Freitag, 23. Oktober 2015

Home sweet home

Es ist laut.

Es ist chaotisch.

Es stinkt.

Um mich herum wuseln Gestalten, sie verschwimmen ob ihrer puren Menge und den hektischen Bewegungen  miteinander und das verwirrt mich. Ich kneife für ein paar Sekunden die Augen fest zu und genieße das bisschen Dunkelheit.

Herzlich willkommen zurück in Hamburg.

Nach einer kompletten Woche zuhaus im niedersächsischen Nichts fühle ich mich jetzt auf dem S1-Bahnsteig des Hauptbahnhofes, als hätte mich irgendjemand in einen Ameisenhaufen voller menschengroßer Ameisen geworfen.

Es wimmelt um mich herum. SIE wimmeln um mich herum.

Eigentlich mag ich das. Ich mag das Chaos.

Aber nicht gerade jetzt.

An der Bahnsteigkante vor mir tigert einer umher, immer von links nach rechts nach links nach rechts wie ein Zoo-Löwe mit Gehegekoller bei Hagenbeck, dabei brüllt er in einer mir unbekannten Sprache in sein Handy wie Aale-Dieter auf dem Fischmarkt.

Laut. Aggressiv. Heisere Stimme. Aber welche Sprache?? Ich kann sie nicht identifizieren. Türkisch ist es nicht. Arabisch auch nicht. Für Persisch klingt es zu hart. Aber wie klingt ein wütender Perser? Ich habe noch nie einen kennengelernt. Ich kenne Perser nur in der freundlichen eher leisen Version.

Ich einige mich nach hitziger Diskussion mit mir selbst darauf, dass es Rumänisch ist und damit kann ich gut leben.

Der vermutliche Rumäne steht nun direkt neben mir und brüllt seine Tiraden ins Telefon. Er hat die Augenbrauen zusammen gezogen und ab und zu fliegt ein kleines Spucketröpfchen aus seinem Mund. Ich beobachte seine Kopfbewegungen genau und manövriere mich jedes Mal rein prophylaktisch aus der Streuzone.

Er rückt noch näher. Beinahe Ellbogenkontakt. Die letztmögliche Steigerung wäre, dass er auf meine Schultern klettert und von dort aus weiter telefoniert. Das möchte ich nicht, also gehe ich weg. Dreißig Meter weiter finde ich bestimmt auch einen gemütlichen Platz, um auf die Bahn zu warten.

Als ich auf dem Bahnsteig ankam sagte die Anzeigetafel, dass die S1 in drei Minuten kommt. Die drei Minuten dauern bereits fünf Minuten und auf der Anzeigetafel hat sich nichts getan. Drei Minuten. Dann kommt die Bahn. Ich bin gespannt.

Ich finde einen neuen Warteplatz auf dem Bahnsteig, viele Meter entfernt vom vermutlichen Rumänen. Ich höre ihn noch aus der Entfernung und trotz des Lärms lautstark in sein Handy bellen. Wahrscheinlich wünscht er nur seinen Kindern eine gute Nacht...

Zu meiner Rechten jetzt statt dem vermutlichem Rumänen das obligatorische Hipsterpärchen im Einheitslook. Angelehnt an die Front eines Kioskes halten sie Händchen und bewegen synchron die Köpfe zur Musik aus den Marken-Kopfhörern. WoodKid sicherlich. Oder CHVRCHES. Oder irgendwas von Audiolith.

Ihre Dutts wippen im Rhythmus. Seiner ist größer.

Zwischen obligatorischen bunten Nike Airs und obligatorisch albern hochgekrempelten skinny Jeans und skinny Jeans-Leggins-Lookalikes blenden mich milchweiße Fußknöchel und mir wird kalt. Wegen der Außentemperatur und der Gesamtsituation, mit der ich unzufrieden bin. Mal im Ernst, wer krempelt sich bei diesem Wetter freiwillig die Hosenbeine hoch und entblößt nackte Haut? Und vor allem: Warum?

Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter und erneut suche ich  mir einen neuen Warteplatz. Eine Minute noch, dann kommt die Bahn. Sagt die Anzeigetafel.

Seit drei Minuten.

Es dudelt in meinem Kopf. Ich habe einen Ohrwurm und werde fast wahnsinnig, der Akku meines Handys hat sich aber leider kurz nach Oldenburg verabschiedet. Also dudelt seitdem der Ohrwurm weiter und weiter und gleich platzt mir der Schädel und irgendwer muss die Sauerei dann aufwischen.

Auf dem Weg Richtung neuem Warteplatz passiere ich die üblichen Verdächtigen, ohne die diese Stadt nicht die wäre, die sie ist.

Bis zum Exzess zerschminkte Tussis, die auch bei einstelligen Temperaturen immer noch im luftigen Blüschen mit Blumenmuster und kurzem Röckchen im Reeperbahn-Laufhaus-Style bibbernd den vergangenen Sommer zurück wünschen und denen auch ihr sieben Quadratkilometer großer Schal nicht mehr hilft, den sie als Accessoire auch im Hochsommer zum gleichen Outfit durch die Gegend trugen und der an ihnen in etwa so aussieht wie eine überdimensionale Schwimmweste aus Kamelwolle.

Oder Wichtige, die so wichtig sind, dass sie selbst in den drei Minuten Wartezeit auf dem S-Bahnsteig, die inzwischen bald sieben Minuten dauert, noch auf den Monitor des Apfel-Laptop starren und so fixiert sind, dass sie um sich herum gar nichts mehr wahrnehmen. Die bibbernde Brünette könnte Schal und Blumenmusterbluse ausziehen und oben ohne vor dem Wichtigen auf und ab springen. Ich könnte ihm die Schnürsenkel zusammenbinden oder die S-Bahn könnte entgleisen und direkt auf ihn zu schießen. Er würde nichts davon mitbekommen. Rumms, klatsch, splatter. Da zerballert dich eine komplette S-Bahn auf dem Weg gen Bahnhofswand und du hast nichtmal die Titten von der mit dem albernen Schal gesehen. Das Leben ist nicht fair.

Ich habe einen neuen Warteplatz. Mal wieder.

Normale Menschen um mich herum. Endlich. Einer nickt mir sogar freundlich zu, als ich ihm nach einem Nieser Gesundheit wünsche. Eine Minute noch. Dann kommt die Bahn.

Tut sie nicht. Dafür kreuzen wieder Gestalten mein Blickfeld bei deren Anblick ich mich spontan ins niedersächsische Nichts zurück wünsche.

Einer von denen ist mein Reiserucksack im Weg, statt ihm aber auszuweichen versetzt er ihm einen satten Tritt, sodass die zwei mitgebrachten Flaschen guten Weines im Inneren klirrend gegeneinander schlagen und der Rucksack trotz seiner Schwere ein Stück weit über den Bahnsteig rutscht, eine Schneise in den herumliegenden Zigarettenkippen und Kaffeebechern hinterlässt und direkt in einer von Jugendlichen mit schiefsitzenden Basecaps und noch schiefsitzenderer Grammatik produzierten Spuckepfütze liegen bleibt. Bevor ich den Treter in angemessener Weise  beschimpfen kann, verschwindet er in der Unmenschenmenge.

Kurz darauf kommt die Bahn dann zu meiner Überraschung doch. Natürlich finde ich keinen Sitzplatz. Natürlich hören Minderjährige ohne vorhandenen Musikgeschmack lautstark deutschen "Rap". Und natürlich redet einer in Jogginghose am Handy was von "Neger" und "...nicht rechts, aber..."

Hamburg. Du selbsternannte "schönste Stadt der Welt". Du "Weltstadt mit Herz".

Da bin ich wieder.

Zuhaus auf dem Dorf war nicht alles schlecht...

Montag, 5. Oktober 2015

Mitgehört (8): Im Funkloch

Ich stehe am frühen Abend auf dem Fußweg neben der vielbefahrenen Fuhlsbüttler Straße und warte auf einen Freund.

Es betritt eine ziemlich aufgestylte Brünette in High Heels mein Blickfeld, mit der rechten Hand hält sie ein glitzerndes Oberklassehandy an ihr Ohr, mit der linken versucht sie angestrengt, einen übermütig herumtollenden kleinen Hundewelpen zu bändigen.

Das Gespräch mit der scheinbar besseren Hälfte scheint nicht nach ihren Vorstellungen zu verlaufen.

"Hallo, noch da? Hallooo?? Mausebähääär??" ... "Ich versteh dich kaum!" ... "Das rauscht ganz doll in der Leitung! Ganz schlecht ist das, weil ich wollt dir doch...HALLOOO??"

Sie schaut vollkommen entnervt, dann kommt ihr die rettende Idee.

"Du, warte kurz, ich brauch besseren Empfang. Ich geh mal näher ans Fenster!"

Den Hund im Schlepptau tippelt sie so nah es eben geht an das Schaufenster eines Blumengeschäfts und brüllt dann mit sich überschlagender Stimme:

"BIN AM FENSTER! UND SCHATZI, HÖR ICH DICH JETZT BESSER??"

Sonntag, 27. September 2015

Ein einziges Wort

Es war ein Sonntag im Januar. Ein sonniger kalter Vormittag, eine verschneite Straße in einem der schöneren Teile der Stadt. Nahe der Alster.

Er ist ein grundsympathischer Mensch, buschiger Vollbart, schwarzer Kapuzenpulli, kurze Cargo-Pants, zu den Knien hochgezogene schwarze Strümpfe.

Ich sehe den Freund einer meiner besten Freundinnen zum ersten Mal und ich mag ihn auf Anhieb. Er mich vielleicht auch.

Eventuell fragt er sich aber auch, mit was für einer dank durchgemachter vorheriger Nacht verkommenen Gestalt er da grad seine Freundin und den kleinen Sohn hat gen Spielplatz ziehen lassen. Den Gedankengang könnte ich verstehen und hätte gern mal nachgefragt, was er gedacht hat in dem Moment, als wir uns zum ersten Mal trafen.

Nachgefragt bei nem gemeinsamen Bier. Und nem Steak vom Grill. Während Pauli spielt. Irgendwie so.

Aber dazu bin ich nicht mehr gekommen.

Die schwere Krankheit war schneller.

Immer wieder Chemo. Dann Stammzellentransplation. Und dazwischen immer wieder Aufbäumen. Für das Leben kämpfen.

Ein Dreivierteljahr hat er durchgehalten.

Bis Donnerstag.

Jan war 34. Er hat eine wunderbare Familie gegründet, er hatte Pläne und Ziele und ich habe mit ihm nur ein einziges Wort gewechselt.

Nur ein einziges Wort.

Ein simples "Hallo!". Und einen Händedruck. Mehr gab es nicht.

Ich hätte Jan so gerne besser kennengelernt. Gemeinsames Bier, gemeinsames Rumbrüllen am Millerntor, gemeinsames...

Es erwischt immer zuerst die Guten.

Mach's gut Jan, wo immer du jetzt auch sein magst.

Samstag, 12. September 2015

Riding home to Oberkassel

Es ist eine Nacht auf Freitag gegen 00.40 Uhr am Hauptbahnhof Köln.

Mir steckt ein mehrstündiges Konzert in den Knochen, ich bin verschwitzt, müde, leicht heiser, hungrig, ich friere und möchte nur noch heimfahren. Gern so schnell es eben geht.

Auf dem Abfahrtsplan nichts zu sehen von meinem Reiseziel nördlich von Bonn. Also ab zum Serviceschalter der Deutschen Bahn, der zu meiner Überraschung um diese nachtschlafende Zeit noch immer besetzt ist.

"Guten Abend, ich möchte schnellstmöglich nach Bonn. Oberkassel-Nord. Können Sie mir sagen, welche Bahn mich hinbringt?  Oder ob überhaupt noch eine in die Richtung fährt?"

"01.01 Uhr ab Bahnsteig 5."

"Super, vielen Dank!"

Abgang.

Mit knurrendem Magen und zwei frisch erworbenen Käseburgern von der amerikanischen Botschaft auf Bahnsteig 5 angekommen, fällt mir ein: "Scheiße, Fahrkarte!"

Kurz wäge ich ab, schwarzfahren ja, schwarzfahren nein, Pros (einige) und Contras (Karma), dann laufe ich wieder hinunter zu einem Fahrkartenautomaten, deren gibt es im Kölner HBF viele, sehr viele. Zeit bis zur Abfahrt ist noch ein wenig, an Bahnsteig 5 steht eh noch der ICE nach Frankfurt, der seit zehn Minuten unterwegs sein sollte und die Käseburger schmecken notfalls auch kalt. Der Hunger treibt's rein.

Fahrkartenautomat 1: Einzelfahrt Erwachsener, Start Köln HBF, Ziel...mit O sind so einige vorgegeben, Oberhausen, Osnabrück, Olchau (wo zum Henker...?). Oberkassel ist nicht dabei, was mich aber nicht weiter verwundert. Man kann sein Reiseziel ja notfalls auch manuell eingeben und des Tastendrückens bin ich grad noch so eben mächtig.

