaßen ist das ja auch ein kleines bisschen was fürs Ego.
Also habe ich mich zuhause nochmal hingesetzt, mich an Erwähnenswertes aus den sechseinhalb Jahren Ex-Job erinnert und mir ein paar Notizen gemacht. Und war dann erstaunt, daß da doch noch einiges zusammengekommen ist.
Da ich ohne diesen herzlichen Empfang gar nicht auf die Idee gekommen wäre, der Serie nochmal einen zweiten Push zu geben anstatt sie weiterhin als gescheitert anzusehen, crash and burn quasi, sehr bildlich mit Blick auf den abgerauchten Laptop, habe ich mir gedacht, ich probier es nochmal.
Und erzähle in Teil vier über die Menschen, denen man (ich) tagtäglich gegenüber stand und die mich garantiert ein paar Jahre Lebenszeit und einen großen Teil meiner Nerven gekostet haben: die werte Kundschaft.
Da waren ein paar Granaten dabei. Sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
Über die richtig negativen Gestalten, die Poser, die Aggros hatte ich mich ja teilweise schon ausgelassen, die waren aber auch zumeist keine Stammkunden in dem Sinne, daß sie den lieben langen Tag im Shop hockten. Sie kamen zwar jeden Tag vorbei, gern auch mehrmals, ihre Auftritte bestanden aber im Großteil daraus, ihren Luxusschlitten direkt vorm Eingang auf dem Gehweg zu parken, samt Entourage in den Laden zu stürmen und innerhalb kürzester Zeit Unsummen zu verballern. Hier mal 500, da mal 1000, man hat's ja. Wenn andere - normale - Kunden bereits Schlange standen, war das egal. Anstellen kam nicht in Frage und war dank aufgepumpten Oberarmen und grimmig dreinschauenenden Kompagnons auch nicht notwendig. In den allermeisten Fällen wurde den Arschlöchern Vortritt gewährt, weil jeder wusste, was sonst passieren könnte. Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, selbst wenn man nur noch wenige funktionierende Hirnzellen besitzt.
In meinem Shop gab es drei dieser Prolls und ich habe sie gehasst wie die Pest. Zwar waren sie zu mir immer extrem freundlich und es gab bei Gewinn immer ein gutes Trinkgeld, klar, man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Die waren in gewisser Weise abhängig von mir, denn hätten sie mir ans Bein gepisst, hätte ich sie dank Hausrecht und notfalls mit Hilfe herbeigerufener Polizeibeamter jederzeit vor die Tür setzen können - was ich unter Umständen später bitter bereut hätte. Also machten sie auf gut Freund und ich spielte mit, alles andere wäre unklug gewesen.
Jeder im Shop war froh, wenn die Spinner nach ein paar Minuten wieder verschwunden waren.
Der Großteil der Kundschaft war aber friedlich, freundlich, ab und an sogar mal höflich oder zuvorkommend. Zwar meistens auch nicht ganz lupenrein, aber das ist in so einem Umfeld halt so und man sieht darüber hinweg beziehungsweise gewöhnt sich daran. Wenn man das nicht kann, dann ist man eh definitiv im falschen Job.
Ich habe zum Eingewöhnen etwa zwei Wochen gebraucht, nach meiner ersten Schicht war ich "schockiert" über das, was ich da erlebt hatte und wollte direkt wieder hinschmeißen. Das war eine Parallelwelt, mit der ich überhaupt nicht klar kam. Zu den nächsten Schichten bin ich nur dank besorgniserregender Kontostände und gutem Zureden der besseren Hälfte gegangen.
Aber zurück zum meist friedlichen, meist freundlichen, selten höflichen und ebenso selten lupenreinen Teil der werten Kundschaft.
An diese Typen erinnere ich mich gern und einige von ihnen habe ich tatsächlich ziemlich gemocht.
Einer von denen mit nicht lupenreiner Weste war "Apotheken-Ali", ein Jahr älter als ich, Türke, den Spitznamen hatte er, weil man bei ihm alles bekommen konnte was Pillen und Pülverchen anging. Jepp, ein Dealer. Und zwar einer, der sich nicht mehr mit Gras aufhält, sondern eher das "heftigere Zeug" vertickt.
Dabei war er aber ein klasse Typ, wir lagen abgesehen von den Drogen voll auf einer Wellenlänge was andere Themen betraf. Das war fast schon ein freundschaftliches Verhältnis.
Als mich mal jemand aus seinem Bekanntenkreis um Geld beschissen hat - das wird häufig versucht und anfangs fällt man ohne Erfahrung halt auf die plumpesten Maschen herein - sorgte "Ali" dafür, daß ich meine bereits verloren geglaubte Kohle samt Zinsen und persönlicher Entschuldigung des Betrügers zurückbekam und der Typ, ein kahlrasierter Riese, kam tatsächlich zu Kreuze gekrochen, schämte sich furchtbar, zahlte mir das Geld zurück und hätte mir vermutlich auch noch die Füße geküsst, wenn ich das verlangt hätte. Bei einigen kritischen Stresssituationen in den darauffolgenden Jahren war es dann recht beruhigend, diesen Brecher im Notfall auf seiner Seite zu wissen.
"Ali" bezahlte seine Wetten auch gern mal direkt vom Kundenklo kommend mit noch zusammengerollten Scheinen, aus denen weiße Pulverreste rieselten...er kommentierte das immer nur mit einem Augenzwinkern. Er selbst war einer seiner besten Kunden.
Unser größter Pflegefall war "Emilio", Nordafrikaner, geschätzt Ende vierzig und abhängig von so ziemlich allem, was grad zu kriegen war.
Bis etwa drei oder vier Uhr am Nachmittag war er noch halbwegs zurechnungsfähig, ab dann war er innerhalb kürzester Zeit volltrunken oder high oder auf Koks, meistens aber alles zusammen. Der Typ hat sich jeden Tag komplett aus der Welt geschossen und konnte manchmal kaum noch laufen geschweige denn sich verständlich artikulieren - Wettscheine ausfüllen ging aber in jedem noch so lebensfernen körperlichen und geistigen Zustand.
Immer so ab dem fünften des Monats herum verzockte "Emilio" Tag für Tag angeblich "sein letztes Geld", bei den Worten hielt er einem mit traurigem Blick einen zerknüllten Zehner unter die Nase und wollte Mitleid oder lieber noch eine kleine Spende von meinem Trinkgeld oder aus dem Portemonnaie.
Zum tagtäglichen Komplett-Abschuss hat das angeblich nicht vorhandene Geld für "Emilio" allerdings immer gereicht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt...
Da "Emilio" an sich aber ein herzensguter Typ war, der leider ein riesiges Suchtproblem mit sich herum schleppte, habe ich ihm ab und zu etwas geliehen. Und er hat früher oder später immer (!) zurück gezahlt, was in der "Szene" sicher nicht der Normalfall ist. Das hat manchmal Monate gedauert, aber im Gegensatz zu mir wusste er immer noch genau, wann ich ihm welche Summe ausgeliehen hatte. Ich hatte das häufig längst vergessen.
Ein Mal lieh ich ihm einen Zehner, den er direkt in eine Kombiwette auf drei krasse Außenseiter reinvestierte und mit viel Glück und sehr wenig Verstand daraus über 500 Taler machte. Das blinde Huhn mit dem Korn und so. In diesem Fall mit dem Korn aus der Flasche.
Mir jedenfalls brachte die Nummer ein rekordverdächtiges Trinkgeld von 100 Euro ein. Den Zehner hatte ich unerwarteterweise extrem gut angelegt.
Um seine gute Tat wieder auszugleichen hat er mir dann wenige Tage später sturztrunken in den Laden gepisst und randaliert, als die Sanitäter ihn in den herbeigerufenen RTW verfrachten wollten. Davon, daß ich Pisspfützen aufwischen muss, stand nichts in der Job-Beschreibung. Es gab aber durchaus noch Schlimmeres. Nicht nur ein Mal.
Auch erwähnenswert ist "Don Alfonso". Ein freundlicher kleiner grauhaariger Herr mit Gehstock und buschigen Augenbrauen, der um die Ecke wohnte.
Auch er kam täglich in den Shop, trank mal einen Kaffee und verzockte ein Paar Taler. Er hatte besonders an mir einen Narren gefressen und so wusste ich nach einigen Wochen alles über ihn, ob es jetzt sein Bluthochdruck war oder die Krampfadern seiner Frau, mir wurde alles mit leicht feuchter Aussprache - das machte es nicht besser - erzählt und dazu wild gestikuliert. In der Kollegschaft war "Don Alfonso" allerdings wegen zwei anderer Dinge bekannt, berühmt und berüchtigt.
Zum einen sammelte er (BILD-)Zeitungsausschnitte von Überfällen auf Wettbüros, die er uns regelmäßig auf den Tresen knallte um uns mit todernster Stimme daran zu erinnern, daß wir Angestellten sehr wahrscheinlich demnächst blutige Opfer eines solchen Überfalls würden...zumindest die neuen Kollegen fanden das weniger lustig.
Zum anderen war der Don aber deswegen eine Art Celebrity, weil er es geschafft hatte, in sämtlichen anderen fünf Filialen, die mein Chef zu der Zeit im Stadtgebiet sonst noch betrieb, Hausverbot zu bekommen.
Und zwar nicht wegen Randalen oder sonstwas, nein, "Don Alfonso" verrichtete anscheinend aus mir unerfindlichen Gründen sein großes Geschäft sehr gern auswärts. Also auf dem jeweiligen Kundenlokus einer der Wettbutzen seines Vertrauens. Leider verpasste er es aber regelmäßig, die Spülung zu betätigen und vollkommen egal, wie zwielichtig oder unterbelichtet der Rest der Kundschaft auch war: über die Hinterlassenschaft hat sich irgendwie nie jemand gefreut.
So hat es ein grauhaariger hüftsteifer Rentner zu mehr Hausverboten gebracht als der Rest der gesamten anderen mehr oder minder kriminellen Kundschaft zusammen. Und das nur wegen seines Stuhlgangs. Ich ziehe meinen Hut.
Wo es grad um Stuhlgang geht: Der vermutlich meistverhasste Kunde abgesehen von den Aggro-Prolls war der "Stinker".
Anfang fünfzig, korpulent und trotz Gegenwind vermutlich bereits aus zwei Kilometern Entfernung zu riechen. Ich verstehe nicht, wie man mit so einem Eigengestank - EigenGERUCH wäre mehr als untertrieben - durchs Leben gehen kann.
Ich ertrage viel, ich habe schon Verwesung gerochen und übelsten Suffschiss und früher im Basketballteam hatten wir die seltsame Tradition, daß derjenige, der beim abschließenden Freiwurf-Training am schlechtesten abgeschnitten hatte, einen tiefen Zug aus dem verschwitzten Schuh eines zugelosten Mitspielers nehmen musste. Und das war leider oft ich, denn Freiwürfe sind mir zu einfach. Die kann ich nicht.
Ich habe also schon viele echt miese Gerüche in der Nase gehabt und überfordert war ich zum eigenen Erstaunen extrem selten.
Der "Stinker" war so ein seltener Fall und toppte alles. Mundgulli deluxe kombiniert mit Wochen ohne Dusche kombiniert mit wochenlang dem gleichen speckigen Flanellhemd, welches im Laufe der Zeit die Farbe von blau/weiß kariert zu bläulich/grüngelblich ohne klar erkennbares Karomuster geändert und vermutlich ein Eigenleben entwickelt hatte.
Das aus seinen schulterlangen Haaren das Fett nicht auf den Tresen triefte, wundert mich bis heute. Mir juckte beim bloßen Anblick seiner Haare die Kopfhaut. Wahnsinn!
Der Mann war absolut ekelhaft. Ich vertrage wirklich recht viel wenn es um Gerüche geht, es braucht schon größere Kaliber, um mich aus der Fassung zu bringen. Der "Stinker" schaffte es regelmäßig mit spielerischer Leichtigkeit.
Ich erinnere mich an einen Tag, als ein Fernsehteam des NDR bei uns im Shop war, um einen Beitrag zum Thema Sportwetten für irgendein Nachrichtenmagazin zu drehen. Irgendwas seriöses, Ansage vom Chef war: "Repräsentier uns anständig! Morgens rasieren, Firmenklamotten, kein Band-Shirt!"
Die passendere Ansage wäre gewesen: "Lass den "Stinker" nicht rein!"
Denn der riss, während ich fast frisch rasiert, beinahe ohne Bandshirt und mit vorbereiteten möglichst banalen Antworten für das kommende Interview ausgerüstet an meinen Arbeitsplatz stand, die Situation komplett an sich. Bis heute bin ich dem "Stinker" dafür wirklich dankbar, denn ich hatte absolut keine Lust auf die Nummer.
Die ganze Szene war eh vollkommen skurril, drei Sekunden nachdem die Filmcrew unseren Shop betreten hatte, waren 95% der Kundschaft verschwunden. So schnell konnte man gar nicht gucken! Der durchschnittliche (Klein-)Kriminelle möchte sein Konterfei halt ungern im TV sehen und im Fersengeld geben ist er vermutlich recht geübt. Wäre das Ganze ein Comic gewesen, dann wären die flüchtenden Kunden der Roadrunner gewesen, die Filmcrew Carl der Coyote und überall wären über den Köpfen Blasen gewesen, bei der Roadrunner-Kundschaft so Geräuschblasen mit "WRRRRRRRRRMM!!!" oder "WUUUUUUUUUUSCH!!!" darin und bei der Filmcrew solche Denkblasen mit Inhalten wie "OMG, WTF?!? LOL!!!!" oder nach sekundenspäterem Erriechen des "Stinkers" das Gleiche nur ohne das Lachen, dafür mit panischem Blick.
Der "Stinker" hat das Team vom NDR dann fast 90 Minuten lang bespaßt, währenddessen hatte ich mich nicht mit einen einzigen Kunden herumzuschlagen, denn es waren ja die TV-Kameras im Laden.
Am Strand zu liegen wäre kaum entspannender gewesen. Der Unterschied: Am Strand zu liegen bekommt man im Normalfall nicht bezahlt. Mein mangels Kundschaft mehr als einstündiges tiefenentspanntes Rumgehänge wurde fürstlich entlohnt und als das TV-Team dann grad zehn Minuten weg, die misstrauische Kundschaft vorsichtigerweise allerdings noch nicht wieder im Laden war, wurde ich auch schon abgelöst. Die definitiv beste Schicht, die ich jemals geschoben habe! Dank des "Stinkers".
Und trotzdem war der Kerl ekelhaft. Beziehungsweise seine Hygiene. Seine nicht vorhandene.
Ich könnte über viele weitere Charakterköpfe erzählen.
"George", ein Geschäftsmann aus Ghana, früher Profiboxer, jetzt erfolgreicher Vertreiber von alten KFZs nach Afrika. Er spielte aus Aberglaube nie gerade Summen. "Setz mal fünfzig Euro. Und zwei Cent!...nein, warte. Drei Cent!" Und wenn er einem zur Begrüßung eine hohe Fünf gab, schmerzte die Hand danach noch minutenlang.
"Bernhard" und "Sebastian" (so stand es zumindest in den Ausweisen), Vater und Sohn, zwei - dank der Namen leicht zu erraten - Vietnamesen, die nichtmal einen Hauch der deutschen und nur einen zu vernachlässigenden Teil der englischen Sprache verstanden oder selbst sprachen, trotzdem aber unbedingt ihre Kohle in meinem Shop versenken wollten. Irgendwann schleppten sie dann tagtäglich die deutschsprachige Schwiegermutter respektive Oma in den Shop, die zumindest ein wenig vermitteln konnte, dabei aber jedes Mal vor Scham fast im Boden versank. Ich habe ihr jedes Mal einen furchtbar schlechten Automaten-Kaffee für fünfzig Cent ausgegeben, weil ich Mitleid mit ihr hatte und das schien zu helfen. Zumindest während der paar Minuten mit dem "Kaffee" aus der Automatenhölle schien sie es ganz gut inmitten all der Irren auszuhalten.
Abgesehen von Bernhard und Sebastian hatten wir nur noch einen weiteren Vietnamesen als Stammkunde. Seinen Namen kenne ich nicht, jeder Mitarbeiter unseres Shops war allerdings großer Fan seiner langen Barthaare.
Von denen hatte er auf jedem Quadratzentimeter des bei einem durchschnittlichen Mann normalen Bartwuchsbereiches maximal fünfzig. Ich kann es nicht einschätzen. Viel zu wenige jedenfalls. Alle seiner paar Barthaare waren aber mehrere Zentimeter lang. Und silbrig grau, obwohl der Kerl höchstens Ende dreißig war. Das sah so dermaßen skurril aus, ich kann es gar nicht beschreiben! Hatte ein bisschen was von Lametta, vielleicht hatte er früher davon ja mehr. (Entschuldigung, der musste sein...)
Ab und zu treffe ich ihn noch beim Einkaufen und wenn er mich entdeckt, freut er sich immer sehr und winkt mir zu. Inzwischen trägt er nur noch Kinnhaare. Von einem "Bart" kann dabei noch immer keine Rede sein.
Ich habe in den sechs Jahren im Ex-Job einen Haufen Menschen kennengelernt. Über manche der Bekanntschaften bin ich froh, weil sie lehrhaft waren, über einige habe ich sehr gelacht und tue das auch heute noch, auf einige Begegnungen hätte ich sehr gerne verzichtet, manche Menschen sind so dermaßen unsympathisch, daß ich gern im Strahl kotzen würde und ich mich frage, wie zur Hölle man SO ätzend werden kann.
Trotzdem möchte ich die Jahre nicht missen. Im Rückblick war der damals als eher nervig und anstrengend empfundene tägliche Kundenkontakt schon recht interessant und voller neuer Erfahrungen. Und davon kann man ja eigentlich nie genug machen.
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(Ich bin gespannt wie lange ich brauche, bis Teil fünf so weit ist, daß ich ihn guten Gewissens posten kann. Ich arbeite dran. Schwör!
Aber auch diesbezüglich gilt: Wenn kommt, kommt!)
Die Namen der erwähnten werten ehemaligen Kunden sind natürlich keine Realnamen. Versteht sich ja von selbst.
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Von früher
Samstag, 8. November 2014
Ein Bild vorm Knust
Da sitzt man samt Begleitung biertrinkend, einen der sicherlich letzten temperaturtechnisch angenehmen Abende im Jahr 2014 genießend und in ein Gespräch vertieft auf einer Bank auf dem Platz am alten Schlachthof im Schanzenviertel und denkt sich nichts Böses.
Und dann hat er seinen Auftritt, der Antiheld des Tages.
"Hi, kann mir vielleicht einer von euch helfen?" fragt er.
"Schätze schon, wobei denn?" antworte ich.
"Ich möchte ein Foto von mir mit dem Knust im Hintergrund. Da geh ich nämlich gleich auf das Konzert, weißte? Ein Selfie halt von mir vor dem Knust halt. Kriegste das hin?"
Ich stutze kurz.
"Ähm...du möchtest, daß ich ein Foto von dir schieße, wie du in einer Pose deiner Wahl vorm Knust stehst? Jo, krieg ich hin, klar. Ist dann aber halt kein Selfie."
Er schaut verdutzt und erwidert.
"Häh? Aber ich will ein Selfie haben! Fürs Internet! Mach das doch mal! Kann doch nicht so schwer sein!"
Stimmt, ist im Normalfall auch nicht allzu schwer. Mir schwant, daß das hier anstrengend werden könnte, die Begleitung amüsiert sich derweil bereits köstlich.
"Alter, ich kann kein Selfie von DIR machen. Nur von MIR. Aber das tu ich nicht, alberner Scheißtrend und so, hab ich keinen Bock drauf."
Er schaut nicht irritiert, dafür wird er aber unentspannt.
"Klar kannst du von mir ein Foto machen, auch wenn du keinen Bock drauf hast!"
Ich, verzweifelter Gesichtsausdruck, Freundin H. zucken verdächtig die Mundwinkel.
"Natürlich kann ich ein Foto von dir machen, ich kann sogar einhundert, ach was, eintausend Fotos von dir machen und das mit wachsender Begeisterung. Aber ein Selfie? Ich? Von dir? Keine Chance! Sorry! Alter, daß heißt doch nicht aus Spaß "Selfie", das musst du doch checken!"
Freundin H. hält sich leise glucksend beide Hände vor den Mund und versucht verzweifelt, ihren aufkommenden Lachanfall irgendwie im Zaum zu halten.
Ihm reicht es jetzt.
"Mann, du bist echt so einer, wegen dem ich Großstädte nicht leiden kann! Da sind sie alle so wie du. Unfreundlich und eingebildet! Alles Arschlöcher! Ausnahmslos! Anstatt mal für fünf Sekunden mein Handy zu nehmen und ein Selfie von mir zu schießen..."
... Freundin H. hält es nicht mehr aus und der Lachkrampf platzt aus ihr heraus wie das Monster aus "Alien" auf der Kinoleinwand aus seinen Opfern.
Das wird vom Antihelden mit einem bitterböse gemeinten Blick quittiert, der alles nur noch schlimmer macht.
H. hustet und prustet, keucht und wedelt sich mit den Händen verzweifelt Luft zu, was aber auch nicht gegen herunterkullernde Lachtränen hilft.
Der Antiheld entfernt sich fluchend in Richtung einer anderen Bank, um die sich eine vielköpfige Gruppe von anderen Konzertbesuchern geschart hat, vielleicht bekommt er da sein fremdgeschossenes Selfie, daß er so gern möchte. Er starrt dabei mit bösem Blick zu uns herüber.
Kurze Zeit später wird auch drüben laut gelacht und hohe Fünfen werden verteilt. Sieht nicht so aus, als habe er Erfolg gehabt.
Freundin H. greift, als sie den erneuten ernüchterten Abgang des Antihelden beobachtet, ganz tief in die Schatzkiste aus der Wortspielhölle und kommentiert die Szenerie mit einem furztrockenen "Tschüß, go fuck yourselfie!"
Ich befürchte, daß ich die Frage "'tschuldigung, kannst du eventuell ein Selfie von mir schießen?" in der nächsten Zeit öfter mal zu hören kriege...
Und dann hat er seinen Auftritt, der Antiheld des Tages.
"Hi, kann mir vielleicht einer von euch helfen?" fragt er.
"Schätze schon, wobei denn?" antworte ich.
"Ich möchte ein Foto von mir mit dem Knust im Hintergrund. Da geh ich nämlich gleich auf das Konzert, weißte? Ein Selfie halt von mir vor dem Knust halt. Kriegste das hin?"
Ich stutze kurz.
"Ähm...du möchtest, daß ich ein Foto von dir schieße, wie du in einer Pose deiner Wahl vorm Knust stehst? Jo, krieg ich hin, klar. Ist dann aber halt kein Selfie."
Er schaut verdutzt und erwidert.
"Häh? Aber ich will ein Selfie haben! Fürs Internet! Mach das doch mal! Kann doch nicht so schwer sein!"
Stimmt, ist im Normalfall auch nicht allzu schwer. Mir schwant, daß das hier anstrengend werden könnte, die Begleitung amüsiert sich derweil bereits köstlich.
"Alter, ich kann kein Selfie von DIR machen. Nur von MIR. Aber das tu ich nicht, alberner Scheißtrend und so, hab ich keinen Bock drauf."
Er schaut nicht irritiert, dafür wird er aber unentspannt.
"Klar kannst du von mir ein Foto machen, auch wenn du keinen Bock drauf hast!"
Ich, verzweifelter Gesichtsausdruck, Freundin H. zucken verdächtig die Mundwinkel.
"Natürlich kann ich ein Foto von dir machen, ich kann sogar einhundert, ach was, eintausend Fotos von dir machen und das mit wachsender Begeisterung. Aber ein Selfie? Ich? Von dir? Keine Chance! Sorry! Alter, daß heißt doch nicht aus Spaß "Selfie", das musst du doch checken!"
Freundin H. hält sich leise glucksend beide Hände vor den Mund und versucht verzweifelt, ihren aufkommenden Lachanfall irgendwie im Zaum zu halten.
Ihm reicht es jetzt.
"Mann, du bist echt so einer, wegen dem ich Großstädte nicht leiden kann! Da sind sie alle so wie du. Unfreundlich und eingebildet! Alles Arschlöcher! Ausnahmslos! Anstatt mal für fünf Sekunden mein Handy zu nehmen und ein Selfie von mir zu schießen..."
... Freundin H. hält es nicht mehr aus und der Lachkrampf platzt aus ihr heraus wie das Monster aus "Alien" auf der Kinoleinwand aus seinen Opfern.
Das wird vom Antihelden mit einem bitterböse gemeinten Blick quittiert, der alles nur noch schlimmer macht.
H. hustet und prustet, keucht und wedelt sich mit den Händen verzweifelt Luft zu, was aber auch nicht gegen herunterkullernde Lachtränen hilft.
Der Antiheld entfernt sich fluchend in Richtung einer anderen Bank, um die sich eine vielköpfige Gruppe von anderen Konzertbesuchern geschart hat, vielleicht bekommt er da sein fremdgeschossenes Selfie, daß er so gern möchte. Er starrt dabei mit bösem Blick zu uns herüber.
Kurze Zeit später wird auch drüben laut gelacht und hohe Fünfen werden verteilt. Sieht nicht so aus, als habe er Erfolg gehabt.
Freundin H. greift, als sie den erneuten ernüchterten Abgang des Antihelden beobachtet, ganz tief in die Schatzkiste aus der Wortspielhölle und kommentiert die Szenerie mit einem furztrockenen "Tschüß, go fuck yourselfie!"