Hochmotiviert tippe ich auf die O-Taste und auf dem Monitor passiert Erstaunliches. Buchstaben verschwinden wie von Geisterhand, aus irgendeinem Grund finde ich das äußerst amüsant und freue mich darüber. Bis ich bemerke, dass zu den nicht mehr auswählbaren Lettern auch das B zählt. "Oberkassel" kann ich nun also nicht mehr als Reiseziel eingeben. Was suboptimal ist, denn exakt da will ich ja hin.

Ich schweige kurz betreten, dann stehe ich wieder beim Servicepoint auf der Matte.

"Guten Abend nochmal. Ich möchte immer noch nach Oberkassel reisen und - Sie werden mich für verrückt halten - ich möchte dafür sogar eine Fahrkarte kaufen! Um diese Uhrzeit noch! Aus Gründen, die ich selber nicht ganz verstehe. Ich habe nur ein Problem: Der Automat stellt sich quer!"

Die eigentlich recht hübsche Dame am Infoschalter zuckt zusammen als ich sie anspreche und äugt mich mit einem Blick an, der irgendwo zwischen Desinteresse und "Ohje, jetzt hab ich grad gepupst!" liegt.

"Warum?" Sie presst die Frage unwillig zwischen den einwandfrei gebleichten Zähnen hindurch. Ich erläutere knapp mein Problem. "Na wenn ich mein gewünschtes Reiseziel eingeben will, scheitere ich bereits beim zweiten Buchstaben. Sobald ich auf's "O" getippt habe..."O" für "Oberkassel"...verschwindet das "B". Zack, weg ist es. Einfach so. Und ohne "B" komme ich dann irgendwie nicht weiter. Ich gäbe grad einiges für ein "B"!"

Sie schaut. Mich an. "Liegt sicher am Automaten. Programmfehler oder sowas. Probieren Sie einfach einen anderen! Das liegt bestimmt am Betriebssystem!"

"Nein" denke ich, "tut es nicht. Das hat mit dem Betriebssystem so wenig zu tun wie ich mit einem Professorenstuhl in höherer Mathematik oder die Parolen gröhlenden Widerlinge auf den Straßen Freitals und Heidenaus mit Menschlichkeit und Empathie. Eure Fahrkartenautomaten sind Arschlöcher, Mathe ist ein Arschloch und was die "besorgten Bürger" unseres ach so schönen Landes angeht: Da ist "Arschloch" noch deutlichst zu nett formuliert."

Aber ich sage nichts, ich lächle sie an und tue ihr den Gefallen, ich hab ja noch Zeit, die Burger schmecken auch kalt, ich probiere einen weiteren Automaten, dann noch einen, dann einen an der gegenüberliegenden Wand, dann den, vor den vor ein paar Minuten ein Besoffener gereihert hat, der Fladen Erbrochenes dampft noch leicht dank der im Bahnhofsgebäude aufgestauten Tageshitze.

Ich bin guten Willens, ich versuche mein Glück an insgesamt acht Fahrkartenautomaten, allein das Ergebnis bleibt das gleiche.

Try. Fail. Repeat.

Dann habe ich die Faxen dicke und auch nur noch knappe zehn Minuten bis zur Abfahrt Richtung Bett. In Oberkassel.

Dritter Akt am Servicepoint.

"N'Abend, ich wieder! Vollkommen überraschend kann ich auch an keinem anderen der wirklich hübsch anzusehenden Kartenautomaten eine Fahrkarte zu meinem Wunschziel...Na? NA???...richtig, immer noch Oberkassel...lösen. Und ehrlich gesagt hab ich jetzt auch keine Lust mehr. Von Nerven und Zeit mal ganz zu schweigen. Also, Fakten auf den Tisch. Was tun?"

Sie starrt mich aus großen braunen Rehaugen, die tragischerweise recht dämlich aus ihrem hübschen Gesicht glotzen, an und wünscht mir vermutlich grad die Pest an den Hals.

Ich höre die kleinen Rädchen in ihrem Kopf förmlich rattern und klickern während sie gefühlt ein halbes Leben lang durch mich hindurch ins Leere  starrt.

Kurz, ganz kurz bevor es lächerlich wird und sie irgendetwas möglichst logisch Klingendes von sich geben muss, entdeckt sie im Augenwinkel Uniformierte und reißt reflexartig den Arm hoch. "Fragen sie doch mal meine Kollegen! Die können sicher weiterhelfen!" Dann greift sie zum Telefonhörer und tut so, als sei es ein wichtiger Anruf. Jeder unterirdischen Laienschauspielertruppe wäre diese Darbietung peinlich, sie aber zieht sie in aller Konsequenz durch.

Vor so wenig Selbstachtung ziehe ich meinen Hut und wende mich mit meinem Anliegen den Uniformierten zu, die mir Miss Information so warm ans Herz gelegt hatte.

Es sind Mitarbeiter einer Security-Firma, die nachts durch den Bahnhof patrouillieren und natürlich nicht den Hauch einer Ahnung von Fahrplänen, Fahrkartenautomaten und dem Streckennetz der Deutschen Bahn haben. Wie die Trulla am Infoschalter quasi, nur in weniger hübsch und in weniger nervtötend.

Ich kriege gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg.

"Fährsse schwatt. Is doch ejal hömma!"

"De Käsburger schmecke ooch kalt. Da schmeckese sogar besser!"

"Fah doch nach Niederkassel un lauf von da! Et kann doch nimmer weit sin dann!"...nein, nur knapp fünfzig Kilometer...

00.59 Uhr. Ich hetze mit entnervtem Blick, neu dazugewonnenen grauen Haaren und einer Papiertüte mit zwei mit Industriekäse, einer millimeterdicken Bulette aus Fleischabfällen und sonstigen zu vernachlässigenden Zutaten belegten erkalteten Schaumgummibrötchen, dafür aber ohne Fahrkarte Treppenstufen hinauf zu Bahnsteig 5, rein in meinen Zug, hinein in eine Sitzreihe, gegenüber einer in den Zwanzigern, Hemd, hellblaue Krawatte, edel aussehendes Sakko, teure Lederslipper, glänzend, frisch poliert, er trägt die Haare zum Seitenscheitel gegelt und gehaarsprayed, vermutlich kann der Frisur selbst eine in direkter Nähe explodierende Handgranate nichts anhaben.

Rakka. 16.47 Uhr. Fliegerbombe. Das Gesicht ist weg. Aber die Frisur sitzt.

Er mustert mich von oben bis unten. Abschätzig. Ich missfalle. Schwarzer Kapu, Cargo-Pants, uralte bemalte  Chucks, einen Button an der Hose, auf dem ein Stilisierter einem anderen Stilisierten ins Gesicht tritt, good night white pride in der inzwischen indizierten Version. Meine ziemlich angeschlagene Optik wird ihren Teil zu seinem Misstrauen beitragen.

Ich mache mich auf meinem Sitz breit. Und warte auf jemanden, der meine nicht vorhandene Fahrkarte kontrollieren möchte.

Ungewollt auffällig beobachtet mich dabei der Gelackte von gegenüber, seine natürlich absolut zufälligen Blicke kitzeln jedes Mal ein bisschen im Nacken, wenn ich ihm eben den Rücken zuwende. Und sobald ich auch nur ansatzweise in seine Richtung schielen kann, versteckt er sich hinter seiner Zeitung und tut, als sei er gar nicht da.

Während sich die zu hellen Deckenleuchten im polierten Kunstleder seiner Slipper und in seinem Gelhelm spiegeln und ich noch überlege, wie albern das auf einer Skala von eins bis zehn aussieht, betritt die Zugbegleiterin den Waggon.

Natürlich. Das musste so kommen. Auf der einen von x-hundert Fahrten,  für die man grad mal kein gültiges Ticket hat, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen. Weil sie sowas aus zwölf Kilometern Entfernung gegen den Wind wittern wie Schmeißfliegen den frisch gesetzten Kuhfladen.

"Guten Abend, ihre Fahrkarte bitte!". Sie lächelt mich erwartungsvoll an. Ich lächele so charmant wie in meinem Zustand eben noch möglich zurück. Und der Schmierlapp im Abteil gegenüber grinst vorfreudig über den Rand seiner Zeitung. Denn dass ich keine gültige Fahrkarte besitze, ist ihm klar. Das hat er Millisekunden, nachdem er mich zum ersten Mal gesehen hat, gewusst. Der durchgerockte Asi? Fahrkarte? Im Leben nicht.

Jetzt muss improvisiert werden. "Klären Sie das einfach im Zug!" hatte mir der Komplettausfall am Infoschalter noch mit auf den Weg gegeben, bevor erneut ein "wichtiger Anruf" ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

"Ihnen auch einen guten Abend! Tja,Fahrkarte, wo fange ich bloß an? Sagen Sie, könnten Sie den Ort "Oberkassel" ohne den Buchstaben B schreiben?" Die Zugbegleiterin schaut erst irritiert, dann wissend.

"Richtig, ich habe kein Ticket. Eine unglückliche Verkettung von Umständen. Elektronische Fahrkartenautomatenmängel, optisch ansehnliche aber in der Praxis vollkommen wertlose Service-Point-Mitarbeiterinnen - wie löblich übrigens, dass der um diese Uhrzeit noch besetzt ist! Da wo ich herkomme, da..."

"Das macht dann sechzig Euro." stellt sie trocken aber nicht unfreundlich fest und das ist mein Startsignal.

In meinen Jahren in NRW habe ich gelernt: Reden hilft. Viel Reden hilft viel. Am besten ohne Punkt, Komma und jeglichen unnötigen Atemzug. Immer druff!

Ich erzähle von der stressigen Anreise in der Bullenhitze und davon, wie ich die Konzert-Location zunächst nicht gefunden habe, ich erwähne den schlecht tätowierten Muskelberg, der mir während des Konzerts auf den Fuß trat und mir zeitgleich sein Bier übers Shirt kippte, ich lobe die Preise des VRS und des KVB und halte ihr die entsprechenden Fahrkarten meiner nachmittäglichen Anreise (die ich vorher aus den Untiefen meines Rucksackes gefischt habe) unter die Nase, "Schauen Sie, selbst für die paar Stationen S-Bahn hab ich bezahlt, das tu ich auch nicht immer, das können Sie mir glauben, kontrolliert ja eh so gut wie nie wer! Aber Sie kontrollieren hier um diese Uhrzeit noch, gut finde ich das, sehr gut, wird doch sicher auch nicht sooo toll bezahlt, dass Sie sich hier die Nacht um die Ohren schlagen in fast leeren Zügen, außer mir und dem da (Kopfnicken Richtung Gelfrisur) ist ja kaum wer hier, also für mich wär das ja nichts, Mann Mann Mann."

Einen Mitleid erheischenden Hinweis auf schmerzende Füße und eine zur Absicherung hinterher geschobene interessierte Nachfrage nach der aktuellen Form des EffZeh Köln (das funktioniert erfahrungsgemäß im Kölner Umland in neun von zehn Fällen in jeder Lebenssituation und öffnet so gut wie jede Tür) habe ich gewonnen.

Sie ist zermürbt. Weich gekocht. Oder schlicht durch mein Gelaber so durcheinander, dass sie nichts mehr möchte, als mich endlich loszuwerden.

"Und Sie steigen ganz sicher in Oberkassel aus?" - "Aber sowas von! Da freu ich mich schon die ganze Zeit drauf!"

Mit dem Hinweis, sie würde nochmal beide Augen zudrücken und beim nächsten Mal müsse ich aber zahlen, wendet sie sich dem Schlipsträger zu, der mich seit knapp drei Minuten anstarrt wie einen Außerirdischen.

So sehr hatte er sich darauf gefreut, wie ich hochgenommen werde, wahrscheinlich so sehr, dass er schon einen kleinen nassen Fleck im Schlüpfer hatte - und jetzt das.

Ich lehne mich entspannt auf meinem Sitz zurück. Zehn Minuten noch bis Bonn-Oberkassel.

Ich grinse mein gegeltes Gegenüber breit an und für einen Moment, in dem das Licht richtig auf ihn fällt, spiegele ich mich in seiner Tolle. Zumindest sieht es fast so aus.

"Nächster Halt: Oberkassel-Nord"

Zischend öffnet sich die Tür des Waggons und nachdem ich meinem weiterreisenden Freund noch ein Mal freundlich zugewunken habe, springe ich auf den dunklen Bahnsteig.

Ein paar Minuten Fußweg noch durch dunkle menschenleere Vorstadtstraßen und ich bin zuhaus.

Was für ein toller Tag.

Donnerstag, 30. Juli 2015

Babo my ass

"Alter, was machst du?" fragt mich F. per WhatsApp.

"Nichts mach ich, was soll ich schon machen, viel zu heiß draußen, Kackwetter, ich häng vorm Fernseher ab. Guck ne Doku. Tiere und so. Grad hat ein Hai ein niedliches Seelöwenbaby erwischt. War ne ziemliche Sauerei. Derbe blutig, sowas willste nicht in den eigenen vier Wänden erleben. Wieso fragst du?"

"Hab Zeug bestellt. Grünes, weißt schon. Der Typ wohnt in deiner Straße und ich kann grad nicht hin und das selbst abholen. Mach du das mal bitte, Kohle geb ich dir nachher! Du kommst ja später am Abend eh noch rum."

Was für eine beschissene Idee. Aber was tut man nicht alles für gute Freunde.

"Ok, sag an. Wo und wieviel?"