Ich befürchte, daß ich die Frage "'tschuldigung, kannst du eventuell ein Selfie von mir schießen?" in der nächsten Zeit öfter mal zu hören kriege...
Donnerstag, 4. September 2014
Die Beginner und der blanke Wahnsinn
"Ihr wollt ein Liebesliiieeed, ihr kriegt ein Liebesliiieeed...ein Lied, das ihr liiieeebt!"
Eizi Eiz's aka Jan Delay's nasale Stimme nölt den Superhit der Beginner in der Roten Flora ins Mikrofon und die Menge vor der Bühne johlt, die Köpfe nicken, die erhobenen Hände gehen von links nach rechts oder auf und ab. Meist auf und ab.
Mir schlägt derweil einer von links nach rechts seinen Ellbogen an den Kiefer und vor mir drängeln sich - "Sorry, ich muss da mal durch! Ich muss da näher ran!" - ein paar aufgestylte Mädels vorbei, Körperkontakt ist vollkommen unvermeidbar.
Über den freuen sich zwei Jungs neben mir. "Ich hatte Arschkontakt mit der rechten Hand!" - "Geil Mann, ich auch! Bei der Blonden?" - "Ja, die Blonde! War total geil!" - "Auf jeden Mann!"
Sie geben sich die hohe Fünf, grinsen beide wie Honigkuchenpferde und haben wahrscheinlich beide feuchte Flecken in den Shorts.
"Arschkontakt", alter Schwede, darüber hab ich mich mit vierzehn im übervollen Schulbus gefreut und das ist mir heute extrem peinlich, die Gestalten neben mir tragen Vollbart (natürlich), Muskelshirt à la Cro (natürlich) und die Caps rückwärts. Natürlich.
Da ist nix mehr mit Schulbus und so weiter. Da ist so ein Verhalten doch eher...nennen wir es unangebracht.
Dann trifft mich wieder eine Hand am Hals und der dazugehörige Arsch drängt Richtung Rote Flora.
Vielleicht sollte ich mit den beiden Vollhonks zu meiner Linken abklatschen, denn jetzt gehöre ich ja auch zu ihrem elitären Arschkontakt-Club.
Da wo ich stehe, ist der Durchgang. Immer. Ob auf Konzerten, in überfüllten Clubs, auf Demos oder sonstwo...Da wo ich stehe, wollen meine Mitmenschen entlang laufen. Und das möglichst rempelnd, pöbelnd und generell nervend. Selbst wenn direkt hinter mir eine Wand wäre oder es direkt in eine tiefe Schlucht ginge, jeder zweite würde dort hin wollen und sich an mir vorbei oder am liebsten mitten durch mich durch drängeln.
Und nein, da rettet auch der unfreiwillige und ungewollte Arschkontakt absolut gar nichts, denn die Ärsche, die ich anfassen möchte, suche ich mir doch lieber selbst aus und davon gibt es auch nicht wirklich viele.
Die "Absoluten Beginner" haben also am vergangenen Freitag ein Benefiz-Konzert für die Rote Flora in eben dieser gespielt und nein, ich war nicht vor der Bühne oder gar in der Nähe, ich stand gute fünfzig Meter entfernt auf der Kreuzung zur Susannenstraße, zusammen mit x-tausend anderen.
Ich habe die Straßen rund ums Schulterblatt noch nie so voll gesehen wie am Freitag, nicht während der WM beim Public Viewing, nicht bei Schanzenfesten oder bei Krawallen nach Schanzenfesten, nicht, wenn traditionell zum ersten Mai Deppen Fensterscheiben zerdeppern, nie.
Das war rekordverdächtig.
Der Auftritt der Beginner in der Flora wird an die Seitenwand des "Haus 73" projeziert, sodass man auch sehen kann, was in der Flora abgeht, während man selbst weit entfernt auf der Straße steht und alle paar Augenblicke Ellenbögen ins Gesicht oder die Rippen kassiert, als befände man sich auf einem Punk-Konzert.
Oder besser: Theoretisch könnte man dank Projektion sehen, was in der Flora passiert, würden nicht sämtliche Hipster, Vorstadtkinder und weiteres Volk dieser Stadt ihre Smartphones in die Höhe recken, um zu filmen, was in fünfzig Metern Entfernung an der Wand abgeht.
Im Ernst, was soll das?
Die Videos können unmöglich auch nur ansatzweise gut sein. Das ist ein dank der ganzen Rempeleien gut durchgeschüttelter Pixelsalat, auf dem wahrscheinlich maximal die Tonspur was taugt, auf der dann aber die johlenden Umstehenden und vielleicht ein paar Bässe und Beats zu hören sind, garantiert aber kein Text. Vermutlich gibt es bessere Aufnahmen vom Yeti als vom freitäglichen Beginner-Konzert von meinem Standort aus.
Das Gedränge wird krasser und krasser. Allmählich wird es wirklich ungemütlich und in einigen Gesichtern sieht man eine gewisse Beklommenheit.
Irgendeiner, der vom Konzert nichts mitbekommen oder einfach nicht weit genug mitgedacht hat, hat tatsächlich sein Auto, einen silbergrauen Familien-Van direkt an der Kreuzung abgestellt und der dient nun vielen als Sitzplatz, Tanzfläche oder Abstellplatz für leere Bierflaschen, weshalb ihn alle paar Minuten ein Pfandsammler samt Hackenporsche oder geborgtem Einkaufswagen ansteuert, der dann dank der Schubserei bleibende Eindrücke im Lack hinterlässt. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie die Karre tags darauf ausgesehen haben wird. Taufrisch garantiert nicht mehr. Eher wie ein abstraktes, zerbeultes und bemaltes Kunstwerk mit Rädern.
Es ist aber vorsichtig formuliert auch nicht besonders clever, an einem solchen Tag an eben dieser Stelle zu parken. Allerdings beobachte ich das immer wieder.
Mit einem ungläubig dreinschauenden und einem irritiert lachenden Auge erinnere ich mich an das Schanzenfest 2011, als ein Anzugträger seinen frisch polierten blendend weißen Luxus-Audi direkt am Schulterblatt parkte, um kurz zum Geldautomaten zu laufen, während keine hundert Meter weiter der Mob tobte.
Der erste Stein war schon durch die Seitenscheibe gerauscht, bevor er die Bank überhaupt betreten hatte, als er drei Minuten später wieder zum Auto kam, war es komplett entglast und mit einem Verkehrsschild gepierct.
Asozial, natürlich und ich halte nach wie vor absolut gar nichts von solchen Aktionen - aber wie weltfremd muss man denn sein um zu denken, daß es eine gute Idee sei, just in dem Moment genau dort zu parken? Das ist kompletter Wahnsinn! Es sei denn, es handelte sich um einen Versicherungsbetrug. Dann ist es relativ genial. Aber trotzdem Wahnsinn.
Beim Gedanken an die Geschichte muss ich grinsen, bevor ein Schlacks mit Hals-Tattoo mir in die Arme fliegt, weil irgendwer ihm einen Stoß versetzt hat. Er verteilt sein halbes Bier über mein Shirt, zuckt entschuldigend mit den Schultern und trollt sich. "Viel Spaß noch!"
Daß die ganze Geschichte dann doch nicht so spaßig ist, wird mir spätestens klar, als einer durch die Menge pflügt und eine Bewusstlose geschultert hat, die von der Gesichtsfarbe her gar nicht mehr gesund aussieht. Ihm folgen ihre in Tränen aufgelösten Freundinnen. Ein Großteil der Menge registriert das gar nicht, einige machen zumindest Platz für den "Krankentransport" soweit das eben möglich ist und die Minderbemittelten sind natürlich auch nicht weit, singen "Du kannst nach Hause gehn!!" und klopfen oder besser schlagen der Bewusstlosen noch "aufmunternd" auf den Rücken und gröhlen dabei.
Das sind die, die dann um sieben Uhr morgens selbst irgendwo von einem Rettungssanitäter aus ihrer eigenen Kotzlache in einen RTW gehievt und ins nächste Krankenhaus verbracht werden und dann später damit prahlen, wieviel sie gesoffen haben und wie sehr die Ladies sie liebten. Das Einnässen im Suff wird aber verschwiegen. Besser ist das.
Das Gedränge ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, vollkommen abstrus wird die Situation, wenn im Hardcore-Gedränge plötzlich ein Kinderwagen samt darin liegendem und wohl ob der Lautstärke weinendem Säugling auftaucht, dem die Mutter ständig "Ist ja gut, ist ja gut, ist ja gut!" entgegen ruft und sonst nichts tut, während der männliche Part, Kindsvater oder nicht - vermutlich eher nicht oder zumindest einer von mehreren Kandidaten - den Weg Richtung Mittelpunkt des Geschehens frei räumt. Er, sein Weibchen und der Zwerg müssen definintiv mitten rein ins krasseste Hauen und Stechen, das ich seit ganz langer Zeit erlebt habe.
Kurz nach 23 Uhr, mein Kind ist wenn's hoch kommt ein Jahr alt...klar, das nehm ich mit zu einem Event in der Schanze, die Entscheidung liegt auf der Hand, da lernt die Brut direkt mal, mit Lautstärke umzugehen. Wenn Mama und Papa sich dann irgendwann später wegen den Unterhaltszahlungen streiten und anschreien, kennt das Kind das schon und schläft trotz Geschrei trotzdem ein. Ein nahezu perfekter Plan.
Auch zwei Rollstuhlfahrer versuchen, sich den Weg durch die Menge zu bahnen, was zentimeterweise funktioniert. Statt wie ich Ellenbögen bekommen sie alle paar Sekunden ein Hinterteil an den Kopf oder ins Gesicht gedrückt. Spaß kann das nicht machen, es sei denn, man steht drauf. Arschkontakt der etwas anderen Art.
Das Konzert neigte sich seinem Ende zu, das Gedränge nahm aber nicht ab sondern eher noch zu.
Mitdenkend wie ich nunmal bin, wollte ich kurz vor Ende des Konzerts den Heimweg antreten, um eine halbwegs komfortable Heimreise zu haben und nicht auch noch in der Bahn mit Wildfremden kuscheln zu müssen.
Der gleiche Gedanke wie zum Beispiel im Fußballstadion. Man geht nicht in der Halbzeit pissen oder neues Bier holen, man geht ein paar Minuten früher und hat so ziemlich seine Ruhe, weil immer noch neunzig Prozent aller anderen nicht gecheckt haben, daß das eine recht geschmeidige Lösung ist, auch wenn man immer Gefahr läuft, etwas zu verpassen. Im Stadion schlimmstenfalls ein Tor des Herzensvereins, beim Konzert den Lieblingssong.
Aber meiner wurde ja heut bereits gespielt. Also ab dafür. Nach Hause, rein in die Wohlfühlklamotten, noch ein Glas Wein und vielleicht mal wieder den Lieblingsfilm schauen.
Schöner Plan, hätte ja klappen können.
Ich wollte mich grad ins Gedränge stürzen und mir mit eigenem Ellenbogeneinsatz einen Weg heraus erarbeiten, ich freute mich fast darauf, endlich auch mal austeilen zu können anstatt die ganze Zeit nur zu kassieren, da sah ich in einem Meter Entfernung in der Menge ein Gesicht.
Ein Mädchen, vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht jünger. Kalkweiß wie Frosty der Schneemann, hektisch nach Luft japsend, nah am Hyperventilieren, die Augen tränengefüllt, die langen Haare klebten verschwitzt an der Stirn.
Ich war auf genug Konzerten, um zu wissen wie Menschen aussehen, die bis fast zur Erschöpfung vor der Bühne herumgetobt haben. Denen blitzt die Extase aus den Augen und das Adrenalin tropft aus jeder Pore. Die wollen mehr.
In diesem bleichen Gesicht stand die blanke Panik, sowas habe ich zuletzt auf Videoaufnahmen der Love Parade 2010 gesehen.
Es tat sich eine Lücke in der Masse der drängelnden Leiber auf und das Mädchen fiel mir und dem Typen neben mir, der, wie sich kurz darauf herausstellte, zufällig auch noch Mediziner war, quasi direkt in die Arme. Sie hat sich also wohl den bestmöglichen Platz für ihren Kollaps ausgesucht - insofern es so etwas denn gibt.
Eine Viertelstunde später, nachdem das Mädel aus dem Gedränge hinausgeschafft und den patrouillierenden Sanitätern übergeben worden war, wurde mir von meinem Kumpanen noch ein Jägermeister aufgenötigt.
"Auf unsere gute Tat!".
Wenn ein Jägermeister-Shot die Belohnung für "gute Taten" ist, dann war diese definitiv meine letzte!
Jägermeister, pfui Teufel!
Außerdem seh ich die "gute Tat" bis heut auch nicht wirklich.
Endlich auf dem Heimweg gab es in der U-Bahn den zweiten Teil der "Belohnung".
Ölsardinenbüchsenfeeling, umfallen unmöglich. Schweißaustausch. Bier-und-Dönergeruch in der stickigen U-Bahn-Luft.
Ich wollte doch einfach nur nach Hause...
Vom Bahnhof Barmbek aus laufe ich. Frische Luft und weit und breit kein Mensch im näheren Umkreis, der schubst, rempelt, gröhlt.
Ich breite, während ich die Straße entlang laufe, die Arme aus und freue mich, nichts zu spüren, keine drängelnden Körper, keine verschwitzten Klamotten, keine fremden Ärsche. Einfach nur nichts.
Daß das Handy just in diesem Moment zu einem Lied der Beginner skippt, wird sicherlich nur Zufall sein.
Eizi Eiz's aka Jan Delay's nasale Stimme nölt den Superhit der Beginner in der Roten Flora ins Mikrofon und die Menge vor der Bühne johlt, die Köpfe nicken, die erhobenen Hände gehen von links nach rechts oder auf und ab. Meist auf und ab.
Mir schlägt derweil einer von links nach rechts seinen Ellbogen an den Kiefer und vor mir drängeln sich - "Sorry, ich muss da mal durch! Ich muss da näher ran!" - ein paar aufgestylte Mädels vorbei, Körperkontakt ist vollkommen unvermeidbar.
Über den freuen sich zwei Jungs neben mir. "Ich hatte Arschkontakt mit der rechten Hand!" - "Geil Mann, ich auch! Bei der Blonden?" - "Ja, die Blonde! War total geil!" - "Auf jeden Mann!"
Sie geben sich die hohe Fünf, grinsen beide wie Honigkuchenpferde und haben wahrscheinlich beide feuchte Flecken in den Shorts.
"Arschkontakt", alter Schwede, darüber hab ich mich mit vierzehn im übervollen Schulbus gefreut und das ist mir heute extrem peinlich, die Gestalten neben mir tragen Vollbart (natürlich), Muskelshirt à la Cro (natürlich) und die Caps rückwärts. Natürlich.
Da ist nix mehr mit Schulbus und so weiter. Da ist so ein Verhalten doch eher...nennen wir es unangebracht.
Dann trifft mich wieder eine Hand am Hals und der dazugehörige Arsch drängt Richtung Rote Flora.
Vielleicht sollte ich mit den beiden Vollhonks zu meiner Linken abklatschen, denn jetzt gehöre ich ja auch zu ihrem elitären Arschkontakt-Club.
Da wo ich stehe, ist der Durchgang. Immer. Ob auf Konzerten, in überfüllten Clubs, auf Demos oder sonstwo...Da wo ich stehe, wollen meine Mitmenschen entlang laufen. Und das möglichst rempelnd, pöbelnd und generell nervend. Selbst wenn direkt hinter mir eine Wand wäre oder es direkt in eine tiefe Schlucht ginge, jeder zweite würde dort hin wollen und sich an mir vorbei oder am liebsten mitten durch mich durch drängeln.
Und nein, da rettet auch der unfreiwillige und ungewollte Arschkontakt absolut gar nichts, denn die Ärsche, die ich anfassen möchte, suche ich mir doch lieber selbst aus und davon gibt es auch nicht wirklich viele.
Die "Absoluten Beginner" haben also am vergangenen Freitag ein Benefiz-Konzert für die Rote Flora in eben dieser gespielt und nein, ich war nicht vor der Bühne oder gar in der Nähe, ich stand gute fünfzig Meter entfernt auf der Kreuzung zur Susannenstraße, zusammen mit x-tausend anderen.
Ich habe die Straßen rund ums Schulterblatt noch nie so voll gesehen wie am Freitag, nicht während der WM beim Public Viewing, nicht bei Schanzenfesten oder bei Krawallen nach Schanzenfesten, nicht, wenn traditionell zum ersten Mai Deppen Fensterscheiben zerdeppern, nie.
Das war rekordverdächtig.
Der Auftritt der Beginner in der Flora wird an die Seitenwand des "Haus 73" projeziert, sodass man auch sehen kann, was in der Flora abgeht, während man selbst weit entfernt auf der Straße steht und alle paar Augenblicke Ellenbögen ins Gesicht oder die Rippen kassiert, als befände man sich auf einem Punk-Konzert.
Oder besser: Theoretisch könnte man dank Projektion sehen, was in der Flora passiert, würden nicht sämtliche Hipster, Vorstadtkinder und weiteres Volk dieser Stadt ihre Smartphones in die Höhe recken, um zu filmen, was in fünfzig Metern Entfernung an der Wand abgeht.
Im Ernst, was soll das?
Die Videos können unmöglich auch nur ansatzweise gut sein. Das ist ein dank der ganzen Rempeleien gut durchgeschüttelter Pixelsalat, auf dem wahrscheinlich maximal die Tonspur was taugt, auf der dann aber die johlenden Umstehenden und vielleicht ein paar Bässe und Beats zu hören sind, garantiert aber kein Text. Vermutlich gibt es bessere Aufnahmen vom Yeti als vom freitäglichen Beginner-Konzert von meinem Standort aus.
Das Gedränge wird krasser und krasser. Allmählich wird es wirklich ungemütlich und in einigen Gesichtern sieht man eine gewisse Beklommenheit.
Irgendeiner, der vom Konzert nichts mitbekommen oder einfach nicht weit genug mitgedacht hat, hat tatsächlich sein Auto, einen silbergrauen Familien-Van direkt an der Kreuzung abgestellt und der dient nun vielen als Sitzplatz, Tanzfläche oder Abstellplatz für leere Bierflaschen, weshalb ihn alle paar Minuten ein Pfandsammler samt Hackenporsche oder geborgtem Einkaufswagen ansteuert, der dann dank der Schubserei bleibende Eindrücke im Lack hinterlässt. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, wie die Karre tags darauf ausgesehen haben wird. Taufrisch garantiert nicht mehr. Eher wie ein abstraktes, zerbeultes und bemaltes Kunstwerk mit Rädern.
Es ist aber vorsichtig formuliert auch nicht besonders clever, an einem solchen Tag an eben dieser Stelle zu parken. Allerdings beobachte ich das immer wieder.
Mit einem ungläubig dreinschauenden und einem irritiert lachenden Auge erinnere ich mich an das Schanzenfest 2011, als ein Anzugträger seinen frisch polierten blendend weißen Luxus-Audi direkt am Schulterblatt parkte, um kurz zum Geldautomaten zu laufen, während keine hundert Meter weiter der Mob tobte.
Der erste Stein war schon durch die Seitenscheibe gerauscht, bevor er die Bank überhaupt betreten hatte, als er drei Minuten später wieder zum Auto kam, war es komplett entglast und mit einem Verkehrsschild gepierct.
Asozial, natürlich und ich halte nach wie vor absolut gar nichts von solchen Aktionen - aber wie weltfremd muss man denn sein um zu denken, daß es eine gute Idee sei, just in dem Moment genau dort zu parken? Das ist kompletter Wahnsinn! Es sei denn, es handelte sich um einen Versicherungsbetrug. Dann ist es relativ genial. Aber trotzdem Wahnsinn.
Beim Gedanken an die Geschichte muss ich grinsen, bevor ein Schlacks mit Hals-Tattoo mir in die Arme fliegt, weil irgendwer ihm einen Stoß versetzt hat. Er verteilt sein halbes Bier über mein Shirt, zuckt entschuldigend mit den Schultern und trollt sich. "Viel Spaß noch!"
Daß die ganze Geschichte dann doch nicht so spaßig ist, wird mir spätestens klar, als einer durch die Menge pflügt und eine Bewusstlose geschultert hat, die von der Gesichtsfarbe her gar nicht mehr gesund aussieht. Ihm folgen ihre in Tränen aufgelösten Freundinnen. Ein Großteil der Menge registriert das gar nicht, einige machen zumindest Platz für den "Krankentransport" soweit das eben möglich ist und die Minderbemittelten sind natürlich auch nicht weit, singen "Du kannst nach Hause gehn!!" und klopfen oder besser schlagen der Bewusstlosen noch "aufmunternd" auf den Rücken und gröhlen dabei.
Das sind die, die dann um sieben Uhr morgens selbst irgendwo von einem Rettungssanitäter aus ihrer eigenen Kotzlache in einen RTW gehievt und ins nächste Krankenhaus verbracht werden und dann später damit prahlen, wieviel sie gesoffen haben und wie sehr die Ladies sie liebten. Das Einnässen im Suff wird aber verschwiegen. Besser ist das.
Das Gedränge ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, vollkommen abstrus wird die Situation, wenn im Hardcore-Gedränge plötzlich ein Kinderwagen samt darin liegendem und wohl ob der Lautstärke weinendem Säugling auftaucht, dem die Mutter ständig "Ist ja gut, ist ja gut, ist ja gut!" entgegen ruft und sonst nichts tut, während der männliche Part, Kindsvater oder nicht - vermutlich eher nicht oder zumindest einer von mehreren Kandidaten - den Weg Richtung Mittelpunkt des Geschehens frei räumt. Er, sein Weibchen und der Zwerg müssen definintiv mitten rein ins krasseste Hauen und Stechen, das ich seit ganz langer Zeit erlebt habe.
Kurz nach 23 Uhr, mein Kind ist wenn's hoch kommt ein Jahr alt...klar, das nehm ich mit zu einem Event in der Schanze, die Entscheidung liegt auf der Hand, da lernt die Brut direkt mal, mit Lautstärke umzugehen. Wenn Mama und Papa sich dann irgendwann später wegen den Unterhaltszahlungen streiten und anschreien, kennt das Kind das schon und schläft trotz Geschrei trotzdem ein. Ein nahezu perfekter Plan.
Auch zwei Rollstuhlfahrer versuchen, sich den Weg durch die Menge zu bahnen, was zentimeterweise funktioniert. Statt wie ich Ellenbögen bekommen sie alle paar Sekunden ein Hinterteil an den Kopf oder ins Gesicht gedrückt. Spaß kann das nicht machen, es sei denn, man steht drauf. Arschkontakt der etwas anderen Art.
Das Konzert neigte sich seinem Ende zu, das Gedränge nahm aber nicht ab sondern eher noch zu.
Mitdenkend wie ich nunmal bin, wollte ich kurz vor Ende des Konzerts den Heimweg antreten, um eine halbwegs komfortable Heimreise zu haben und nicht auch noch in der Bahn mit Wildfremden kuscheln zu müssen.
Der gleiche Gedanke wie zum Beispiel im Fußballstadion. Man geht nicht in der Halbzeit pissen oder neues Bier holen, man geht ein paar Minuten früher und hat so ziemlich seine Ruhe, weil immer noch neunzig Prozent aller anderen nicht gecheckt haben, daß das eine recht geschmeidige Lösung ist, auch wenn man immer Gefahr läuft, etwas zu verpassen. Im Stadion schlimmstenfalls ein Tor des Herzensvereins, beim Konzert den Lieblingssong.
Aber meiner wurde ja heut bereits gespielt. Also ab dafür. Nach Hause, rein in die Wohlfühlklamotten, noch ein Glas Wein und vielleicht mal wieder den Lieblingsfilm schauen.
Schöner Plan, hätte ja klappen können.
Ich wollte mich grad ins Gedränge stürzen und mir mit eigenem Ellenbogeneinsatz einen Weg heraus erarbeiten, ich freute mich fast darauf, endlich auch mal austeilen zu können anstatt die ganze Zeit nur zu kassieren, da sah ich in einem Meter Entfernung in der Menge ein Gesicht.
Ein Mädchen, vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht jünger. Kalkweiß wie Frosty der Schneemann, hektisch nach Luft japsend, nah am Hyperventilieren, die Augen tränengefüllt, die langen Haare klebten verschwitzt an der Stirn.
Ich war auf genug Konzerten, um zu wissen wie Menschen aussehen, die bis fast zur Erschöpfung vor der Bühne herumgetobt haben. Denen blitzt die Extase aus den Augen und das Adrenalin tropft aus jeder Pore. Die wollen mehr.
In diesem bleichen Gesicht stand die blanke Panik, sowas habe ich zuletzt auf Videoaufnahmen der Love Parade 2010 gesehen.
Es tat sich eine Lücke in der Masse der drängelnden Leiber auf und das Mädchen fiel mir und dem Typen neben mir, der, wie sich kurz darauf herausstellte, zufällig auch noch Mediziner war, quasi direkt in die Arme. Sie hat sich also wohl den bestmöglichen Platz für ihren Kollaps ausgesucht - insofern es so etwas denn gibt.
Eine Viertelstunde später, nachdem das Mädel aus dem Gedränge hinausgeschafft und den patrouillierenden Sanitätern übergeben worden war, wurde mir von meinem Kumpanen noch ein Jägermeister aufgenötigt.
"Auf unsere gute Tat!".
Wenn ein Jägermeister-Shot die Belohnung für "gute Taten" ist, dann war diese definitiv meine letzte!