"Für n Fuffi. Das Haus mit der grauen Eingangstür, Hausnummer weiß ich nicht. Klingel bei XYZ, der ist bisschen komisch drauf aber an sich ganz ok. Glaub ich." Das klingt ermutigend.

Eine Stunde später stehe ich vor der grauen Haustür und klingele. Zeug abholen, rüber zu F., rauf auf die Couch und PES15 zocken. Vielleicht noch ein oder zwei gekühlte Bier vom Kiosk an der Ecke mitnehmen. Eigentlich ein guter Plan.

"Wer ist da?" fragt es aus der  Gegensprechanlage. Die Stimme klingt soweit tatsächlich ganz sympathisch.

"Jo, hier ist Fährlich, ich soll für F. was abholen."

"Alles klar! Zweiter Stock rechts! Komm rein Alter!" dröhnt es aus dem beigen leicht vergilbten Lautsprecher und zeitgleich rasselt der Türöffner.

Das Treppenhaus ist angenehm kühl und im zweiten Stock rechts werde ich bereits an der Wohnungstür erwartet wie ein Pizzabote.

"Hi Mann, komm rein! Ich bin Babo!"

Ich schaue ihn ungläubig an und kann ein Lachen nur schwer unterdrücken. "Babo" nennt er sich. Na denn...

Er hält mir seine Hand hin, die Nägel sind länger nicht mehr geschnitten worden, unter ihnen klebt Dreck. Außerdem ziert ein langer verschorfter Kratzer oder Schnitt seinen Handrücken. Statt seine Hand zu schütteln halte ich ihm meine Faust zum fist bump hin und zu meiner Erleichterung geht er darauf ein.

"Setz dich Alter!" sagt der Babo, der mit verblichener Kapuzenjacke, Schnellfickerhose und umgedrehter Baseball-Cap mit Werbung eines deutschen Sportartikelanbieters irgendwie gar nicht so Babo-mäßig aussieht, wie eher unterdurchschnittlicher deutscher Rap mir das vor nicht allzu langer Zeit vermitteln wollte und ich setze mich eher widerwillig auf ein weißes Ledersofa mit Blick auf eine sicher nicht billige Schrankwand samt integriertem Flatscreen, der mindestens doppelt so breit ist wie meiner, der für einen Normalsterblichen vollkommen ausreicht.

Seine Bude will nicht so ganz mit seiner Optik zusammenpassen.

"Was trinken?" fragt er.

"Danke nein. Ich will nur das Zeug für F. abholen. Hier ist die Kohle. Gib mir doch einfach das Weed und ich bin wieder weg."

Aber so einfach geht das nicht, denn der Typ sucht scheinbar nach neuen Freunden. Oder Kunden.

Das ungewollte Holsten - auch das noch, Holsten! - steht offen vor mir und der Möchtegern-Gangster prostet mir zu.

"Guter Deal wird das Alter!", er hält mir seine Bierflasche hin und ich stoße mit ihm an.

Er nimmt mehrere schnelle tiefe Schlucke und leert seine Flasche direkt mal zur Hälfte. Dabei beobachtet er mich etwas zu gewollt unauffällig, ich kenne das Verhalten, genau so haben es einige meiner ehemaligen Stammkunden in der Wettbutze gemacht, wenn sie mich um Kohle anschnorren wollten, damit sie ihren eigenen letzten Zehner versaufen können, wenn ich sie endlich aus dem Laden herauskomplimentiert hatte. Die gewollt unauffälligen Blicke aus dem Augenwinkel, mit denen sie abzuschätzen versuchen, wann der richtige Zeitpunkt für den Vorstoß gekommen ist, sind immer gleich. Und der oberkrasse Babo im Sessel gegenüber schätzt auch ab. Er hat sich vermutlich schon eine Taktik zurecht gelegt, denn er weiß ja nicht, dass ich solche Situationen seit Jahren kenne und schon hundertfach durch habe.

Er aber macht erstmal auf Smalltalk.

Standardfragen. Und direkt danach mehr Standardfragen.

"Neu in der Stadt? Ich wohn hier seit über nem Jahr aber hab dich noch nie gesehen!"

Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück an die gute alte Zeit vor knapp zehn Minuten, als ich Babo noch nicht kannte. Er interessiert sich weiter.

"Ach was, dreizehn Jahre schon? DAS ist krass Mann." Pause. Sechs Sekunden später. "Und? Weiber? Gibt doch echt viele geile in Hamburg Alter! Fast alle vögelbar! Außer die fetten! Die gehen gar nicht! Oder? Oder?? Oder hast du eine Alter??"

Ich antworte einsilbig, trinke vom Bier und erinnere mich zurück. Die gute alte Zeit. Ohne Babo.

Damals.

Vor jetzt knapp elf Minuten.

"Sag mal Typ...ist ja irgendwie alles soweit nett hier bei dir. Bier und so, deine Couch ist auch echt prima." -  Wenn ich eins kann, dann ist es lügen ohne auch nur ansatzweise mit der Wimper zu zucken - "Aber ich bin echt nur hier, um das Zeug für F. abzuholen. Können wir das eventuell mal etwas beschleunigen?"

"Klar Mann!" sagt er und zieht einen zerdellten Schuhkarton unter der Couch hervor auf der ich sitze. "Da ist meine Schatzkiste!", er strahlt über alle vier Backen wie ein Honigkuchenpferd. "Wieviel war's noch? Fuffi?"

Er wühlt im Karton herum, es raschelt und klimpert und mich erinnert die Situation irgendwie an das überhastete Auspacken eines Weihnachtsgeschenkes. Ich verdränge den irritierenden Gedanken schnellstmöglich und stürze das übrige inzwischen leicht abgestandene Restbier hinunter, während ich auf ein Ergebnis seiner unkontrollierten Suchaktion warte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit von einer halben Minute taucht der mützenbedeckelte Kopf wieder aus den Untiefen des Schuhkartons auf, "Na endlich, hier isses ja!" und er wirft mir einen randvollen Gefrierbeutel mit Gras zu, den ich gerade noch fangen kann, bevor er mitten in meinem Gesicht landet und der zum Glück während des Fluges über den Tisch verschlossen bleibt anstatt seinen Inhalt quer durch den Raum und über mich zu verteilen, worüber ich sehr dankbar bin. Der Geruch hängt ewig in den Klamotten...

"Gutes Zeug! Echt jetzt!" Babo nickt heftig. Was soll er auch sonst sagen? "Willste testen? Oder nachwiegen? Waage steht inner Küche, kann ich holen! Echt guuutes Zeug Alter!" Der geborene Verkäufer, ich verzichte trotzdem dankend auf beides.

"Danke, lass mal, erstens seh ich ja, dass die Menge passt und zweitens hab ich das Zeug seit sicher zehn Jahren nicht mehr angerührt, weil's mich eh nur derbe müde macht. Und das werd ich früher oder später von ganz allein. Verblüffend aber wahr! Hier, deine Kohle!"

Ich lege ihm den Schein auf den Tisch und will aufstehen und gehen. Eine nett formulierte aber nicht wirklich so gemeinte  Verabschiedungsfloskel und raus, rüber auf die nächste Ledercouch vor den nächsten unsinnig riesigen Flatscreen und endlich den Controller in die Hand. In Gedanken gehe ich bereits seit Minuten die Startaufstellung für das anstehende Halbfinale gegen Juventus durch. Belotti in den Sturm? Oder doch lieber den Torres obwohl der nicht bei hundert Prozent ist? Schlecht trainiert hatte er die Woche über, muskuläre Probleme. Sagte der programmierte Assistenztrainer. Oder einfach beide von Anfang an und dafür Flügelflitzer Koné auf die Bank? Fragen über Fragen.

Aufstehen in drei, zwei, eins... "Wie, kiffen macht dich ausschließlich müde? Kein gechilltes Feeling? Keine Filme??" Babo schaut vollkommen perplex.

"Nein und nein. Keine geschobenen Filme. Und ganz sicher kein gechilltes Feeling, ich "chille" schon aus Prinzip nicht, wenn überhaupt entspann ich mich und selbst das kommt selten vor. Alter, ich muss jetzt auch..."

"...echt mal los, F. wartet auf mich!" hätte ich noch sagen wollen, aber dazu komme ich nicht.

"Aaaaalter, dass kann doch gar nicht angehen! Guck mal Mann, ist doch sicher was dabei hier für dich in meiner Schatzkiste!"

Er hält mir den Karton unter die Nase und ich kann gar nicht anders, als hineinzuschauen. Es hat was von früher im Bonbonladen, nur dass ich nicht überlege, was ich mir für meine 25 Pfennig von der Oma für Süßigkeiten kaufen werde, sondern welches von dem Zeug in dem verschissenen Schuhkarton mich wohl am schnellsten zum Zombie machen wird.

Die Beutelchen voller abgezählter Ecstasypillen in verschiedenen Farben? Die vorportionierten Haschplatten? Das Koks? Wohl eher das Zeug in den kleinen Ampullen mit dem so eindeutigen "H" darauf. Oder das etwas gröbere flockige Stöffchen, von dem ich vermute, dass das Chrystal ist.

Der Typ hat alles. Alles. Und bewahrt es in einem Scheiß-Schuhkarton unter seinem scheiß-weißen Ledersofa auf. Und sitzt mir in Schnellfickerhose und ranziger Basecap gegenüber, grinst mich schief an, macht auf dicker Kumpel und will mich eigentlich nur als Neukunden gewinnen.

"Komm, pack weg, das ist mir alles egal. Ich steh nicht auf den ganzen Mist. Und um ehrlich zu sein mag ich dich nicht. Gar nicht. Deal ist durch, danke für's Bier und sollten wir uns mal zufällig auf der Straße begegnen, dann kennen wir uns nicht. Ist das angekommen?"

Auf dem Weg zur Wohnungstür bin ich selbst überrascht ob meiner direkten Ansage und Babo schaut jetzt etwas irritiert aus der Wäsche.

Als ich schon ein paar Treppen hinunter gestiegen bin, startet er einen letzten Versuch.

"Alter, am Wochenende ist ein derbes Goa-Festival und ich kann wen mitnehmen für lau! Da kannst du endlich mal wieder eine unter zwanzig vögeln! Kein Scheiß!!"

Habe kurz innegehalten und überlegt, wieder hochzugehen und ihm die Nase zu brechen. Die Vernunft hat schlussendlich gesiegt.

Später bei F. gibt es sein Bier für mich und Babo's Zeug für F., eine happige Halbfinalpleite für Juventus und einen Dreierpack für Torres. Der Mann knipst selbst dann, wenn er nicht komplett fit ist. Chapeau!

Samstag, 4. Juli 2015

Mitgehört (7): Richtig kaufen

Eine große Kreuzung in meiner Nachbarschaft.

Vierspurige Hauptverkehrsstraße trifft zweispurige Hauptverkehrsstraße. Dazu ein Haufen Abbiegespuren, diverse Fußgängerüberwege und Bullenhitze, die die Luft über dem Asphalt flirren lässt.

Ich stehe an der Fußgängerampel und neben mir auf dem Abbiegestreifen nach links steht eine Schwanzverlängerung mit Chromfelgen, übertrieben vielen PS und drei Halbstarken mit gespiegelten Sonnenbrillen und gegelten Seitenscheiteln mit blondierten Spitzen an Bord.

Natürlich wird pflichtbewusst auf dicke Hose gemacht, es wird im Leerlauf auf's Gas getreten, der Motor brüllt auf, die zusätzlichen Brabus-PS bahnen sich zumindest akustisch ihren Weg...

Ampel gelb. Voll auf's Gas. Burnout! Gleich! Mindestens! Freudige Erwartung.

Ampel grün.

Gib ihm!!

Rauf auf's Gaspedal, die Reifen drehen durch und qualmen, die Jungs johlen, die Schwanzverlängerung schießt vorwärts...

...von gegenüber kommt gemütlich ein grüner Fiat angerollert. Ganz langsam. Wie ein Tretauto. Vorfahrt hat er aber trotzdem.

Nach qualmenden Reifen beim Start gibt es nun Sekunden später erneut qualmende Reifen bei der Notbremsung, die der Depp am Steuer der Schwanzverlängerung grad noch so hin bekommt.

Der Fiat umkurvt im Zeitlupentempo die in seiner Fahrbahn stehende Schwanzverlängerungsfront, stoppt kurz danach und die junge Fahrerin ruft, während ich auf meinem Fußgängerüberweg die Kreuzung überquere und das Ganze beobachte, aus dem eilig heruntergekurbelten Fenster laut

"Alter, lern du mal richtig Auto fahren!"

Als Antwort darauf gibt es aus der Schwanzverlängerung nur ein trockenes "Alte, lern du erstmal richtig Auto KAUFEN!!"

Dann wieder Bleifuß und die Schwanzverlängerung verschwindet hochtourig röhrend auf der inoffiziellen Rennstrecke Ring 2 Richtung Wandsbek.

Sonntag, 17. Mai 2015

Sternenhimmel

Später Abend.

Ich steige am Baumwall in die fast leere U-Bahn und habe freie Platzwahl.

Ich setze mich auf einen Platz am Fenster und ziehe mir meine Kopfhörer über die Ohren.

Musik an, noch kurz durchs Fenster mit müden Augen den nächtlichen Hafen bewundert, dann Hirn aus, Augen zu, ab nach Hause.

Ein paar Stationen später, im Ohr gerade einen sehr ruhigen Part, höre ich Geräusche, die ich nicht direkt einordnen kann und öffne die Augen wieder.

Kurz muss ich wegen der blendenden Lichter im Waggon blinzeln, dann erkenne ich ein Mädchen, Mitte zwanzig ist sie vielleicht und sie tastet sich mit ihrem Blindenstock durch den Mittelgang und lässt sich, bevor ich ihr vermutlich eh unnötige Hilfe anbieten kann, ins Sitzabteil rechts gegenüber fallen und schnauft erstmal tief durch.

Da das erleichtert und ermüdet klingt und sie scheinbar einen anstrengenden Abend hatte, entschließe ich mich dazu, die Klappe zu halten und ihr ihre Ruhe zu lassen, obwohl ich mir einbilde, sie habe kurzzeitig in meine Richtung gelächelt, bevor sie sich auf den Sitz plumpsen ließ.

"Das war sicher Kopfkino", denke ich mir, "ganz klar, warum sollte die dich denn bitte anlächeln? Die sieht dich nich, gesagt haste nix, haste dir wieder was eingebildet, kannste ja gut."

Ich fläze mich auf meine Sitzbank, schließe wieder die Augen, lehne den Kopf an die Fensterscheibe - klonk - und das Handy switcht zum grandiosen ClickClickDecker.

"Ich beneide Dich um Deinen Sternenhimmel."

Ich muss automatisch grinsen und bin mit der Gesamtsituation sehr zufrieden.

Das Lied beginnt und wie ich das manchmal so mache, wenn ich mich vor Beobachtern sicher wähne oder gute Laune habe, singe ich nicht mit, zumindest nicht laut, ich forme nur die Worte mit den Lippen.

Nur für mich ganz allein.

Fast vollkommen lautlos.

Vermutlich sehe ich dabei zum Schießen komisch aus, das ist mir aber vollkommen egal.

Das Lied läuft so knappe drei Minuten und ich "singe" für mich allein mit und freue mich, danach shuffelt das Handy zu was Instrumentalem und ich wippe nur noch im Takt mit dem Fuß.

Kurz vor der Kellinghusenstraße tippt jemand sacht auf meine Schulter.

Ich schaue hoch. Das blinde Mädchen aus dem Abteil gegenüber. Dieses Mal lächelt sie mich wirklich an.

"Was für ein schöner Text, den du geflüstert hast. Verrätst du mir, von wem der ist?"

Ich bin vollkommen baff und kriege es grad noch so hin, ihr Songtitel und Musikanten zu nennen, dann steigt sie mit über den Boden ratterndem Stock aus, winkt dabei mit der freien Hand und dann fährt die Bahn ab.

Und ich sitze verwirrt da.

Dann muss ich lachen und bin glücklich für einen Moment.

Sonntag, 3. Mai 2015

Der Neue

Es ist irgendwann Anfang des Jahrtausends und ich bin empört.

Vielleicht beleidigt.

Definitiv aber gekränkt! Und das sehr!

Da surft man sinn-und-verstandlos im Internet herum und landet - vollkommen zufällig und über verschlungene Wege natürlich - auf dem Profil der Exfreundin auf irgendeiner der damals so angesagten Flirtseiten und auf eben diesem Profil, das eben diese Exfreundin mit Akribie pflegt, steht als Beziehungsstatus:

Vergeben.

"Sorry Jungs, aber ich bin vom Markt ;))" steht da noch als Zusatz.

Ich lese das nochmal, vielleicht hab ich mich ja verguckt.

Hab ich nicht. Manu hat einen Neuen.

Rumms.

Erste Reaktion: Ungläubiges Fluchen ob noch gewähnter Rückgewinnungschancen.

Zweite Reaktion: Anruf beim besten Kumpel.

"Ahoi!"

"Ahoi, Manu hat n Neuen!"

"Aha, direkt auf den Punkt. Wer sagt das?"

"Internet sagt das."

"Wenn's im Netz steht, ist es wahr! Plan?"

"Bier!"

"Läuft. Ich komm nachher längs."

"Läuft." *klick*

Ein paar Stunden später steht mein Bester mit einem Sixpack vor der Tür.

"Und, wer ist Manu's Neuer?"

"Kein Plan."

"Aber dir geht's doof?"

"Jepp."

"Aber ihr wart doch nur kurz zusammen?"

"Jepp."

"Ganz kurz sogar nur."

"Jepp."

"Halbes Jahr?"

"Fast."

"Hmm."

Schweigen.

Dann ist das Bier leer.

"Das Bier ist leer."

"Das ist schlecht."

"Und jetzt?"

"Neues!"

"Läden sind zu!"

"Das ist schlecht."

"Tanke?"

"Teuer."

"Hmm."

Pause.

Lange Pause.

"Du musst unter Leute, wir fahren jetzt auf den Dom!"

"Dom ist doof."

"Egal, da fahren wir jetzt hin. Auf!"

Mein Bester ist sehr gut darin, einen zu Dingen zu überreden, die er für richtig hält und so stehe ich vierzig Minuten später mit einem neuen Bier von der Tanke (teuer) auf dem Hamburger Dom inmitten fürchterlicher Unmenschenmengen und habe faszinierend schlechte Laune.

Lichter blinken, Chartsquatsch dröhnt blechern aus Lautsprechern, Deppen johlen oder rempeln, viel zu sehr geschminkte minderjährige Tussis warten auf die Einladung zur nächsten Runde Autoscooter...und uns entgegen kommt Manu. Arm in Arm mit ihrem Neuen.

Ich stoppe.

Sie stoppt.

"Sag mir einen Plan!" raune ich meinem Besten zu.

"Hab keinen. Du?"

"Theoretisch hauen. Aber geht nicht, der Typ ist ja riesig!"

"Ja, bestimmt 1,90!"

Die beiden kommen auf uns zu, in Gedanken rolle ich die Ärmel meines Pullovers hoch und gehe in Kampfhaltung wie ich sie bei Boxkämpfen im TV gesehen habe.

"Dance like a butterfly, sting like a bee!" Muhammad Ali hat ja gesagt, wie's geht. Ich bin wild entschlossen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Manu steht ein wenig unsicher vor uns, ich schaue so grimmig ich eben schauen kann, mein Bester stärkt mir den Rücken, leider scheitert er am grimmigen Blick grandios. Aber der Wille zählt.

"Huhu! Ist ja lustig, euch hier zu treffen! Das da ist übrigens Basti. Naja, mein neuer Freund." Sie macht eine Pause, dann folgt irritiert "Warum guckt ihr denn so...komisch? Ist das ein böser Blick?"

Damit kann sie nur meinen Besten meinen, mein böser Blick ist perfekt und ich will grade zu ausschweifenden Erklärungen ausholen, warum ich mit der Gesamtsituation unzufrieden bin, als sich Basti zu mir rüber beugt und mir auf die Schulter klopft.

"Moin Alter! Hab grad drüben Bonscher gekauft, die sind klasse! Nimm dir paar, dein Kumpel auch! Wieso stehst du da eigentlich wie so'n Boxer?"

Etwa zehn Minuten später sind er, mein Bester und ich dickste Freunde und ein paar Jahre später, nachdem Manu ihn abgeschossen hat, klingelt spät am Abend mein Handy.

"Ahoi!"

"Ahoi, Manu hat n Neuen!"

"Alles klar Mann. Ich bin auf dem Weg!"...



("Manu" und "Basti" heißen natürlich nicht wirklich Manu und Basti. Ich werd den Teufel tun und hier Klarnamen von Privatpersonen veröffentlichen. Sicherheitshalber nochmal als Hinweis.)

Dienstag, 14. April 2015

Mitgehört (6): Punx not dead

Auf dem Gehweg an der Reeperbahn hat es sich eine Gruppe Punks bequem gemacht.

Sie sitzen oder liegen entspannt herum, ab und an wird an der Billigbierdose genippt oder mal ganz beiläufig ein Vorbeilaufender angeschnorrt.

Man muss entweder - wenn grad kein Auto kommt - auf die Fahrbahn  ausweichen und läuft so außen um die Gruppe herum oder man läuft mitten hindurch und umkurvt die herumchillenden möglichst elegant wie Slalomstangen.

Ein Bodybuildertyp in klischeehafter Klamotte, die ihm fast vom Körper platzt, hat darauf keine Lust. Er pflügt einfach durch die Gruppe hindurch, seine solariensonnensüchtige Freundin hat er dabei fest im Griff und zerrt sie hinter sich her.

Während er eine Schneise durch die Herumsitzenden schlägt, tritt er wohl im Vorbeilaufen einem von ihnen mehr oder weniger versehentlich gegen das Bein und sein Opfer, ein junger Typ von vielleicht sechzehn Jahren mit grüngefärbtem Iro und SLIME-Shirt windet sich daraufhin so theatralisch auf dem Boden wie Pippo Inzaghi es seinerzeit regelmäßig und mit viel Erfolg im Strafraum des jeweiligen Gegners tat.

"Eyh, das war Absicht! Bleib stehen!" ruft er dem Übeltäter mit weinerlicher Stimme hinterher und er schaut tatsächlich, als wolle er gleich losheulen.

"Bleib stehen oder ich ruf die Polizei!"

"Geht nicht!" ruft ihn sein maximal ein Jahr älterer schlecht blondierter Kumpel zur Raisson. "Du kannst nicht die Polizei rufen, wir sind Punks, wir hassen die Polizei. Und die hassen uns! Das weißt du doch!"

Darauf überlegt der Iro-Träger kurz und zuckt dann entschuldigend mit den Schultern.

"Ja, Scheiße, hast Recht. Das vergesse ich immer. Du bist halt schon länger Punk als ich, das merkt man voll!"

Donnerstag, 9. April 2015

Übers Bloggen bloggen: Ein Blogstock von Karo.

Guck an, ein Blogstöckchen mal wieder.

Geschmissen von der guten Karo und tatsächlich gern angenommen von mir, der ein bisschen gedankenlos sein altes Handy mit den ganzen vorgeschriebenen Texten und Textideen verschenkt hat, ohne selbige vorher aufs neue Telefon zu kopieren und der deswegen jetzt irgendwie ein bisschen auf dem Trockenen sitzt. Anfängerfehler, weiß ich. War aber ein Notfall und musste sein. Hilft grad einem mir wichtigen Menschen, von daher alles gut.

Übers Bloggen soll ich also bloggen. Seit längerem schon, der Blogstock liegt hier schon ein paar Tage rum. Und jetzt dann endlich mal raus mit ihm...

1. Gibt es jemanden, der dich zum Bloggen inspiriert hat?

Na, "inspiriert" würd ich jetzt nicht unbedingt sagen. Das Bloggen kam ja irgendwie zwangsläufig, nachdem die Bewertungsplattform "Qype" vor 2,5 (oder so) Jahren die Schotten dicht gemacht hat.

Mit dem "Schreiben im Internet" hatte ich auf dem Portal irgendwann mal derbe angeschossen im Hinterzimmer einer meiner liebsten Hauptstadtkneipen begonnen, weil ich die Mitmenschheit wissen lassen wollte, wie gern ich den Laden hab - schön blöd eigentlich. Aus purem Narzissmus habe ich Tage später nachgeschaut, ob mein mühsam zusammengeschusterter Siebenzeiler ohne jegliche wichtige Information irgendwelche Reaktionen hervorgerufen hatte. Hatte er nicht, was im Nachhinein nicht verwundert.

Aus mir unerfindlichen Gründen habe ich mich noch ein wenig durchs Portal geklickt und bin über einen Text des artist formerly known as "Underdog" gestolpert, den ich ziemlich abgefeiert habe. Habe noch einen gelesen und dann noch einen...eine Stunde später hab ich mir dann gedacht: "Was der kann, kannst du so ähnlich auch!", hab dem Kollegen "Underdog" ne Follower-Anfrage geschickt - schön mit siezen und der nötigen Unterwürfigkeit eines Rookies und so, er kam sich vermutlich vollkommen veräppelt vor - ...und denn hab ich angefangen zu schreiben und recht fix bemerkt, dass mir das Spaß macht.

Nach Qypes Exitus war der Blog die logische Konsequenz. Ich hatte inzwischen eh nur noch wenig Bock auf das Bewerten von Restaurants oder Discoklos, sondern wollte lieber andere Texte schreiben, persönlichere oder so. Et voilà. In der Häufigkeit hat's abgenommen, das wird aber auch wieder werden. Im Leben gibt's grad andere Schwerpunkte.

Zusammengefasst: Inspiriert hat mich so direkt keiner, aber ernsthaft mit dem Schreiben angefangen hab ich eigentlich nur wegen der Texte von "Underdog". Sorry Alter, aber den Schuh musste dir anziehen. Du wirst es überleben...bin mir da ziemlich sicher.