Jägermeister, pfui Teufel!
Außerdem seh ich die "gute Tat" bis heut auch nicht wirklich.
Endlich auf dem Heimweg gab es in der U-Bahn den zweiten Teil der "Belohnung".
Ölsardinenbüchsenfeeling, umfallen unmöglich. Schweißaustausch. Bier-und-Dönergeruch in der stickigen U-Bahn-Luft.
Ich wollte doch einfach nur nach Hause...
Vom Bahnhof Barmbek aus laufe ich. Frische Luft und weit und breit kein Mensch im näheren Umkreis, der schubst, rempelt, gröhlt.
Ich breite, während ich die Straße entlang laufe, die Arme aus und freue mich, nichts zu spüren, keine drängelnden Körper, keine verschwitzten Klamotten, keine fremden Ärsche. Einfach nur nichts.
Daß das Handy just in diesem Moment zu einem Lied der Beginner skippt, wird sicherlich nur Zufall sein.
Labels: Mitten im Leben, Nahverkehrsgeschichten,
Irrsinn,
Musike/Konzerte
Mittwoch, 30. Juli 2014
Diggie und die Schanze
Ich sitze auf einer Treppe im Schanzenviertel, neben mir in der Ecke liegt noch der von anderen zurückgelassene Unrat des vergangenen Tages. Eine leere Zigarettenschachtel, eine zerdrückte Coladose und eine Verpackung des Döner-Dealers um die Ecke, aus der eine Taube sich ihr Abendessen heraus pickt, als ich an komme.
Den darauffolgenden "Wer zuerst weg guckt, hat verloren!"-Wettstreit gegen sie gewinne ich spielend, denn in sowas bin ich gut. Also setze ich mich und sie pickt in stiller Koexistenz in meinem Rücken weiter.
Ich trinke ein Bier vom Kiosk nebenan, beobachte mal mehr und mal weniger interessiert und belustigt die, die an mir vorbei laufen und plane mit der besten Hamburg-Freundin kommende Unternehmungen.
Per WhatsApp, da sie krank zuhause im Bett liegt.
Es ist ein prima Abend.
Zumindest für mich, für sie wohl weniger.
Rechts neben mir lässt sich ein Schatten auf der Treppe nieder, die Taube flüchtet und drei Sekunden später reckt sich eine Hand samt Astra-Knolle zwischen mein Gesicht und das Display meines Handys.
"Prost Diggie!"
"Diggie"...
An sich mag ich den hamburger Schnack ja, meistens zumindest, aber "Diggie" geht absolut gar nicht.
Vor allem nicht von jemandem, den ich nicht ansatzweise kenne. Den ich bis dato nichtmal zu Gesicht bekommen, sondern nur als Schatten im Augenwinkel und als Hand mit Bierflasche vor meinem Gesicht wahrgenommen habe.
Blöderweise hängen meine Kopfhörer um meinen Hals, da ich nicht multitasking-fähig bin und ergo nicht gleichzeitig Musik hören und der rein platonischen besseren hamburger Hälfte sinnvolle Dinge schreiben kann, ich kann also nicht so tun, als hätte ich ihn nicht gehört.
Fuck, Anfängerfehler! Hätte ich doch die Kopfhörer trotzdem aufgesetzt, ob da wirklich Musik läuft, merkt ja eh niemand. Man kann ja immer so tun als ob.
Einen Moment lang starre ich die Hand mit der Bierflasche an, aber sie verschwindet leider nicht von selbst, obwohl ich mich sehr darauf konzentriere, sie verschwinden zu lassen.
Nach einem tiefen innerlichen Seufzer schaue ich nach rechts und da sitzt einer mit gegeltem Haar und Grinsefresse, der mich erwartungsvoll anschaut.
Offenbar sucht er einen neuen Freund.
Der will ich nicht sein.
Aber da ich gut erzogen wurde und manchmal ein bisschen zu wenig oder einfach gar nicht nach- oder mitdenke, stoße ich mit ihm an und lasse mich auf Small Talk ein.
Mein zweiter kapitaler Fehler innerhalb kürzester Zeit.
"Was machste denn hier, Diggie?"
"Es ist Wochenende, es ist warm, was soll ich groß machen? Trinke n Bier, guck mir die Leute an, komm bisschen runter. Und du so?"
Der dritte verheerende Fehler in Folge. Keine Fragen fragen, verdammt!!
Mein Verhalten erinnert mich spontan an das der brasilianischen Abwehrkette im Halbfinale. Vollkommen kopflos laufe ich ins Verderben.
Meine Antwort hätte natürlich anders lauten müssen. Irgendwas, das ihn vertreibt oder zumindest abschreckt.
"Ach, ich häng hier auf der kühlen Steinstufe ab, das ist total angenehm. Weisste, meine Drecks-Hämorrhoiden sind mal wieder so entzündet, Alter. Eitern wie bescheuert, echt! Und das brennt, ernsthaft, willste nicht haben! Aber eyh, wo wir doch jetzt Kumpels sind, vielleicht hilfst du mir beim Wechseln der Wundpflaster? Is schwer allein, ich seh da ja nix. Dunkle Seite des Mondes und so, haha. Verstehste?"
Das wäre eine gute Antwort gewesen. Nach dem zweiten Satz hätte ich meine Treppe wieder für mich und meine Ruhe zurück gehabt.
Und was antworte ich?
"Und du so?"
Kurz überlege ich noch, mir spontan selbst meine Bierflasche über den Schädel zu ziehen, aber es ist zu spät.
"Diggie, ich such Weiber! Aber nur geile! Mein Kumpel hat mich angerufen, sagte, er hat zwei Torten am Start, ich direkt rein ins Taxi und hergefahren, vom Kiez, Diggie, vom Kiez! Und dann? Sehen die Weiber aus wie Typen. Null Titten Diggie! Null!! Was soll das? Will der mich verarschen?? Ernsthaft Diggie, Tussen müssen Titten haben! Ernsthaft!"
Peng.
Meine rechte Gehirnhälfte ist direkt komplett betäubt, die linke schreit panisch nach mehr Bier, um das, was da garantiert noch nachkommen wird, ansatzweise anständig zu überstehen.
Eigentlich sollte ich meinen Rucksack nehmen und kommentarlos gehen, aber das ist hier irgendwie wie bei einem Unfall auf der Autobahn, da gucken auch immer alle und fühlen sich dabei und vor allem danach schlecht.
Man könnte es auch als eine Form der Selbstkasteiung betrachten, nur ohne Büßergürtel und blutige Striemen auf dem Rücken.
Dafür halt blutige Striemen in den Ohren und im Hirn...
Ich öffne ein neues Bier und höre mir an, was er so zu sagen hat.
Er wohnt direkt an der Reeperbahn, direkt mitten drin, da wo was geht, da wo man was starten kann, "wennde in Hamburg geil wohnen willst, geht das nur direkt in Pauli, Diggie!", er zwinkert mir verschwörerisch zu. "Is mal so ne Info für dich Diggie, is schwer als Neuling in Hamburg, Großstadt und so, klar, aber wenn was geht, dann aufm Kiez Diggie!"
Ich sage nichts, ich nicke nur und trinke.
Er schmeißt mir Quadratmeterzahlen und Mietpreise um die Ohren, bei denen mir schwindelig wird.
"Unter 100 Quadrat zieh ich gar nicht erst ein, Diggie, was soll das denn? Kann ich auch gleich auf der Strasse leben wie so'n Asi. Wir wohnen jetzt auf 140 zu zweit. 2200 warm, kannste nix sagen!"
Womit er vermutlich sogar Recht hat. 140 qm in der Lage für 2200€ dürften ein Schnäppchen sein. Wahrscheinlich ist sein Scheißhaus größer als mein Schlafzimmer. Und mit goldenen Fliesen gekachelt. Und während er auf dem Thron sitzt, fächelt ihm ein Haussklave mit einem Palmwedel Luft zu...
Ich nicke. Und trinke.
"Wo wohnst du denn?" will er wissen.
"Barmbek-Nord."
"Ok, Barmbek. Da soll es ja grad ziemlich bergauf gehen!"
Er klingt tatsächlich interessiert.
"Ja, das Viertel verändert sich. Da wird neu gebaut, vor allem aber saniert. Wie bekloppt. Altes raus, Neues rein, nur halt für die dreifache Miete dann. Das es bergauf geht, würd ich nicht sagen. Alteingesessene können sich ihre Wohnungen, in denen sie teilweise seit Jahrzehnten gelebt haben, nicht mehr leisten und müssen wegziehen. Irgendwo an den Stadtrand. Alte Menschen werden aus ihrem Lebenszentrum gedrängt. Mit "bergauf gehen" hat das in meinen Augen wenig zu tun. Im Gegenteil, ich find's ziemlich ätzend. Ich hab's nicht so mit Gentrifikation."
Das erzähle ich aber definitiv dem Falschen.
Er schaut mich an, als hätte ich mich grad als Marsianer geoutet und mir wären Tentakel aus den Nasenlöchern gewachsen.
"Ist doch geil!" sagt er. "Haben die halt Pech, wenn sie keine Kohle haben. Und wer will schon uralte Nachbarn? Ist doch scheißegal, wenn die weg sind, zieht da vielleicht ne geile Alte ein und lässt dich ran!"
Er freut sich diebisch über sein Wortspiel. Alte Nachbarin raus, geile Alte rein, haha, ein Knaller, ich kann kaum noch an mich halten...
Er grinst mich voller Erwartung an.
Ich soll jetzt applaudieren und ihm eine hohe Fünf anbieten, mindestens aber lachen. Und das lauthals. Bis zur Atemnot.
Ich sage nichts, sondern starre ihn wortlos an und exe mein Bier.
Er wirkt kurz verunsichert, fängt sich aber schnell. "Diggie, wenn Barmbek mal irgendwann cool ist, fahr ich vielleicht auch mal hin!"
Ich schaue, er überlegt, was nun zu tun ist. Ich höre die kleinen Rädchen in seinem Kopf förmlich rattern.
"Willste noch ein Bier Diggie? Ich hol was."
Bestechung, natürlich, die einfachste aller Lösungen.
"Ja, für mich ein Getränk mit irgendwas, das mein Hirn abschaltet und für dich bitte eins mit Arsen!" denke ich.
"Neeh danke, lass mal. Alles gut!" sage ich und habe trotzdem wenig später ein offenes Astra vor mir stehen.
"Kiez Diggie, da geht immer was", er labert einfach ohne Punkt und Komma weiter, als wäre er nie weg gewesen, "aufm Berg, am Albers-Platz, geilste Orte der Stadt!"
Jetzt verspüre ich kurz fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Wenn der Hamburger Berg und der Hans-Albers-Platz die für ihn besten Orte dieser Stadt sind, dann läuft bei ihm irgendwas ganz gehörig falsch. Aber das war ja bereits vorher klar.
Kurz überlege ich, ihn zu fragen, ob er den Park Fiction oder das Gelände auf der anderen Seite des alten Elbtunnels mit der grandiosen Aussicht auf die Landungsbrücken kennt...aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder.
So einer kennt solche Orte nicht. Er wüsste sie nicht zu würdigen. Und er hat sie auch gar nicht verdient.
Ich nippe am von ihm ausgegebenen Bier. Es schmeckt seltsam. Irgendwie eklig. Ob das am Käufer liegt?
Der legt wieder los.
"Diggie, aufm Berg findest du die derbsten Schlampen! Echt, derbe geil! Einen Longdrink und ich nehm die mit nach Hause, die Schlampen. Deswegen wohn ich ja da direkt da an der Reeperbahn!"
Natürlich, warum auch sonst. Ich nicke und trinke. Nein, das Bier schmeckt nicht. Aber es macht vieles ein bisschen egaler und das ist grad recht hilfreich.
Zwei Mädels laufen vorbei, er ruft "Hallo ihr!", packt mich unverhofft an der Schulter und zerrt mich zu sich heran. "Entschuldigung, wir sind nicht von hier, wo kann man denn hier gut feiern gehen?"
Ich fasse es nicht. Der Mistkerl macht einen auf Barney Stinson aus meiner Lieblingsserie und kopiert einen seiner Abschlepp-Moves. Allmählich reicht es mir.
"Oh, hmmm," die Blondine im Minirock überlegt. "Da gibt es echt viel hier in der Gegend" sagt sie, "Die Schanze ist voll angesagt, ich geh hier schon seit zwei Jahren hin! Ihr findet bestimmt was!"
"Seit zwei Jahren schon? Wow, Glückwunsch! Und was genau mit Medien machst du? Lass mich raten: Mode-Blog??"
Fast hätte ich es laut ausgesprochen und nicht nur gedacht.
"Ok und wohin geht ihr?" fragt er die beiden und lächelt.
Ein kaltes Lächeln.
So wie die Schlange das Kaninchen anlächelt, bevor sie zubeißt.