2. Welches sind die Blogs die du am regelmäßigsten liest und warum?

Ich muss zugeben, ich lese nur sehr wenige Blogs und regelmäßig sind es vielleicht fünf. Das wären der Kiezneurotiker, DieFreaks, Amelie, KreuzbergSüdOst und ein US-Sport-Blog, der sich ausschließlich mit Spielanalysen und Interna meines favorisierten Baseball-Teams auseinandersetzt und den neben mir außerhalb der Staaten vermutlich niemand sonst kennt. In andere Blogs lese ich oft mal rein, dann auch gern mal gleich dreißig Posts am Stück und dann speichere ich den Link in meinem Sammelordner ab und krame ihn immer mal wieder heraus. Von "regelmäßig lesen" kann da also keine Rede sein.

Warum ich die erwähnten Blogs regelmäßig lese? Weil mir die angesprochenen Inhalte und aufgegriffenen Themen gefallen bzw mich interessieren und weil ich die Art und Weise mag, wie sie wiedergegeben werden. Lustigerweise sind alle vier hier relevanten Blogs aus Berlin. Das verbuche ich mal unter "Zufall".

3. Findest du, das Bloggen eine heilsame Wirkung hat?

"Heilsam" ist vielleicht übertrieben, aber um den Kopf frei zu kriegen, um sich wieder auf Wichtigeres konzentrieren zu können, finde ich es ab und an recht hilfreich. Ich bin schon zwei, drei Mal entspannter eingeschlafen, weil ich störende Gedanken vorher verbloggt hatte.

Umgekehrt bin ich aber auch nicht nur ein Mal genervt und mit Bauchweh ins Bett gegangen, weil Gedanken oder Ideen sich partout nicht in veröffentlichungswürdige Texte fassen lassen wollten. Da könnt ich dann durchdrehen! Aber das kommt zum Glück eher selten vor.

4. Hast du nur einen oder noch andere Blogs? Wenn ja warum?

Ich hab nur diesen einen Blog. Das reicht aber auch. Ich hab zwar theoretisch (leider) Zeit für mehr, nicht aber genug Ideen.

Und wenn es mich doch mal juckt und ich unbedingt ein Restaurant/einen Döner-Dealer/ein Discoklo empfehlen oder verreissen will oder muss, dann hab ich da anderswo ein Profil für. Möcht ich auf dem Blog nicht haben.

Da fällt mir ein, dass ich den Döner-Dealer-Verriss von ganz am Anfang lange schon löschen wollte...

5. Würdest du deinen Blog auch löschen? Aus welchem Grund?

Da hab ich noch nie drüber nachgedacht.

Komplett löschen würde ich ihn nur, wenn ich vorher sämtliche Texte irgendwo als Kopie hätte. Einfach der Form halber. Fakt ist, dass ich vielleicht zehn Texte irgendwo als Kopie herumfliegen habe. Auf nem verschenkten Handy, komm ich also momentan auch gar nicht ran. Hab ich mal wieder gut durchdacht, die Nummer.

Vermutlich würd ich den Blog eher offline stellen. Steckt ja nun auch ein bisschen Herz, Zeit und "Arbeit" drin.

Da einfach den Stecker ziehen und bei nem Glas Wein zuschauen, wie das alles gen Nirwana rauscht? Da müsst ich schon sehr masochistisch veranlagt oder launetechnisch SEHR angepisst sein.

Da ich mir bis dato keine Gedanken darüber gemacht habe, kann ich die Frage nach dem Grund nicht beantworten. Aber im Fall des Falles werd ich schon einen haben.

6. Wie hälst du es mit der Privatsphäre? Hast du darüber nachgedacht, wieviel du warum preisgibst?

Darüber habe ich definitiv zu wenig nachgedacht, als ich den Blog startete. Hätte ich mir darüber genügend Gedanken gemacht, so  tauchte sicherlich nicht mein realer Vorname in der URL auf. Das Ding würd dann jetzt  cellardoor.blogspot.de (als Hommage an den Lieblingsfilm) heißen oder deinemutti.blogspot.de oder was weiß ich. Aber nicht so wie es jetzt heißt. Definitiv nicht. Das ärgert mich, ist aber ja leider nicht mehr zu ändern.

Ich glaube, so wahnsinnig viel privates habe ich bislang nicht preisgegeben. Und das habe ich eigentlich auch weiterhin nicht vor.

Ich habe weder vor dem Haus herumlungernde "Fans" noch Stalker, die meine Heimatstadt nach mir durchsuchen und mir mit Worten wie "Hab dich!!" Fotos von Menschen mit Schuhen wie ich sie trage schicken. DAS ist gruselig und wäre für mich ein Grund, die ganze Sache hier ernsthaft zu überdenken.

Wie viel ich warum preisgebe liegt immer daran, wie wichtig oder sinnvoll es meiner Meinung nach für den entsprechenden Text ist. Bisher kann ich noch alles vor mir selbst verantworten.

Sobald ich das Gefühl nicht mehr habe, ist hier eh Feierabend.

Will sagen: Drüber nachgedacht wurde natürlich...hier und da evtl aber etwas unzureichend. Dessen bin ich mir bewusst und darauf wird nun noch besser geachtet.

7. Würdest du einen Kooperationsblog gründen? Mit anderen Bloggern? Oder schreibst du lieber ausschließlich allein?

Ich bin sehr gern allein und tue ergo auch viele Dinge am liebsten allein.

Aber gegen einen Kooperationsblog hätte ich prinzipiell nichts einzuwenden. Vorausgesetzt natürlich, dass die sich zusammenschließenden SchreiberInnen auch gemeinsam funktionieren und auf einer Welle liegen.

Vor ein paar Wochen las ich mal auf so einem "JederMitJedem"-Blog (Name entfallen, sorry) einen Konzertbericht über meine momentan liebste deutschsprachige Band. Gefiel mir gut. Der darauffolgende Blogpost zeigte dann die Vorteile von und "Vorurteile" gegenüber der Pegida-Bewegung auf.

Die Band und Pegida sind thematisch und von der generellen Denke her so weit auseinander, wie ich von einem Doktortitel in Astrophysik weg bin. Lichtjahre. Da hat das mit dem Kooperieren entweder nicht geklappt oder wurde gekonnt ignoriert.

Kooperation finde ich gut. Ist glaube ich aber (siehe genanntes Beispiel) im Internetz nur extrem schwer machbar. Da muss man sich schon sehr gut kennen und/oder einschätzen können. Und wer kann das schon online? Ich zumindest kann es nicht. Von daher mach ich lieber allein weiter.

8. Was sind die schlechtesten Blogs die du kennst?

Kurz und schmerzlos: Ich habe keine Ahnung!

Die Blogs, die ich mehr oder weniger regelmäßig lese, finde ich logischerweise alle gut bis sehr gut.

Und die Namen von denen, die ich mal angelesen und für scheiße, albern oder unsinnig befunden habe, habe ich mir konsequenterweise nicht gemerkt.

Unbefriedigende Antwort, ich weiß. Excuse moi.

Wie auch bei den letzten Malen ist mein Blog für jegliche Blogstöckchen eine Einbahnstraße. Hier endet ihre Reise, ich werf sie nicht weiter. Ich wüsst nicht zu wem.

Sollte sich trotzdem jemand zu einer Antwort berufen fühlen...keine Schüchternheit vortäuschen, immer raus damit!

Freitag, 20. März 2015

Finster

Typisch Hamburger Schietwetter: Kaum ist Frühling, schon ist die Sonne weg.

Was mir als ausgesprochenem Freund der kalten Jahreszeit ja durchaus entgegen kommt, ich will gar nicht schon wieder meckern. Aber so ein dusteres Wetter zum Frühlingsanfang? Ach komm...

Zum Glück ist Besserung in Aussicht, denn außer Frühlingsanfang ist heute auch Sonnenfinsternis und die dauert ja nur ein paar Stunden. Gegen Mittag ist das Spektakel schon wieder Geschichte, so steht's in den Medien. Da macht die Sonnenfinsternis quasi Mittagspause.

In den Medien heißt die Sonnenfinsternis nur "Sofi". Natürlich nicht in allen Medien, das hat die Springerpresse mal wieder exklusiv.

Erst die GroKo, jetzt die Sofi, es wird nicht besser. Wobei, irgendwie ja ganz treffend, in den Tiefen des Weltraums koalieren zumindest rein optisch Sonne und Mond und wenn Sonne und Mond das tun, dann ist das schon eine amtliche GroKo. Das gebe ich zu. Von GroKo zu Sofi ist es dann ja auch kein allzu langer Weg mehr.

In sechs, sieben Jahren sitzen dann in jeder dritten Grundschul...Entschuldigung, GruSchu-Klasse der Republik mindestens ein kleiner GroKo und eine kleine Sofi - wobei letzteres vermutlich heut schon der Fall ist. Da muss man realistisch bleiben.

Ich hatte übrigens mal eine Freundin namens Sofi(e) und das war auch alles ziemlich finster. So schließt sich der Kreis. Aber das ist ewig her und gehört hier eh nicht hin.

Nun stehe ich also auf einem Freitag Vormittag in Erwartung des Mega-Ereignisses ein wenig gelangweilt auf einer Seitenstraße in Hamburg-Alsterdorf herum, umringt von Freundin H. und ihren wild durcheinander plappernden Kommilitoninnenfreundinnen, halte ein Glas Prosecco in der Hand, denn "So ein Ereignis muss man doch feiern! Sowas erleben wir nie wieder!!". "Naja, eigentlich schon. In 24 Jahren um genau zu sein." erwidere ich. "24 Jahre? Das ist ja noch eeeeewig hin!! Wer weiß wie tot ich bis dahin bin!?" quietscht eine der Kommilitoninnenfreundinnen und stößt kichernd und das obligatorische "Stößcheeeen!!" quiekend mit ihrer Nebenfrau an.

Ein wenig betroffen starre ich auf das Glas Prosecco in meiner Hand und beschließe, dass mehr Prosecco in dieser Situation eventuell besser da hilfreich für mich ist. Einfach schönsaufen den ganzen Quatsch.

Ich muss lachen. Etwas Schönsaufen mit Prosecco, da wäre ich der erste Mensch ohne Doppel-x-Chromosom, dem das gelingt. Ross Anthony vielleicht mal ausgenommen, wobei ich mir bei dem mit den Chromosomen nicht so sicher bin.

Whisky. Wodka. Das würd jetzt helfen.

Balvenie Doublewood. Grasovka. Ich tagträume.

Aber kann man ja auch nicht bringen, sich morgens halb zehn in Deutschland die Pulle Grasovka an den Hals zu setzen.

Gut, auf Pauli ginge das, da fiele man gar nicht weiter auf. Oder vor der grau in grauen Plattenbauwohnsilo-Kulisse von Osdorf. Oder im Niemandsland von Neuwiedenthal.

Aber nicht hier in Alsterdorf, da geht morgens um halb zehn nichtmal Prosecco. Wobei allerdings auch nur ich abschätzig von oben bis unten gemustert werde, der wild jubilierenden und zappelnden Weiberhorde zwei Meter links von mir wird zugelächelt, vermutlich, weil das alles sehr "niedlich" ist. Oder "lebensfroh", "lebensbejahend" gar. Der Kerl nebendran dagegen ist wahrscheinlich ein Spanner, Stalker und Tunichtgut, der, nachdem er sein Plastikglas Prosecco in sich gekippt hat, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit marodierend, mordend und brandschatzend durch's Wohnviertel ziehen wird. Klare Sache.

Als mich wieder ein vorbeispazierendes Rentnerpaar auf's Korn nimmt, exe ich mein Glas, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und bilde mir kurz ein, Panik in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Schwarze Kapuze, Jeans mit Loch, Fünftagebart, da steht er, der Endgegner und ist im Begriff, die gesamte Nachbarschaft in Schutt und Asch...

"Oh, dein Glas ist ja leer! Ich schenk dir mal nach!" zerfetzt die Hochfrequenzstimme einer der Kommilitoninnenfreundinnen meine Tagtraumblase und bevor ich mich wehren kann, ist mein Glas wieder voll. "Stößcheeeen!!"

Ich kapituliere.

So ganz allmählich verfinstert es sich. Bevor meine Laune das ebenso tut, schütte ich sicherheitshalber noch ein weiteres Glas Prosecco in mich rein und dann noch eins.

Wirkung trotz nicht vorhandenen Frühstücks: Null.

"Guckt mal, jetzt geht die Sonne unter!" piepst aufgeregt eine Komilitoninnenfreundin und zeigt in den von blau zu grau wechselnden Himmel. "Na, hoffentlich kommt die wieder!" nuschelt ein solariengegerbter Trainigshosenträger mit glänzendem Gelhelm ihr schleimscheißend zu und setzt seinen Allesfickerblick auf, eine Mischung aus treudoofem Monchichi und testosterongeschwängertem notgeilen Grundschulabbrecher. Auch so was, das ich in der Form in diesem Teil Hamburgs eher nicht erwartet hätte.

Das ist alles schwer zu ertragen. Und es wird nicht besser werden, vor allem nicht, da grad bereits die letzte Proseccopulle geöffnet wird, der Trainigshosenträger Artgenossen angeschleppt hat und die Komilitoninnenfreundinnen umso lauter quieken und juchzen je grauer der Himmel wird.

Das ist eine absolut skurrile Situation hier, Abschlussball-Party trifft auf Weltuntergangsgruselstimmung, dazu liegt der Duft von Prosecco-Atem, ausgeschwitztem Testosteron und dem Kebab vom letzten Abend in der Luft. Und nebenbei wird rein optisch innerhalb von drei Minuten aus strahlendem Frühjahr tiefster Herbst.

Zu unserem illustren Grüppchen haben sich nun noch zwei Paare älteren Semesters gesellt, die sich aufgeregt mit H.'s Freundinnen austauschen. Ein "Weltereignis" sei das ja schließlich, alle sprächen darüber, was für ein Privileg, live dabei zu sein! Man nickt sich eifrig und zustimmend zu, die Trainigshosenträger machen mit, ohne jegliche Hintergedanken natürlich...die Komilitoninnenfreundinnen blicken gespannt in einen grauen Himmel und die Trainigshosenträger blicken auf Komilitoninnenfreundinnenärsche. Weil sie es können.

Und Freundin H. stibitzt derweil unbemerkt die letzte verbliebene Flasche Prosecco, die wir uns mit belustigtem Blick auf die Gesamtsituation teilen.

Ja Mensch Sofi, was ist geblieben?

Nichts eigentlich bis auf einen fiesen süßlichen Nachgeschmack im Hals vom Prosecco und der Erkenntnis, dass #Sofi2015 in etwa so spannend war wie eine in den Hang kackende Bergziege.

Hach. Sofi2039.

Ich freu mich jetzt schon drauf...

Freitag, 13. Februar 2015

Herr B. echauffiert sich

Da will einer wegziehen aus Hamburg.

Weil ihm die Stadt gegen den Strich geht und er generell alle Einwohner Hamburgs als "dumm, arrogant und dekadent" empfindet. Absolut alle. Ausnahmslos. Er hat scheinbar nur einen Kamm, über den er scheren kann.

Jetzt sollte man eigentlich demonstrativ gähnen und dem Herrn und seiner Familie den immer gern genommenen, für alle Lebenslagen passenden und komplett totrezitierten Spruch "In Hamburg sagt man Tschüss...!", der mir komplett zum Hals und aus anderen Körperöffnungen heraushängt, weil er in dieser Stadt allgegenwärtig ist, hinterherrufen, aber nein.

Ein Aufruhr geht durch's Volk, die MoPo berichtet aufgebracht und reißerisch, wie man es von ihr kennt und es herrscht akuter Shitstorm-Alarm. #HängtIhnHöher.

Wahrscheinlich gibt es auch längst die dazugehörige Facebook-Gruppe, in der zutiefst verletzte und verstörte HamburgerInnen sich gegenseitig ihr Leid klagen und zum Seelenheil liken.

Das Foto, das Herr Boedekker (in der MoPo steht der Klarname, dann darf ich den wohl auch nennen) von sich in der Zeitung veröffentlichen ließ und auf dem er medienwirksam vor der Kulisse der Binnenalster eine Hamburg-Fahne zerreißt, macht die ganze Antistimmung sicherlich auch keinen Deut besser und ist natürlich überhaupt nicht provokativ. Ob das jetzt seine oder die Idee irgendeines zugekoksten Redakteurs war sei mal dahingestellt,  es ist völlig egal.

Ich, der ich ja nun auch vieles an der Stadt in der ich lebe nicht sonderlich mag, habe mir den Artikel durchgelesen und dabei viel gelacht.

Die Argumente des Herrn B. sind - so es denn seine eigenen und keine frei erfundenen sind, um den Artikel noch provokanter zu machen - teilweise schon sehr...nun ja, ich nenne sie mal vorsichtig "seltsam".

Zunächst bekommt er allerdings meine volle Zustimmung, denn als "den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte" und ihn dazu bewog, Hamburg den Rücken zu kehren, benennt er das unsägliche Rumgeeiere von Stadt und Senat betreffend der Flüchtlingsunterkunft an den Sophien-Terrassen. Das empfinde ich ebenso als traurig und tragisch.

Vom Olympischen Komitee wünscht er sich, es möge Hamburgs Bewerbung für kommende Spiele "abschmettern", da "die Völker der Welt in Hamburg nur willkommen seien, wenn sie ihr Geld daließen". Auch da mag beziehungsweise wird er Recht haben, der Herr Boedekker. Die Olympischen Spiele würden Unmengen an Touristenkohle in die Stadtkasse spülen und Hamburg würde sich der ganzen Welt von seiner besten Seite präsentieren wollen.

Was vermutlich darauf hinauslaufen würde, dass man alles, was nicht ins Gesamtbild einer perfekten Stadt so wie Hamburg gern eine wäre passt einfach wegschafft.

Müll.

Graffitis.

Obdachlose.

Hilfsbedürftige.

Müssen alle weg, die Stadt muss sauber sein für die Touristen aus allen Teilen der Welt. Kann ja nicht angehen, dass später in Tokio, Sydney oder Tegucigalpa Fotos vom Rathaus oder vom Michel herumgezeigt werden, auf denen irgendwo versteckt ein Obdachloser auf seiner Decke sitzt und um ein paar Cent bittet. Die werden outgesorced. Irgendwo kurz hinter die Stadtgrenze. Wedel. Norderstedt. Scheißegal. Hauptsache weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sauber muss sie sein, die Stadt. Gelutscht. Steril.

Herr Boedekker will, dass das Olympische Komitee Hamburg nicht will wie er selbst Hamburg nicht mehr will. Nur dem Olympischen Komitee gibt er Gründe in die Hand, für sich selbst hat er keine. Zumindest keine, die mir einleuchten.

Egoistisch sei der Hamburger, arrogant, arm und dekadent. Ich bin kein gebürtiger Hamburger, aber immerhin bin ich elf Jahre länger hier als Herr Boedekker. Auf mich trifft genau eine seiner vier Hauptcharakterisierungen zu. Blöderweise, dass ich arm bin. Mit Abstrichen vielleicht noch die Arroganz-Geschichte, das liegt dann aber am Gegenüber.

Nach dreizehn Jahren Hamburg kenne ich vielleicht ein Sechzehntel der Stadtfläche und nichtmal einen Bruchteil von einem Prozent sämtlicher Einwohner Hamburgs. Herr Boedekker hat bereits nach zwei Jahren erkannt, dass 100 Prozent aller Einwohner Hamburgs dumme dekadente Arschlöcher sind, die vermutlich auch alle niedliche Hundewelpen vermöbeln und per se kleine Schwänze haben. Alle. Auch die Mädels. Isso.

Weiterhin echauffiert sich Herr Boedekker über Gerempel in der U-/S-Bahn. Das mag er nicht. Rücksichtslos sei das. Da hat er Recht. Ist echt hardcore hier in Hamburg. Während man sich in Shanghai, New York oder Rio in der Bahn höflich aus dem Weg geht und einen Mindestabstand von einem halben Meter wahrt, regiert im HVV der blanke Anarchismus. "Wall of death in der U3 Richtung Kellinghusenstraße", wie oft höre ich die Ansage und steige dann lieber nicht ein. Man lernt ja mit der Zeit. Kann Herr Boedekker mit seinen zwei Jahren Erfahrung nicht wissen. Fucking rookie!

Auch die "piefigen Nachbarn" stören ihn, die beschweren sich nämlich, wenn seine Kids auf der verkehrsberuhigten Straße im idyllischen  Volksdorf Fußball spielen. In den Stadtteil ist er mit seiner Familie gezogen, "weil wir uns überlegt haben, daß wir mal ländlicher wohnen wollen". Ländlicher wohnen wollen und dann in die zweitgrößte Stadt des Landes ziehen. Das muss ich nicht verstehen, oder? Gut, Volksdorf heißt ja nun auch nicht zum Spaß VolksDORF, ist aber trotzdem immer noch Teil einer 1,73irgendwas-Millionen-Möchtegernmetropole und ländlich ist da anders.

Meine Eltern haben zwei Gästezimmer, dort ist es ländlich, sehr sogar. Dort können des Boedekkers Kids stundenlang auf der Straße bolzen bis zum Umfallen und niemand wird sich beschweren.

Außer meinen Eltern.

Über Herrn Boedekker.

Der jammert in der MoPo weiter herum. Seine Frau sei mal getreten worden, weil sie mit dem Rad auf dem Gehweg fuhr. Wer auch immer getreten hat, ist offenbar ein Vollidiot - es heißt aber ja auch nicht grundlos GEHweg. Wie oft hätte ich schon gern jemanden ansatzlos vom Sattel geboxt, der mich mit dem Rad auf dem GEHweg gerempelt, gestreift oder wenigstens drangsaliert hat. Auf dem GEHweg hat das FAHRrad nichts verloren. Punkt.

Dass die Radwege dieser meiner unserer selbsternannten Weltstadt in katastrophalem Zustand sind und erneuert werden müssen,  diskutieren die Schlipsträger im Rathaus seit Jahren und prangen an, mahnen, weisen hin. Nur am Zustand der Radwege ändert sich. Nichts.

Herr Boedekker hat noch nicht fertig. Die Flaggen stören ihn. Die hamburgischen Stadtflaggen, die überall im Stadtgebiet wehen. Und die wohl nur er sieht. Ich kenne nur die am Rathaus und ein paar in Schrebergärten unterhalb des U3-Viadukts. That's it. Herr Boedekker sieht sie überall und das geht ihm gegen den Strich.

Vielleicht laufen die Dinge in Volksdorf anders und man ist patriotischer, vielleicht leben dort mehr Menschen, die ihre Stadt lieben als in meiner Nachbarschaft. Vielleicht flattern da mehr hamburgische Flaggen an Mästen oder aus Fenstern. Weiß ich nicht. Im Umkreis von 500 Metern um meine Wohnung kenne ich jedenfalls nur drei wehende Flaggen. Eine ghanaische, eine des FCSP und eine schwedische. Keine hamburgischen.

Herr Boedekker sieht überall die Hamburger Flagge und echauffiert sich. Ich wette, dass er im letzten Sommer zur WM einer der vielen Millionen war, die an Spieltagen mit Schland-Schminke durch die Gegend gelaufen sind, sich Fähnchen für's Autofenster zugelegt haben und auch ein Schlaaand!-Trikot trugen, notfalls auch das vom Penny für 9,95€. Hauptsache Fan. Alle zwei Jahre mal.

"Hamburg ist das Tor zur Welt, aber das Tor geht nicht auf!" sagt Herr Boedekker. Ich könnte mir jetzt Feinde machen und sagen, dass das so ist, weil Bremen (in der Stadtfahne) den Schlüssel dazu hat.

Aber ich sag's mal anders.

So sehr ich diese meine unsere Herrn Boedekkers Stadt auch manchmal nicht leiden kann, verfluche und verabscheue...trotzdem mag ich es hier. Meist sogar sehr.
Herr Boedekker zieht im Sommer samt Familie zurück nach Berlin. Wo die Menschen freundlicher, weniger arrogant und weniger dekadent sind, wo in der U-Bahn weniger gedrängelt, gerempelt und gepöbelt wird und wo man ohne getreten zu werden auf Gehwegen radeln und Fußgänger ummähen kann, solange es einem Spaß macht. Meinen Glückwunsch.

In Hamburg sagt man Tsch... Ach, drauf geschissen.

Sonntag, 8. Februar 2015

Mitgehört (5): Fiktion oder Realität?

In der S1 Richtung City sitzen zwei Mädels, ich vermute, sie sind auf dem Weg in irgendeinen Club in der Schanze oder auf Pauli.

Sie sind für die Außentemperaturen zugegebenermaßen ziemlich leicht bekleidet und unterhalten sich über ein Buch, welches sie wohl beide gelesen haben.

"Meinst du, dass das tatsächlich so passiert ist?!?"

"Ach was, das ist pure Fiktion!"

"Echt?"

"Klar, das hat die Autorin sich ausgedacht. Nur Fiktion ist das alles! Aber Fiktion ist ja auch cool!"

Ich steige aus und gehe meiner Wege, knapp hinter mir laufen zwei junge Teenies, die den Mädels offenbar auch gelauscht haben.

"Die waren geil oder Bruder?"

"Auf jeden Fall! Vor allem die Blonde!"

"Über was haben die denn geredet Mann?"

"Keine Ahnung Mann, aber war geil, die Blonde hat ständig irgendwas mit "Fick" gesagt! Voll versaut Alter!"

Donnerstag, 8. Januar 2015

Heimatgedanken

Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen laufe ich im niedersächsischen Nichts langsam die Straße entlang, in der ich aufgewachsen bin.

Sechzehn Jahre ist es her, daß ich von hier weggegangen und in die große weite Welt weit abseits von gut behüteter Kindheit und Jugend aufgebrochen bin und während ich so laufe, sehe ich vorm inneren Auge wie den Geist bei Super Mario Kart mein Schulzeit-Ich mit den damals schon hängenden Hosen, den noch fast taufrischen Air Jordans vom letzten USA-Trip und via Discman je nach Tageslaune Radiohead oder dem Wu Tang Clan lauschend, vor mir die Straße herunter schlendern und von dem träumen, was kommt, wenn es endlich abgehauen ist aus diesem Kuhkaff, das es Heimat nennt.

Das eigene Ding machen, was war ich damals geil darauf. Auf in die Großstadt! Lieber gestern als heute.

Studieren und nebenbei richtig gut leben, feiern, reisen, rumkommen in der Welt! Ich will alles und ich will es jetzt!