Das Püppchen kichert angetan, deutet dann aber wohl meine abwehrende Gestik in seinem Rücken richtig und antwortet irgendetwas Belangloses.
Dann dreht sie sich um und geht.
Ich grinse.
Er flucht.
"Diggie, in der Schanze gibt's echt nur prüde hässliche Weiber! Hätte ich die auf dem Berg getroffen, dann würd ich sie in einer halben Stunde in meiner Bude knallen. Schwöre ich! Mehr kann die eh nicht außer sich knallen lassen!"
Ich schaue ins Leere. Ich habe keine Lust mehr. Er ekelt mich an. Ich lege mir im Kopf ein paar Schimpfworte zurecht, die ich ihm gleich nacheinander vor den Schädel ballern will.
Dazu kommt es nicht mehr.
"Gregor, Diggie!!" Einer der grad vorbei lief, dreht sich um und schaut. Sie fallen sich in die Arme und ich spüre so etwas wie Erleichterung.
Wenn ich da jetzt nicht dazwischen funke, dann bin ich ihn endlich los, diesen ekelhaften Typen.
Sie reden. "Komm doch mit Diggie!" - "Kann nicht Diggie, in paar Stunden geht mein Flieger!" - "Flieger Diggie?" - "Ja Diggie, ich flieg nach Kapstadt Diggie!" - "Was geht ab Diggie, Kapstadt, warum das denn Diggie?" - "Ist cool da Diggie! Coole Leute! Coole Stadt! Ich hab echt wenig Zeit. Hab grad fertig gepackt und will mit meiner Mitbewohnerin gleich noch auf einen Cocktail los Diggie. Kommt doch mit, du und dein Kumpel!"
Ich lehne dankend ab. Gern hätte ich Gregor irgendwas wie "Schaff mir den Typen bloß vom Hals!!" zugerufen...der mir zugelaufene Proll-Psychopath ist aber bereits aufgesprungen und Feuer und Flamme für die Cocktail-Sache.
"Diggie, du hast ne Mitbewohnerin?? Ist die geil??"
Als Gregor zögernd bejaht, bin ich vergessen.
Endlich.
Mein notgeiler Sitznachbar packt Gregor an der Schulter und macht Meter. Gregor schaut mich über die Schulter nochmal mit einem verwirrt-entschuldigenden Blick an und ein bisschen tut er mir leid, weil er das neureiche und vor lauter Potenz strotzende Testosteronbündel nun an der Backe hat.
Vor allem aber bemitleide ich seine Mitbewohnerin, die noch nicht ahnt, was da auf sie zu kommt.
Ich lehne mich entspannt auf meiner Stufe zurück, blinzele ins Licht der nächststehenden Straßenlaterne und nippe am ausgegebenen Bier, das auf ein Mal gar nicht mehr so übel schmeckt.
Es kann von hier an nur wieder aufwärts gehen in dieser Nacht.
Den darauffolgenden "Wer zuerst weg guckt, hat verloren!"-Wettstreit gegen sie gewinne ich spielend, denn in sowas bin ich gut. Also setze ich mich und sie pickt in stiller Koexistenz in meinem Rücken weiter.
Ich trinke ein Bier vom Kiosk nebenan, beobachte mal mehr und mal weniger interessiert und belustigt die, die an mir vorbei laufen und plane mit der besten Hamburg-Freundin kommende Unternehmungen.
Per WhatsApp, da sie krank zuhause im Bett liegt.
Es ist ein prima Abend.
Zumindest für mich, für sie wohl weniger.
Rechts neben mir lässt sich ein Schatten auf der Treppe nieder, die Taube flüchtet und drei Sekunden später reckt sich eine Hand samt Astra-Knolle zwischen mein Gesicht und das Display meines Handys.
"Prost Diggie!"
"Diggie"...
An sich mag ich den hamburger Schnack ja, meistens zumindest, aber "Diggie" geht absolut gar nicht.
Vor allem nicht von jemandem, den ich nicht ansatzweise kenne. Den ich bis dato nichtmal zu Gesicht bekommen, sondern nur als Schatten im Augenwinkel und als Hand mit Bierflasche vor meinem Gesicht wahrgenommen habe.
Blöderweise hängen meine Kopfhörer um meinen Hals, da ich nicht multitasking-fähig bin und ergo nicht gleichzeitig Musik hören und der rein platonischen besseren hamburger Hälfte sinnvolle Dinge schreiben kann, ich kann also nicht so tun, als hätte ich ihn nicht gehört.
Fuck, Anfängerfehler! Hätte ich doch die Kopfhörer trotzdem aufgesetzt, ob da wirklich Musik läuft, merkt ja eh niemand. Man kann ja immer so tun als ob.
Einen Moment lang starre ich die Hand mit der Bierflasche an, aber sie verschwindet leider nicht von selbst, obwohl ich mich sehr darauf konzentriere, sie verschwinden zu lassen.
Nach einem tiefen innerlichen Seufzer schaue ich nach rechts und da sitzt einer mit gegeltem Haar und Grinsefresse, der mich erwartungsvoll anschaut.
Offenbar sucht er einen neuen Freund.
Der will ich nicht sein.
Aber da ich gut erzogen wurde und manchmal ein bisschen zu wenig oder einfach gar nicht nach- oder mitdenke, stoße ich mit ihm an und lasse mich auf Small Talk ein.
Mein zweiter kapitaler Fehler innerhalb kürzester Zeit.
"Was machste denn hier, Diggie?"
"Es ist Wochenende, es ist warm, was soll ich groß machen? Trinke n Bier, guck mir die Leute an, komm bisschen runter. Und du so?"
Der dritte verheerende Fehler in Folge. Keine Fragen fragen, verdammt!!
Mein Verhalten erinnert mich spontan an das der brasilianischen Abwehrkette im Halbfinale. Vollkommen kopflos laufe ich ins Verderben.
Meine Antwort hätte natürlich anders lauten müssen. Irgendwas, das ihn vertreibt oder zumindest abschreckt.
"Ach, ich häng hier auf der kühlen Steinstufe ab, das ist total angenehm. Weisste, meine Drecks-Hämorrhoiden sind mal wieder so entzündet, Alter. Eitern wie bescheuert, echt! Und das brennt, ernsthaft, willste nicht haben! Aber eyh, wo wir doch jetzt Kumpels sind, vielleicht hilfst du mir beim Wechseln der Wundpflaster? Is schwer allein, ich seh da ja nix. Dunkle Seite des Mondes und so, haha. Verstehste?"
Das wäre eine gute Antwort gewesen. Nach dem zweiten Satz hätte ich meine Treppe wieder für mich und meine Ruhe zurück gehabt.
Und was antworte ich?
"Und du so?"
Kurz überlege ich noch, mir spontan selbst meine Bierflasche über den Schädel zu ziehen, aber es ist zu spät.
"Diggie, ich such Weiber! Aber nur geile! Mein Kumpel hat mich angerufen, sagte, er hat zwei Torten am Start, ich direkt rein ins Taxi und hergefahren, vom Kiez, Diggie, vom Kiez! Und dann? Sehen die Weiber aus wie Typen. Null Titten Diggie! Null!! Was soll das? Will der mich verarschen?? Ernsthaft Diggie, Tussen müssen Titten haben! Ernsthaft!"
Peng.
Meine rechte Gehirnhälfte ist direkt komplett betäubt, die linke schreit panisch nach mehr Bier, um das, was da garantiert noch nachkommen wird, ansatzweise anständig zu überstehen.
Eigentlich sollte ich meinen Rucksack nehmen und kommentarlos gehen, aber das ist hier irgendwie wie bei einem Unfall auf der Autobahn, da gucken auch immer alle und fühlen sich dabei und vor allem danach schlecht.
Man könnte es auch als eine Form der Selbstkasteiung betrachten, nur ohne Büßergürtel und blutige Striemen auf dem Rücken.
Dafür halt blutige Striemen in den Ohren und im Hirn...
Ich öffne ein neues Bier und höre mir an, was er so zu sagen hat.
Er wohnt direkt an der Reeperbahn, direkt mitten drin, da wo was geht, da wo man was starten kann, "wennde in Hamburg geil wohnen willst, geht das nur direkt in Pauli, Diggie!", er zwinkert mir verschwörerisch zu. "Is mal so ne Info für dich Diggie, is schwer als Neuling in Hamburg, Großstadt und so, klar, aber wenn was geht, dann aufm Kiez Diggie!"
Ich sage nichts, ich nicke nur und trinke.
Er schmeißt mir Quadratmeterzahlen und Mietpreise um die Ohren, bei denen mir schwindelig wird.
"Unter 100 Quadrat zieh ich gar nicht erst ein, Diggie, was soll das denn? Kann ich auch gleich auf der Strasse leben wie so'n Asi. Wir wohnen jetzt auf 140 zu zweit. 2200 warm, kannste nix sagen!"
Womit er vermutlich sogar Recht hat. 140 qm in der Lage für 2200€ dürften ein Schnäppchen sein. Wahrscheinlich ist sein Scheißhaus größer als mein Schlafzimmer. Und mit goldenen Fliesen gekachelt. Und während er auf dem Thron sitzt, fächelt ihm ein Haussklave mit einem Palmwedel Luft zu...
Ich nicke. Und trinke.
"Wo wohnst du denn?" will er wissen.
"Barmbek-Nord."
"Ok, Barmbek. Da soll es ja grad ziemlich bergauf gehen!"
Er klingt tatsächlich interessiert.
"Ja, das Viertel verändert sich. Da wird neu gebaut, vor allem aber saniert. Wie bekloppt. Altes raus, Neues rein, nur halt für die dreifache Miete dann. Das es bergauf geht, würd ich nicht sagen. Alteingesessene können sich ihre Wohnungen, in denen sie teilweise seit Jahrzehnten gelebt haben, nicht mehr leisten und müssen wegziehen. Irgendwo an den Stadtrand. Alte Menschen werden aus ihrem Lebenszentrum gedrängt. Mit "bergauf gehen" hat das in meinen Augen wenig zu tun. Im Gegenteil, ich find's ziemlich ätzend. Ich hab's nicht so mit Gentrifikation."
Das erzähle ich aber definitiv dem Falschen.
Er schaut mich an, als hätte ich mich grad als Marsianer geoutet und mir wären Tentakel aus den Nasenlöchern gewachsen.
"Ist doch geil!" sagt er. "Haben die halt Pech, wenn sie keine Kohle haben. Und wer will schon uralte Nachbarn? Ist doch scheißegal, wenn die weg sind, zieht da vielleicht ne geile Alte ein und lässt dich ran!"
Er freut sich diebisch über sein Wortspiel. Alte Nachbarin raus, geile Alte rein, haha, ein Knaller, ich kann kaum noch an mich halten...
Er grinst mich voller Erwartung an.
Ich soll jetzt applaudieren und ihm eine hohe Fünf anbieten, mindestens aber lachen. Und das lauthals. Bis zur Atemnot.
Ich sage nichts, sondern starre ihn wortlos an und exe mein Bier.
Er wirkt kurz verunsichert, fängt sich aber schnell. "Diggie, wenn Barmbek mal irgendwann cool ist, fahr ich vielleicht auch mal hin!"
Ich schaue, er überlegt, was nun zu tun ist. Ich höre die kleinen Rädchen in seinem Kopf förmlich rattern.
"Willste noch ein Bier Diggie? Ich hol was."
Bestechung, natürlich, die einfachste aller Lösungen.
"Ja, für mich ein Getränk mit irgendwas, das mein Hirn abschaltet und für dich bitte eins mit Arsen!" denke ich.
"Neeh danke, lass mal. Alles gut!" sage ich und habe trotzdem wenig später ein offenes Astra vor mir stehen.
"Kiez Diggie, da geht immer was", er labert einfach ohne Punkt und Komma weiter, als wäre er nie weg gewesen, "aufm Berg, am Albers-Platz, geilste Orte der Stadt!"
Jetzt verspüre ich kurz fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Wenn der Hamburger Berg und der Hans-Albers-Platz die für ihn besten Orte dieser Stadt sind, dann läuft bei ihm irgendwas ganz gehörig falsch. Aber das war ja bereits vorher klar.
Kurz überlege ich, ihn zu fragen, ob er den Park Fiction oder das Gelände auf der anderen Seite des alten Elbtunnels mit der grandiosen Aussicht auf die Landungsbrücken kennt...aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder.
So einer kennt solche Orte nicht. Er wüsste sie nicht zu würdigen. Und er hat sie auch gar nicht verdient.
Ich nippe am von ihm ausgegebenen Bier. Es schmeckt seltsam. Irgendwie eklig. Ob das am Käufer liegt?
Der legt wieder los.
"Diggie, aufm Berg findest du die derbsten Schlampen! Echt, derbe geil! Einen Longdrink und ich nehm die mit nach Hause, die Schlampen. Deswegen wohn ich ja da direkt da an der Reeperbahn!"