Die erste eigene "Bude" war ein winziges Zimmer in einem Studi-Bunker. In Oldenburg. War ok, Großstadt wird dann irgendwann später gemacht.

Neunter Stock, linker Flur, letztes Zimmer hinten rechts. Klein aber mein und mit großartiger Aussicht über die wenigen Lichter der Stadt. Bei Gewitter nachts auf dem Schreibtisch sitzend die Beine aus dem Fenster baumeln lassen und in die Tiefe aber lieber in die Ferne schauen. Dazu ein Glas Wein.

Es gab keine eigene Küche. Kein eigenes Klo. Keine eigene Dusche. Dafür aber die Dunkelhaarige aus Stralsund, die im ersten Zimmer rechts wohnte, in die ich vom ersten Tag an ziemlich verschossen war und die später ab und zu beinebaumelnd neben mir auf dem Schreibtisch am offenen Fenster saß.

Ein Jahr später dann umziehen, ein paar hundert Meter die Straße rauf und den neunten gegen den ersten Stock, die Aussicht gegen einen begrünten Innenhof und ein winziges Einzelzimmer gegen eine hübsche kleine gemeinsame Wohnung tauschen. Mit eigener Küche, eigenem Klo und eigener Dusche.

Und mit der Dunkelhaarigen aus Stralsund, die vorher im ersten Zimmer rechts wohnte und manchmal neben mir mit mir in die Ferne schaute.

Gewollt.

Gekriegt.

Das Leben lief soweit ganz gut.

Endlich angekommen an einem Ort, an dem ich mich wohl fühlte.

Ich wollte Stadtleben erleben und Dorfleben vergessen. Und das möglichst schnell.

Ich wollte alles tun können und nichts lassen müssen.

Einfach mal loslaufen und zu weit gehen. Um dann irgendwann irgendwo anzukommen und dann was draus zu machen.

Das war damals der Plan. Einiges davon hat geklappt, anderes wiederum ist glorreich gescheitert. Unter anderem die erste ernstgemeinte Beziehung mit Stralsund. Nach hartem Kampf. Aber das ist okay.

Das Vergangenheits-Ich vor dem inneren Auge verblasst und der Spätnachmittagstraum zerploppt wie eine Seifenblase.

Ich stehe gedankenverloren auf der schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Straße vor dem Haus meiner Eltern und muss mich kurz orientieren, während ein älterer Mann, den ich noch nie gesehen habe, sein Fahrrad geschickt um mich herum lenkt und mich dabei freundlich grüßt.

"Zuhause" in Hamburg hätte er mich angepöbelt oder hätte zumindest im Vorbeifahren den Ellenbogen ausgefahren, um ihn mir in die Rippen zu schlagen. Hier auf dem Dorf nicht. Hier grüßt er freundlich, weil er mich vermutlich aus mir unbekannten Gründen noch aus meiner Zeit als Grundschüler oder von noch früher kennt und jetzt wiedererkannt hat, denn hier in meinem Heimatdorf kennt damals wie heute jeder jeden und vergessen wird hier absolut gar nichts. Und ich mag diese Tatsache heute noch genau so wenig wie früher.

Wie oft packt Mutti noch heute Geschichten über meine Clique von damals aus, die ich längst vergessen oder erfolgreich verdrängt habe. Es gruselt mich jedes einzelne Mal. Die Wahrscheinlichkeit, daß an einem anderen Küchentisch irgendwo im Land irgendjemand Geschichten über mich erzählt, an die ich mich aus verschiedensten Gründen auch nicht mehr erinnern kann oder will, ist hoch und das Gefühl bei dem Gedanken daran ist kein gutes.

Daß Mütter ehemaliger Kumpels im Heimatdorf heutzutage am Kaffeetisch noch Geschichten über mich erzählen, ist allerdings nahezu ausgeschlossen, denn sämtliche Mitglieder meiner früheren Clique sind inzwischen weggezogen und ihre Familien bis auf eine Ausnahme auch.

Ich habe hier keine partners in crime mehr, mit denen ich gemeinsame Erinnerungen teilen könnte, einer der Gründe, warum ich im Normalfall nur noch ein Mal im Jahr über Weihnachten nach Hause aufs Dorf fahre und es dort dann auch nie länger als drei Tage aushalte. Das klingt hart, ist aber so.

Ich schaue auf das Haus gegenüber meines Elternhauses und erinnere mich daran, daß früher von drüben immer Lärm zu hören war. Sägen, Hämmern, lautes Geröhre aus defekten Auspufftöpfen. Mein Nachbar Hubert war eine coole Sau, ein absoluter Sympath, ein begnadeter Handwerker und Bastler, ich weiß nicht, wieviele ferngesteuerte Autos er in meiner Kindheit für mich repariert hat, nachdem ich sie buchstäblich vor die Wand gefahren hatte. Er hat jeden Totalschaden wieder hinbekommen.

Er hatte einen riesengroßen Jagdhund-Mischling, der aufs Wort hörte. Eine handzahme hüfthohe Bestie, die einen vor lauter Freude vollsabberte, wenn man sie streichelte. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen, aber ich weiß leider noch genau, wie ich vor Schreck laut gequiekt habe, als dieses riesige Tier zum ersten Mal an mir hoch sprang, um mir mit der Zunge quer durchs Gesicht zu schlecken. Das werde ich nie vergessen. Und ich war da nicht mehr erst elf...

Der Hund ist schon lange tot und vor drei Jahren ist mein Nachbar vorm Fernseher eingeschlafen und einfach nicht mehr aufgewacht. Mit Anfang fünfzig. Seine junge Tochter hat ihn am nächsten Morgen vorm Schulbeginn gefunden.

Irgendwas läuft falsch.

Ich drehe mich mit einem schweren Gefühl im Magen nach rechts um, gehe ein paar Schritte und schaue auf der anderen Seite der kleinen Kreuzung auf einen ausgedehnten Garten mit Goldfischteich und einem kleinen hölzernen Gartenhaus.

In der Einfahrt steht ein grüner Kleinwagen mit Initialen-Kennzeichen. Die ältere Tochter des drüben wohnenden alt-hippiesquen Lehrerpaares ist zu Besuch.

Ich war ihre erste große Liebe und das hat sie mir damals, mutig wie sie war, auch gesagt. Sie war fünfzehn, ich siebzehn. Ich fand sie ganz hübsch und nett, mehr aber dann auch nicht.

Das anständig rüberzubringen habe ich vollkommen verkackt. Hab das rausgehauen wie mit einer Abrissbirne. Voll auf die Fresse. "Du? Ich? Wir? Zusammen?? Im Ernst??" Irgendwie so. Ich weiß es nicht mehr. Nur noch, daß sie am Ende geweint und ich von der Situation überfordert gelacht habe. Es war schlimm. Ziemlich ziemlich schlimm.

Das ich Tage später auf einer Party mit ihrer besten Freundin abgestürzt bin, wird ihr sicherlich auch nicht besonders geholfen haben... Wir haben danach nie wieder ein Wort miteinander gewechselt.

"Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie mich jetzt auf der Straße stehen sähe?" denke ich mir. Möglichkeiten gibt es viele, von durch Weitergabe der Hippie-Gene begründete Tiefenentspanntheit bis hin zu wildem Furor, der durch mein damaliges neanderthalerähnliches Verhalten durchaus begründbar in meiner sofortigen Entmannung endet, ist alles dabei. Ich möchte lieber nichts herausfordern.

Ich laufe ein paar Meter die Straße hinunter. Rechts vor einer Doppelhaushälfte parkt ein Familien-Van. Mit "Kackblag mit gewollt intellektuellem Mittelschichtennamen an Bord"-Aufkleber auf der Heckscheibe. Jan-Marten oder sowas. Kai-Christopher. Sowas. Als Rufname. Auf dem Dorf schämt man sich für so etwas noch nicht. In Hamburg hätte die Karre längst irgendwer abgefackelt. Nur des Aufklebers wegen.

Früher stand auf dem Stellplatz ein uralter rostiger Golf 1, rot mit blauem Kotflügel vorn rechts. Die Karre gehörte "Schwien", dem mit Abstand Beklopptesten aus unserer Clique. Seine Haarfarbe wechselte alle drei Wochen, sein Lippenpiercing hatte er sich im Suff selbst gestochen, er hatte warum auch immer im fliegenden Wechsel die hübschesten Mädels aus dem Umkreis von mehreren Kilometern an seiner Seite und als er endlich achtzehn war und ein Auto - den gammligen Golf - besaß, war er innerhalb kürzester Zeit der Don und kontrollierte eine ganze Weile lang alles, was in unserem und den umliegenden Dörfern mit Mary-Juana und ähnlichen Stöffchen zu tun hatte.

Den Golf hatte er zur absoluten Schmugglerkutsche umgebaut, der Wagen war dank zugute des Stauraums ausgebauter Innenauskleidungen und anderer Anpassungen nichtmal mehr ansatzweise verkehrssicher, das hat damals auf den Fahrten in die Stamm-Disse oder über die Grenze in die Niederlande aber keinen aus unserer Clique großartig geschert. "Schwien" hatte immer Geld und warf es großzügig durch die Gegend. Fuffis im Club und so. Hinterfragt hat das keiner von uns. Warum auch, woher die Kohle kam wusste eh jeder, "Schwien" teilte gern und wir hatten alle was von seinem "Erfolg". Und auch ohne die Moneten wäre "Schwien" immer einer von uns gewesen, das war eh klar.

Inzwischen ist er im bürgerlichen Leben angekommen und leitet erfolgreich ein Architekturbüro im Ruhrpott. Komplett mit Familie, Reihenhaus und Parzelle in der Kleingartensiedlung. Vermutlich auch mit wehender Deutschland-Fahne neben dem Gartenhaus. Das war damals nun wirklich nicht abzusehen und allein der Gedanke daran ist irritierend und gruselig. Wenn ich an "Schwien" denke, sehe ich immer noch den bunthaarigen Teenager vor mir, der am Steuer eines mit sieben Personen vollkommen überbesetzten altersschwachen VW Golf sitzt, sein Bier ext und mit uns anderen im Chor "Deutschland has gotta die!" gröhlt, während wir zum Atari Teenage Riot-Konzert in der nächstgrößeren Stadt fahren. Die gute alte Zeit.

Jetzt also Leiter eines Architekturbüros. Wahrscheinlich mit Schlips und Anzug und so. Verrückt wie es manchmal so läuft.

Wieder ein paar Meter weiter schlurfe ich die Straße hoch und schaue links von mir auf einen großen Wintergarten und einen vollkommen neu herausgeputzten Bungalow, in dem früher die Familie eines anderen sehr guten Freundes lebte. Er war ein paar Jahre jünger als ich, aber trotzdem neben meinem damals besten Freund der erste zu dem ich ging, wenn ich Probleme jeglicher Art hatte.

Ein toller Kerl, immer ein offenes Ohr, sehr besonnen, trotzdem für jeden Scheiß zu haben und immer mittendrin bei jeder einzelnen Wahnsinnstat unserer Clique. Und davon gab es viele.

In T.'s familieneigenem Partykeller fanden regelmäßig wildeste Parties statt, ein Mal an Silvester haben wir die Sauna innen rot gestrichen.

Komplett.

Mit Tomatenketchup.

Ein anderes Mal ging ein Sessel in Flammen auf, als "Schwien" eine Sportzigarette entzündete. Ich weiß bis heute nicht, wie das genau passieren konnte, gelöscht haben wir aber mit dem Gartenschlauch, sodass danach der halbe Keller unter Wasser stand. Und was ein angeschlossener Gartenschlauch in einem Partykeller zu suchen hat, selbst wenn er in dem Moment ein Geschenk des Himmels war, ist mir immer noch vollkommen schleierhaft.

T.'s Eltern nahmen die Überflutung relativ entspannt hin, vermutlich waren sie froh, daß wir nicht das komplette Haus abgefackelt hatten. Allerdings war diese Party auch unsere letzte dort. Es mag da Zusammenhänge geben, sie wurden nur nie ausgesprochen.

T.'s zwei Jahre ältere Schwester war meine damals beste Freundin, sie hat sich einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag, als sie dann endlich durfte, einen riesengroßen Drachen in furchtbarster Qualität über ihren kompletten Rücken stechen lassen, heutzutage sticht den jeder Knast-Tätowierer auf Crack in einer dunklen Arrestzelle besser, aber damals im niedersächsischen Nichts war das vermutlich kaum hübscher hinzubekommen. Sie war darauf stolz wie Oscar und ich habe einfach mal zugestimmt. Wie man das halt als Kerl so tut. "Ja, sieht klasse aus. Nein, macht dich nicht fett!"

Ich überlege, wie es wohl wäre, T.'s große Schwester mal wieder zu treffen. Kack-Tattoo hin oder her, in den ganzen bestfreundschaftlichen Jahren haben wir nicht nur ein Mal auf Parties oder den damals wie heute in der heimatlichen Einöde äußerst angesagten Schützenfesten oder Scheunenfeiern vorgegeben, ein Paar zu sein, um den jeweils anderen vor ungewollten Anbaggerversuchen zu bewahren. Händchen halten war in solchen Momenten Standard und selbst ein lapidarer Kuss, um zu beweisen "Ja, ich mein das ernst, das ist wirklich mein Mädchen/mein Kerl!" war kein Thema und es wurde uns auch fast jedes Mal als real abgekauft.

Küssen hatten wir zum Glück schon seit jungen Jahren gemeinsam geübt. Ausgiebigst. Ohne jegliche Hintergedanken sondern für eben solche Fälle.Wenn's mal gebraucht wird. Man denkt ja mit.

Vermutlich war da die ganze Zeit nicht nur von meiner Seite aus mehr im Spiel als nur albernes "küssen üben" und Händchen halten, nur kam zumindest mir Depp das damals nie in den Sinn.

Ich vermeide einen Seufzer und während ich das tue, trete ich beim Weitergehen nach ein paar Metern in eine tiefe Pfütze, die vom letzten Regenguss übrig geblieben ist und augenblicklich läuft mir das kalte Regenwasser in den Schuh.

Ich fluche laut, was den Köter auf dem Grundstück neben mir laut kläffend auf den Plan ruft. Ich versuche abwechselnd, mich und die Töle zum Wohle aller Anwohner zu beruhigen, doch beides misslingt. Der Kläffer kläfft, ich motze und fluche, wir schaukeln uns gegenseitig hoch. Ein verdammter Teufelskreis.

So verpasse ich beinahe, daß ich am Haus meines damals absoluten Erzfeindes vorbeilaufe. Ob des nassen Fußes eher vorbeihinke.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, schaue so böse es eben geht (da liefert der nasse Schuh gute Hilfestellung) und versuche mich zu erinnern, warum der Typ nochmal mein Erzfeind war - aber ich komme nicht mehr darauf. Nicht mal sein Name fällt mir noch ein.

Solche Jugendfehden sind, wenn man sie zwanzig Jahre später erneut und ernsthaft betrachtet, dann doch eher meist albern. Früher haben wir uns fast täglich die übelsten Dinge an den Kopf geworfen und nicht nur ein Mal floss Blut. Sich aus dem Weg zu gehen ist in so einer kleinen Dorfgemeinschaft nicht einfach, schon gar nicht, wenn man auch noch in der gleichen Straße wohnt - wir haben es aber auch nie wirklich probiert. Das gehörte zum Alltag dazu. Schule, Hausaufgaben, Training, die Clique treffen und irgendwo zwischendrin den Erzfeind anpöbeln. Ansonsten fehlte was. Und heute weiß ich nichtmal mehr, wie der Typ überhaupt hieß. Lustig.

Der "wahre Feind", so es denn überhaupt einen gibt abseits irgendwelcher Schlipsträger in gehobenen Ämtern, die einem ohne mit der Wimper zu zucken das freie Leben beschneiden, wohnt dann wohl doch eher in Form eines unter Ausfall seines schlecht blondierten Haares leidenden und ballonseidene Sportjacken tragendenden fast schon bemitleidenswerten Unterdurchschnitts-Nazis, der sich beim Rezitieren irgendwo aufgeschnappter Hetzparolen durch seine feuchte Aussprache hervorhebt, in der Etage unter mir. Und selbst der ist, wenn man es genauer betrachtet, nur ein armes Schwein, das an seiner eigenen Existenz vermutlich schon selbst mehr als genug zu knabbern hat.

Ich könnte jetzt auf der heimischen Straße nach links in eine Sackgasse abbiegen, an deren Ende noch immer die Eltern eines ehemaligen Weggefährten wohnen, ich lasse das aber sein, denn gemocht habe ich diese Eltern nie. Sie war/ist eine fanatische, fast schon radikale Katholikin und er stolperte gern mal rein zufällig ins Badezimmer, wenn eine Freundin der Tochter oder eine der immer wieder mit Kusshand aufgenommenen Austauschschülerinnen aus fremden Landen grad die Toilette benutzte oder unter der Dusche stand.

Gruselige Menschen. Ich versuche heute, jeden Kontakt so gut es geht zu vermeiden und laufe daher einfach geradeaus weiter.

Da kommt dann lange nichts außer Einfamilienhaus mit sauberem Vorgarten neben Einfamilienhaus mit sauberem Vorgarten. Fast schon steril. Das war früher schon so und das ist heute immer noch so, nur die damals schon sehr wenigen Kontrastpunkte, die Jugendlichen, die dagegen waren, sich gegen den Status Quo stellten und zumindest ein bisschen rebellierten, die das Gesamtbild aufpeppten, anpissten und durcheinanderbrachten - die sind nun komplett verschwunden.

Das waren damals wir, bunte Haare, hängende Hosen und entsprechende nicht massenkompatible Musik haben im Heimatdorf vollkommen ausgereicht, um die Dorfgemeinschaft nachhaltig zu verstören und aufzurühren.

Nirvana, Atari Teenage Riot und Rage against the machine statt 2unlimited, Whigfield und Haddaway. Ausgewaschene Bandshirts statt extrem angesagter Marken-Trainingsjacken. Wildwuchs auf dem Kopf statt in Form gegelte Raverdeppenfrisuren.

Wir waren die Außenseiter damals und deswegen wollte uns auch ständig irgendwer auf die Fresse hauen.

Ich muss grinsen als ich weiter laufe, denn diese Geschichten endeten extrem selten tatsächlich in wirklichen Hauereien, da die, die große Fressen hatten, bei reellen Konfrontationen meist dann doch zurückzogen. Und wenn es doch mal zum Schlagabtausch kam, hat sich unsere kleine Truppe immer wacker gehalten. Allerdings hatten wir - und da hatten wir verdammtes Glück - auch die beiden absolut größten Kanten des Dorfes auf unserer Seite. Ansonsten hätten wir sicher deutlich öfter Dresche bezogen und das nicht zu knapp.

Wobei man das mit den heutigen Zuständen natürlich längst nicht mehr vergleichen kann. Damals ging es immer nur eins gegen eins und es war Schluss, wenn einer nicht mehr konnte, wollte oder liegen blieb. In dem Fall wurde auf Siegerseite kurz herumgeposed und dann wurde wenn nötig dem Unterlegenen wieder auf die Beine geholfen. Die Geschichte war dann ja geklärt.

Ich will das nicht schön reden, sich gegenseitig die Fresse zu polieren ist nie gut gewesen. Aber damals hielt man sich an die ungeschriebenen Regeln. Die kennt man heute scheinbar gar nicht mehr und haut weiter drauf und tritt weiter rein wenn einer längst wehrlos auf dem Boden liegt. Gern auch zu zweit, zu dritt, zu viert...

Wie das oft endet, liest man fast jeden Tag in den Medien. Eine ekelhafte und schlimme Entwicklung, die inzwischen meist damit "entschuldigt" wird, daß "die Ehre" verteidigt oder wiederhergestellt werden "musste".

Jegliche "Ehre" ist, so sie denn überhaupt mal vorhanden war, ab dem Moment Geschichte und hinfällig, in dem einem auf dem Boden liegenden noch in den Magen oder gegen den Kopf getreten wird.

Wäre "Ehre" nicht nur ein Gedankenkonstrukt sondern etwas real Existierendes, es würde vor solchen Schlägern hämisch auf und ab tanzen, laut lachen und irgendwelche vollkommen angebrachten Witze über kleine Schwänze reißen.

...

Ich muss lachen und verschlucke mich dabei. Ich stelle mir "Ehre" als kleinen Kobold mit Cowboy-Hut vor, der zu einem irren Stakatto-Rhythmus herumspringt und dabei üble Beleidigungen in wahllose, meist aber richtige Richtungen ausstößt. Eine Vorstellung, die mir gefällt.

Zu meiner Rechten taucht das Haus auf, in dem früher mein damals allerbester Kumpel gewohnt hat.

Wir haben jede freie Minute miteinander verbracht, haben uns alles, wirklich alles erzählt, was uns auf der Seele brannte, von der Grundschule bis zu meinem Weggang aus dem Heimatdorf nach dem Abitur waren wir fast untrennbar und in gewisser Weise der Kern unserer Clique.

Ein prägender Teil meiner Jugend hat sich in diesem Haus beziehungsweise in der von seinem Vater selbstgebauten Holzgarage mit dem Basketballkorb daran abgespielt.

Zum Bolzen ging es zwar immer durch ein Loch im Zaun auf den örtlichen Sportplatz und zum Videospiele zocken hockten wir bei mir zuhaus vor der Konsole, ansonsten war K.'s Haus der Mittelpunkt und Haupttreffpunkt unserer Clique.

Ich verbinde so viele und zum großen Teil positive Erinnerungen mit diesem Haus und als ich davor stehe, kommen sie alle wieder hoch.

Ich erinnere mich an K.'s Vater, einen kleinen lustigen Mann mit Halbglatze und formidablem Musikgeschmack. Er lieh mir mit den Worten "Ich verspreche, das wird dir gefallen!" das Album "Pablo Honey" von Radiohead. Es gehört seitdem zu meinen absoluten Favoriten und "Creep" ist die unangefochtene Nummer eins auf meinen persönlichen Top-Charts.

K.'s Mutter war auch eine tolle Person, allerdings wundert es mich wenig, daß K.'s Daddy sie nur selten in seine Schatzkammer gelassen hat. Sie war extrem feministisch eingestellt, allerdings auf so ulkige Art, daß man es beim besten Willen nicht ernstnehmen konnte. Ein Mal hat sie in unserem Dorf eine Demo organisiert, weil sie im TV gesehen hatte, daß Frauen in irgendeinem afrikanischen Dritte-Welt-Land barfuß herum liefen. Und ihr größter Wunsch war nun, diesen Frauen Schuhwerk zu ermöglichen. Dafür hat sie auf der Demo auf dem Marktplatz unseres kleinen Dorfes zusammen mit der einzigen anderen Teilnehmerin der Demo - ihrer besten Freundin - tatsächlich mehrere Stunden barfuß herumgestanden und Singsangs skandiert. Die paar Mark, die zusammengekommen sind, hat sie auch tatsächlich gen Afrika gespendet und das haben wir ihr alle hoch angerechnet, wir haben sogar selbst jeder ein bisschen gegeben.

Das im betreffenden Land die Schuhlosigkeit dank extremer Armut und Bürgerkrieg wohl die geringste Sorge der im TV gezeigten Frauen gewesen sein wird, ist an K.'s Mutti leider komplett vorbei gegangen.

Auch wenn ich beim Gedanken daran immer wieder lachen muss - es wäre wohl nicht schlecht, wenn es mehr Menschen wie K.'s Mutter gäbe, die handeln anstatt nur zu reden. Selbst wenn es aus eher sinnfreiem Anlass ist. Auch wenn wir K.'s Mutter damals heimlich ausgelacht haben, war uns doch klar, daß es wichtig ist, was sie da tut. Nur hätte man es noch optimieren können. Aber zuerst zählt ja der Wille.

Es fängt wieder an zu regnen, ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und suche Schutz unter der großen Eiche gegenüber vom ehemaligen Haus meines ehemals besten Freundes.

An der jetzt ausgebauten hölzernen Garage hängt immer noch ein Basketballkorb, es ist nicht mehr der, auf den wir früher gespielt haben, der wurde mal '97 auf einer Party aus der hölzernen Wand gerissen, trotzdem sehe ich uns vorm inneren Auge dort auf dem Innenhof gegeneinander zocken. Drei gegen drei und trotz engster Freundschaft ohne Rücksicht auf Verluste. "Schwien" hat dabei mal zwei Zähne verloren und K. brach sich einen Finger. Unsere Liga-Spiele waren dagegen der reinste Kindergarten.

Ich erinnere mich noch, wie irgendwann '94 oder '95 während wir zockten alle zehn Minuten drei Mädels am Grundstück vorbei liefen und uns mehr oder weniger offensichtlich beobachteten. Das ging tagelang so und am vierten Tag nahm mein bester Freund mich zur Seite und sagte "Die da links mit den dunklen Locken find ich klasse. Wer weiß, vielleicht heirate ich die irgendwann!"

Mit fünfzehn oder sechzehn klingt das albern, er meinte das aber vollkommen ernst. Er war so einer.

Und er hat es auch fast geschafft, ab der Woche danach waren die beiden acht Jahre lang ein Paar und bereits verlobt.

Dann hat er es sich doch anders überlegt.

Es wäre auch zu romantisch gewesen. Und wer mag schon Happy-Ends...

Es schüttet wie aus Eimern und ich stehe inzwischen klatschnass unter der großen Eiche und wäre gern wieder ein Teenager zu Schulzeiten. Im Heimatdorf. Mit diesen fantastischen Freunden um mich herum. Mit diesem fantastischen Leben, das ich damals überhaupt nicht richtig zu schätzen wusste.

Wenn ich zurückreisen könnte, dann würde ich das sehr wahrscheinlich tun und auf meinem Lebensweg ein paar andere Abzweigungen wählen. Viele andere sogar. Nur die, die mich zu für mich heute wichtigen Menschen geführt haben, würde ich beibehalten. Ansonsten: Restart.

Wer weiß, wo ich dann ankommen würde? Ein irgendwie spannender Gedanke...

Es beginnt zu donnern und zu blitzen. Eichen soll man weichen.

Zuhause fragt Mutti, was ich denn in den letzten Stunden getan hätte.

"Nachgedacht" antworte ich. "Ich hab nur ein bisschen nachgedacht."