Natürlich, warum auch sonst. Ich nicke und trinke. Nein, das Bier schmeckt nicht. Aber es macht vieles ein bisschen egaler und das ist grad recht hilfreich.
Zwei Mädels laufen vorbei, er ruft "Hallo ihr!", packt mich unverhofft an der Schulter und zerrt mich zu sich heran. "Entschuldigung, wir sind nicht von hier, wo kann man denn hier gut feiern gehen?"
Ich fasse es nicht. Der Mistkerl macht einen auf Barney Stinson aus meiner Lieblingsserie und kopiert einen seiner Abschlepp-Moves. Allmählich reicht es mir.
"Oh, hmmm," die Blondine im Minirock überlegt. "Da gibt es echt viel hier in der Gegend" sagt sie, "Die Schanze ist voll angesagt, ich geh hier schon seit zwei Jahren hin! Ihr findet bestimmt was!"
"Seit zwei Jahren schon? Wow, Glückwunsch! Und was genau mit Medien machst du? Lass mich raten: Mode-Blog??"
Fast hätte ich es laut ausgesprochen und nicht nur gedacht.
"Ok und wohin geht ihr?" fragt er die beiden und lächelt.
Ein kaltes Lächeln.
So wie die Schlange das Kaninchen anlächelt, bevor sie zubeißt.
Das Püppchen kichert angetan, deutet dann aber wohl meine abwehrende Gestik in seinem Rücken richtig und antwortet irgendetwas Belangloses.
Dann dreht sie sich um und geht.
Ich grinse.
Er flucht.
"Diggie, in der Schanze gibt's echt nur prüde hässliche Weiber! Hätte ich die auf dem Berg getroffen, dann würd ich sie in einer halben Stunde in meiner Bude knallen. Schwöre ich! Mehr kann die eh nicht außer sich knallen lassen!"
Ich schaue ins Leere. Ich habe keine Lust mehr. Er ekelt mich an. Ich lege mir im Kopf ein paar Schimpfworte zurecht, die ich ihm gleich nacheinander vor den Schädel ballern will.
Dazu kommt es nicht mehr.
"Gregor, Diggie!!" Einer der grad vorbei lief, dreht sich um und schaut. Sie fallen sich in die Arme und ich spüre so etwas wie Erleichterung.
Wenn ich da jetzt nicht dazwischen funke, dann bin ich ihn endlich los, diesen ekelhaften Typen.
Sie reden. "Komm doch mit Diggie!" - "Kann nicht Diggie, in paar Stunden geht mein Flieger!" - "Flieger Diggie?" - "Ja Diggie, ich flieg nach Kapstadt Diggie!" - "Was geht ab Diggie, Kapstadt, warum das denn Diggie?" - "Ist cool da Diggie! Coole Leute! Coole Stadt! Ich hab echt wenig Zeit. Hab grad fertig gepackt und will mit meiner Mitbewohnerin gleich noch auf einen Cocktail los Diggie. Kommt doch mit, du und dein Kumpel!"
Ich lehne dankend ab. Gern hätte ich Gregor irgendwas wie "Schaff mir den Typen bloß vom Hals!!" zugerufen...der mir zugelaufene Proll-Psychopath ist aber bereits aufgesprungen und Feuer und Flamme für die Cocktail-Sache.
"Diggie, du hast ne Mitbewohnerin?? Ist die geil??"
Als Gregor zögernd bejaht, bin ich vergessen.
Endlich.
Mein notgeiler Sitznachbar packt Gregor an der Schulter und macht Meter. Gregor schaut mich über die Schulter nochmal mit einem verwirrt-entschuldigenden Blick an und ein bisschen tut er mir leid, weil er das neureiche und vor lauter Potenz strotzende Testosteronbündel nun an der Backe hat.
Vor allem aber bemitleide ich seine Mitbewohnerin, die noch nicht ahnt, was da auf sie zu kommt.
Ich lehne mich entspannt auf meiner Stufe zurück, blinzele ins Licht der nächststehenden Straßenlaterne und nippe am ausgegebenen Bier, das auf ein Mal gar nicht mehr so übel schmeckt.
Es kann von hier an nur wieder aufwärts gehen in dieser Nacht.
Labels: Mitten im Leben, Nahverkehrsgeschichten,
Hamburg hates me/I hate back,
Irrsinn,
Menschen
Samstag, 7. Juni 2014
Die berliner Polizei twittert...
...und ich lese mit!
Gestern Abend um 20 Uhr hat die berliner Polizei eine Aktion gestartet. 24 Stunden lang sollen alle einkommenden Notrufe, die zu Einsätzen führen, unter #PolizeiBerlin_E getwittert werden. Welchen Grund diese Aktion hat, weiß ich nicht. Nähe zum Volk? Aufzeigen, wie cool der Polizisten-Job ist? Keine Ahnung.
Die Aktion läuft zumindest noch bis 20 Uhr am heutigen Tag und ich habe in der zurückliegenden Nacht etwas mitgelesen, nachdem ich meinen Twitter-Account wiederentdeckt hatte. Das war recht spannend und manchmal auch recht lustig! Verrückt, was der durchschnittliche Polizeibeamte in der Hauptstadt so in einer Nachtschicht erlebt.
Ich dachte mir dann, dass das evtl auch andere interessieren oder belustigen könnte, also habe ich den Twitter-Account alle zwanzig Minuten aktualisiert und mir meine Highlights heraus gepickt...
...vielleicht mag sie außer mir ja sonst noch wer.
(Die Zitate habe ich vom Twitter-Account "PolizeiBerlin_E" übernommen, eventuelle Rechtschreibfehler und auch die konsequent weggelassenen Doppelpunkte nach den Uhrzeiten sind also nicht auf meinem Mist gewachsen!)...
"20.12 Uhr Kinder werfen mit wassergefüllte Luftballons aus dem dritten Stockwerk eines Wohnhauses."
Das finde ich total nett bei den furchtbaren Temperaturen heute und vermutlich in den kommenden Tagen. Die meinen es sicherlich nur gut...!
"21.06 Uhr Jungs spielen Fußball gegen eine Wand. Nachbarn fühlen sich gestört."
Da freu ich mich doch wieder darüber, dass ich im niedersächsischen Nichts aufgewachsen bin. Stundenlang haben mein bester Freund und ich die Pille gegen die Wand oder wahlweise (das hallte noch toller) gegen das geschlossene Garagentor gedroschen. Beschwert hat sich nie jemand. Außer bei dem einen Mal, als ich meinen neuen Lederball volley im Schlafzimmerfenster meiner Großeltern versenkt habe. Meine Oma hat fürchterlich geschimpft, mein Vater klopfte mir später in einem unbeobachteten Moment anerkennend auf die Schulter. "Toller Schuss!"
"21.12 Uhr Hausfriedensbruch in Gesundbrunnen. Schüler betreten nach Schulschluss das Gelände ihrer Schule."
Auf so eine verrückte Idee wäre ich damals NIE gekommen! Die können unmöglich Gutes im Schilde geführt haben!
"21.25 Uhr Entwarnung im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Wohnhausbrand. Kräfte melden angebranntes Hundefutter."
Das verstört mich auf so vielen Ebenen...angebranntes Hundefutter? Warum?!?
"21.27 Uhr Verdacht auf BTM-Handel in Kreuzberg."
BTM-Handel? In Kreuzberg?? Das kam jetzt unerwartet...
"21.31 Uhr Ein schwedischer PKW ist auf einer türkischen Hochzeit in einen Verkehrsunfall verwickelt."
Köttbullar trifft Döner Kebab. Klingt wie eine neue Idee vom überbewerteten und vor allem unfassbar überteuerten Döner-Dealer um die Ecke. "Döner Sweden" mit Fleischbällchen, Kartoffelpüree und Preißelbeersoße. Zuzutrauen ist es dem Laden. Es gibt bereits "Döner Germany" mit Pommes und Mayo drin oder "Döner South Africa" mit Karotten, Erdnussbutter und Rosinen. Wer denkt sich sowas aus??
Jetzt kommt einer meiner Favoriten, obwohl die Twitter-Session der berliner Polizei grad mal angefangen hat.
"21.48 Uhr Anrufer meldet Tier in Notlage, ein Rabe kämpft mit dem Tod."
Das ist erstmal gar nicht schön.
Bis die Auflösung folgt.
"0.11 Uhr Rabe wohlauf, er befand sich in keiner Notlage, sondern war auf der Balz."
Ich habe Tränen gelacht!! Ich weiß nun nicht, wie so ein notgeiler Rabe sich anhört oder verhält, aber das muss ja mitleiderregend sein! Die berliner Polizei löste diesen hochspeziellen Fall in unter 2,5 Stunden, auch dazu sei an dieser Stelle gratuliert!
"21.52 Deutschland - Armenien 1:0! Parallel läuft ein Polizeieinsatz wegen Abbrennens von Böllern."
Bei mir in Hamburg-Barmbek wurde auch geböllert. Aber erst knappe 20 Minuten später nach dem Ausgleich der Armenier. Ich hörte auch fremdsprachiges Jubeln aus einer Nebenstraße. Noch bevor beides ein Ende hatte, stand es dann allerdings 3-1 für "Schlaaand". Nicht, dass ich das gut fand, lustig war es aber allemal.
"23.57 Uhr Die Feuerwehr und die Polizei haben sich erneut angebrannten Essen angenommen."
Zumindest war es dieses Mal kein Hundefutter...
"0.22 Uhr Diebstahl im Dönerladen."
Da frag ich mich...war es ein Griff in die Kasse oder ein Döner ohne alles, vor allem ohne bezahlen? "Diebstahl im Dönerladen" könnte aber auch das neue Album von Bushido oder einem seiner Konsorten heißen. Von Haftbefehl oder Bass Sultan Hengzt oder anderen "Musikern". Oder von Massiv! Was ist aus dem eigentlich geworden? Massiv, das menschgewordene Steroid. Der nicht-grüne Hulk. Der "rappende" Wandschrank.
"0.49 Uhr Motorradfahrer liefern sich Rennen in Mitte. Waren tatsächlich schneller als wir."
Diese mitschwingende Selbstironie finde ich gut. Eigentlich fehlt nur der Zwinker-Smilie am Ende des Tweets.
"1.33 Uhr Zwei Exhibitionisten in Schöneberg auf einem Parkplatz."
Wait, what?? Ist das eventuell ein Duell? Womöglich kreuzen die die Schwerter?!?
"1.35 Uhr Ein Einbruch hat nicht stattgefunden!"
Beruhigend. Hier auch nicht. Aber schön, dass das mal jemand ausgesprochen hat!
"1.36 Uhr Ein Mann in Charlottenburg hört Glas klirren vor seinem Haus. Ein Fahrradfahrer befindet sich auf dem Gehweg."
Uniformierte eilen herbei.
Taschenlampen durchstrahlen die Nacht.
Ein Kind weint.
Ein Fuchs furzt.
Gefunden wurde
nichts.
...
Vorhang. Applaus. Standing ovations. Poetry corner: Ende.
"2.20 Uhr Eine Frau hört Rascheln und ein Bewegungsmelder geht an. Wir konnten nichts feststellen."
Hier meine Verdächtigen in loser Reihenfolge: Hund, Kaninchen, Eule, Katze, Fuchs, Rabe, Wildschwein, Eichhörnchen, Reh, Alien und zu guter letzt: schwerstkrimineller masochistischer meuchelmördernder Einbrecher. Ich tippe definitiv auf letzteren.
"2.56 Uhr Zwei Betrunkene mit dem Kleinwagen in Neukölln auf dem Gehweg unterwegs."
Safety first, auf der Straße ist so ein Kleinwagen doch auch viel zu gefährlich, vor allem wenn man betrunken ist! Und Fußgänger machen keine großen Beulen, das geht schon noch.
"3.19 Uhr In einem Massagesalon in Neukölln ist ein Streit über die Bezahlung entbrannt."
Massagesalon. Um zwanzig nach drei in der Nacht? Is klar... Streit über die Bezahlung? Vermutlich kostete das "happy end" extra.
"3.40 Uhr Ein Mann in Kreuzberg hört gerade noch wie jemand fremdes seinen Roller startet. Jetzt ist er weg. Gestohlen."
Wer jetzt? Der Mann oder der Roller? Entweder hat jemand einen Verlust zu beklagen - oder in Kreuzberg wird eine Wohnung frei! Yippieh!
"3.47 Uhr Radfahrer mit Handy am Ohr auf der Autobahn unterwegs."
Geil, das sind geschätzte zehn Verstöße gegen die StvO auf ein Mal! Respekt!! Ich hab nur drei auf ein Mal geschafft. Aber wie dicht muss man sein, um mit dem Rad auf der berliner Stadtautobahn zu landen?? Ich war mal mit nem Fiat auf der bonner Stadtautobahn und selbst das fühlte sich falsch an...
"4.22 Uhr Auf der Jannowitzbrücke versuchen 2-3 Personen ein Handy zu rauben. Das Opfer wirft es aber lieber ins Wasser."
Dazu sag ich mal einfach nichts außer: Respekt! Mein erster Reflex wäre Flucht. Der zwote wäre die Herausgabe des Handys. Auf den Gedanken, das "erwünschte" Diebesgut ins Wasser zu werfen, käme ich gar nicht erst, denn dann gäb es vermutlich von den Räubern erst recht auf die Fresse, weil sie sich verarscht fühlen. Und als Zugabe ist das Handy eh weg. Glückwunsch.
"4.25 Uhr Ein unbekannter Spaßvogel in Kreuzberg hat bereits zugeschlossene Fahrräder zusätzlich mit einem Schloss versehen."
Ich find das zwar irgendwie witzig, aber ich schwöre: Ich war`s nicht! Ehrlich! Können diese Augen lügen...?
Und jetzt mein Highlight:
"4.30 Uhr Im Prenzlauer Berg nimmt ein Einkaufswagen, mit 1 Person besetzt und von 2 Personen geschoben, am Straßenverkehr teil."
Mir laufen die Lachtränen runter! Wie stumpf und trocken ist das bitte formuliert?? Mit nem Einkaufswagen "am Verkehr teilgenommen" habe ich auch schon, nicht in Berlin sondern in Oldenburg, lang lang ist`s her. Das beeindruckt mich also nicht wirklich.
Aber diese (gewollt?) furztrockene Beamtensprache ist einfach an Komik nicht zu überbieten!
GRAN-DI-OS!!
An sich wollte ich bis um fünf Uhr früh den Live-Ticker mitlesen, aber ich bin mir sicher, dass das für die Nacht das letzte "Highlight" war - zumindest für mich.
Vielleicht les ich mich kommende Nacht noch durch die kommenden zighundert Tweets und bastele noch ein weiteres persönliches "Best of", wer weiß. Ich schau erstmal, wie dieses so ankommt.
Bis hierhin danke ich auf jeden Fall der berliner Polizei für Einblicke in ihren Arbeitsalltag und einige (zumindest für mich) lustige Anekdoten. Sehr coole Aktion meiner Meinung nach. Ich hoffe, alle Beamten kommen sicher nach Hause.
Gestern Abend um 20 Uhr hat die berliner Polizei eine Aktion gestartet. 24 Stunden lang sollen alle einkommenden Notrufe, die zu Einsätzen führen, unter #PolizeiBerlin_E getwittert werden. Welchen Grund diese Aktion hat, weiß ich nicht. Nähe zum Volk? Aufzeigen, wie cool der Polizisten-Job ist? Keine Ahnung.
Die Aktion läuft zumindest noch bis 20 Uhr am heutigen Tag und ich habe in der zurückliegenden Nacht etwas mitgelesen, nachdem ich meinen Twitter-Account wiederentdeckt hatte. Das war recht spannend und manchmal auch recht lustig! Verrückt, was der durchschnittliche Polizeibeamte in der Hauptstadt so in einer Nachtschicht erlebt.
Ich dachte mir dann, dass das evtl auch andere interessieren oder belustigen könnte, also habe ich den Twitter-Account alle zwanzig Minuten aktualisiert und mir meine Highlights heraus gepickt...
...vielleicht mag sie außer mir ja sonst noch wer.
(Die Zitate habe ich vom Twitter-Account "PolizeiBerlin_E" übernommen, eventuelle Rechtschreibfehler und auch die konsequent weggelassenen Doppelpunkte nach den Uhrzeiten sind also nicht auf meinem Mist gewachsen!)...
"20.12 Uhr Kinder werfen mit wassergefüllte Luftballons aus dem dritten Stockwerk eines Wohnhauses."
Das finde ich total nett bei den furchtbaren Temperaturen heute und vermutlich in den kommenden Tagen. Die meinen es sicherlich nur gut...!
"21.06 Uhr Jungs spielen Fußball gegen eine Wand. Nachbarn fühlen sich gestört."
Da freu ich mich doch wieder darüber, dass ich im niedersächsischen Nichts aufgewachsen bin. Stundenlang haben mein bester Freund und ich die Pille gegen die Wand oder wahlweise (das hallte noch toller) gegen das geschlossene Garagentor gedroschen. Beschwert hat sich nie jemand. Außer bei dem einen Mal, als ich meinen neuen Lederball volley im Schlafzimmerfenster meiner Großeltern versenkt habe. Meine Oma hat fürchterlich geschimpft, mein Vater klopfte mir später in einem unbeobachteten Moment anerkennend auf die Schulter. "Toller Schuss!"
"21.12 Uhr Hausfriedensbruch in Gesundbrunnen. Schüler betreten nach Schulschluss das Gelände ihrer Schule."
Auf so eine verrückte Idee wäre ich damals NIE gekommen! Die können unmöglich Gutes im Schilde geführt haben!
"21.25 Uhr Entwarnung im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Wohnhausbrand. Kräfte melden angebranntes Hundefutter."
Das verstört mich auf so vielen Ebenen...angebranntes Hundefutter? Warum?!?
"21.27 Uhr Verdacht auf BTM-Handel in Kreuzberg."
BTM-Handel? In Kreuzberg?? Das kam jetzt unerwartet...
"21.31 Uhr Ein schwedischer PKW ist auf einer türkischen Hochzeit in einen Verkehrsunfall verwickelt."
Köttbullar trifft Döner Kebab. Klingt wie eine neue Idee vom überbewerteten und vor allem unfassbar überteuerten Döner-Dealer um die Ecke. "Döner Sweden" mit Fleischbällchen, Kartoffelpüree und Preißelbeersoße. Zuzutrauen ist es dem Laden. Es gibt bereits "Döner Germany" mit Pommes und Mayo drin oder "Döner South Africa" mit Karotten, Erdnussbutter und Rosinen. Wer denkt sich sowas aus??
Jetzt kommt einer meiner Favoriten, obwohl die Twitter-Session der berliner Polizei grad mal angefangen hat.
"21.48 Uhr Anrufer meldet Tier in Notlage, ein Rabe kämpft mit dem Tod."
Das ist erstmal gar nicht schön.
Bis die Auflösung folgt.
"0.11 Uhr Rabe wohlauf, er befand sich in keiner Notlage, sondern war auf der Balz."
Ich habe Tränen gelacht!! Ich weiß nun nicht, wie so ein notgeiler Rabe sich anhört oder verhält, aber das muss ja mitleiderregend sein! Die berliner Polizei löste diesen hochspeziellen Fall in unter 2,5 Stunden, auch dazu sei an dieser Stelle gratuliert!
"21.52 Deutschland - Armenien 1:0! Parallel läuft ein Polizeieinsatz wegen Abbrennens von Böllern."
Bei mir in Hamburg-Barmbek wurde auch geböllert. Aber erst knappe 20 Minuten später nach dem Ausgleich der Armenier. Ich hörte auch fremdsprachiges Jubeln aus einer Nebenstraße. Noch bevor beides ein Ende hatte, stand es dann allerdings 3-1 für "Schlaaand". Nicht, dass ich das gut fand, lustig war es aber allemal.
"23.57 Uhr Die Feuerwehr und die Polizei haben sich erneut angebrannten Essen angenommen."
Zumindest war es dieses Mal kein Hundefutter...
"0.22 Uhr Diebstahl im Dönerladen."
Da frag ich mich...war es ein Griff in die Kasse oder ein Döner ohne alles, vor allem ohne bezahlen? "Diebstahl im Dönerladen" könnte aber auch das neue Album von Bushido oder einem seiner Konsorten heißen. Von Haftbefehl oder Bass Sultan Hengzt oder anderen "Musikern". Oder von Massiv! Was ist aus dem eigentlich geworden? Massiv, das menschgewordene Steroid. Der nicht-grüne Hulk. Der "rappende" Wandschrank.
"0.49 Uhr Motorradfahrer liefern sich Rennen in Mitte. Waren tatsächlich schneller als wir."
Diese mitschwingende Selbstironie finde ich gut. Eigentlich fehlt nur der Zwinker-Smilie am Ende des Tweets.
"1.33 Uhr Zwei Exhibitionisten in Schöneberg auf einem Parkplatz."
Wait, what?? Ist das eventuell ein Duell? Womöglich kreuzen die die Schwerter?!?
"1.35 Uhr Ein Einbruch hat nicht stattgefunden!"
Beruhigend. Hier auch nicht. Aber schön, dass das mal jemand ausgesprochen hat!
"1.36 Uhr Ein Mann in Charlottenburg hört Glas klirren vor seinem Haus. Ein Fahrradfahrer befindet sich auf dem Gehweg."
Uniformierte eilen herbei.
Taschenlampen durchstrahlen die Nacht.
Ein Kind weint.
Ein Fuchs furzt.
Gefunden wurde
nichts.
...
Vorhang. Applaus. Standing ovations. Poetry corner: Ende.
"2.20 Uhr Eine Frau hört Rascheln und ein Bewegungsmelder geht an. Wir konnten nichts feststellen."
Hier meine Verdächtigen in loser Reihenfolge: Hund, Kaninchen, Eule, Katze, Fuchs, Rabe, Wildschwein, Eichhörnchen, Reh, Alien und zu guter letzt: schwerstkrimineller masochistischer meuchelmördernder Einbrecher. Ich tippe definitiv auf letzteren.
"2.56 Uhr Zwei Betrunkene mit dem Kleinwagen in Neukölln auf dem Gehweg unterwegs."
Safety first, auf der Straße ist so ein Kleinwagen doch auch viel zu gefährlich, vor allem wenn man betrunken ist! Und Fußgänger machen keine großen Beulen, das geht schon noch.
"3.19 Uhr In einem Massagesalon in Neukölln ist ein Streit über die Bezahlung entbrannt."
Massagesalon. Um zwanzig nach drei in der Nacht? Is klar... Streit über die Bezahlung? Vermutlich kostete das "happy end" extra.
"3.40 Uhr Ein Mann in Kreuzberg hört gerade noch wie jemand fremdes seinen Roller startet. Jetzt ist er weg. Gestohlen."
Wer jetzt? Der Mann oder der Roller? Entweder hat jemand einen Verlust zu beklagen - oder in Kreuzberg wird eine Wohnung frei! Yippieh!
"3.47 Uhr Radfahrer mit Handy am Ohr auf der Autobahn unterwegs."
Geil, das sind geschätzte zehn Verstöße gegen die StvO auf ein Mal! Respekt!! Ich hab nur drei auf ein Mal geschafft. Aber wie dicht muss man sein, um mit dem Rad auf der berliner Stadtautobahn zu landen?? Ich war mal mit nem Fiat auf der bonner Stadtautobahn und selbst das fühlte sich falsch an...
"4.22 Uhr Auf der Jannowitzbrücke versuchen 2-3 Personen ein Handy zu rauben. Das Opfer wirft es aber lieber ins Wasser."
Dazu sag ich mal einfach nichts außer: Respekt! Mein erster Reflex wäre Flucht. Der zwote wäre die Herausgabe des Handys. Auf den Gedanken, das "erwünschte" Diebesgut ins Wasser zu werfen, käme ich gar nicht erst, denn dann gäb es vermutlich von den Räubern erst recht auf die Fresse, weil sie sich verarscht fühlen. Und als Zugabe ist das Handy eh weg. Glückwunsch.
"4.25 Uhr Ein unbekannter Spaßvogel in Kreuzberg hat bereits zugeschlossene Fahrräder zusätzlich mit einem Schloss versehen."
Ich find das zwar irgendwie witzig, aber ich schwöre: Ich war`s nicht! Ehrlich! Können diese Augen lügen...?
Und jetzt mein Highlight:
"4.30 Uhr Im Prenzlauer Berg nimmt ein Einkaufswagen, mit 1 Person besetzt und von 2 Personen geschoben, am Straßenverkehr teil."
Mir laufen die Lachtränen runter! Wie stumpf und trocken ist das bitte formuliert?? Mit nem Einkaufswagen "am Verkehr teilgenommen" habe ich auch schon, nicht in Berlin sondern in Oldenburg, lang lang ist`s her. Das beeindruckt mich also nicht wirklich.
Aber diese (gewollt?) furztrockene Beamtensprache ist einfach an Komik nicht zu überbieten!
GRAN-DI-OS!!
An sich wollte ich bis um fünf Uhr früh den Live-Ticker mitlesen, aber ich bin mir sicher, dass das für die Nacht das letzte "Highlight" war - zumindest für mich.
Vielleicht les ich mich kommende Nacht noch durch die kommenden zighundert Tweets und bastele noch ein weiteres persönliches "Best of", wer weiß. Ich schau erstmal, wie dieses so ankommt.
Bis hierhin danke ich auf jeden Fall der berliner Polizei für Einblicke in ihren Arbeitsalltag und einige (zumindest für mich) lustige Anekdoten. Sehr coole Aktion meiner Meinung nach. Ich hoffe, alle Beamten kommen sicher nach Hause.
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