Ich sitze in der Bahn und fahre heim. Den Rucksack voller Einkäufe, die im ÖPNV unverzichtbaren Kopfhörer auf und die aus den Kopfhörern schallenden Stimmen in den Ohren.
Am Barmbeker Bahnhof herrscht wie immer riesige Hektik. Sechzehn wollen aussteigen, dreiundzwanzig wollen rein. Und das möglichst schnell, möglichst gleichzeitig. Ein Schubsen, ein Drängeln, wutentbrannte verständnislose Blicke werden quer durch den Waggon geworfen, Münder gehen auf und zu, schreiend, fluchend und ich höre nur die Stimme von Axel Kurth, dem Sänger von WIZO, der mir ins Ohr brüllt, wie wenig er die Menschheit leiden kann. Ich erwische mich dabei, wie ich, ob der Anblicke, die sich mir hier grad bieten, zustimmend nicke.
Die Türen schließen, langsam rattert die U3 auf die Brücke hinauf, die über die Dächer Barmbeks gen Heimat führt. Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Mundsburger Türme und am Horizont leicht verschwommen den Fernsehturm, der sich gegen den dunkler werdenden Abendhimmel als schwarze Silhouette abzeichnet. Eine schöne Aussicht.
Mir gegenüber sitzt eine junge Mutter Anfang zwanzig mit ihrer kleinen Tochter. Wie alt mag die sein? Zwei vielleicht?. Rosa Schleife im blonden Haar, rosa Jäckchen an, sie guckt mich an und freut sich, sie lächelt, ein Schneidezahn fehlt...
Die Stimme im Kopf singt über das Schlachten und Zerteilen von Schweinen. "Und dann spritzt das warme Blut aus dem Hals der letzten Sau..." (WIZO - Die letzte Sau)
...Die Kurze lächelt nun nicht mehr, sie strahlt mich an. Die Zahnlücke blitzt. Ab und zu beisst sie in ein Schokobrötchen, krümelt sich voll, saut sich und die Sitzbank mit Schokoflecken ein, über und über. Freudestrahlend hält sie mir das angekaute angesabberte Backwerk hin. Ob ich auch mal beißen möchte?...
Die Stimme in meinem Kopf singt über den Mord und das Verspeisen der Nachbarstochter. "Oh, Anneliese, mein Nachbarskind, du bist immer so gut drauf. Ich esse das Kind meiner Nachbarn auf." (WIZO - Anneliese Schmidt)
...Nein, ich möchte von ihrem Brötchen nicht beißen. Ich lehne lächelnd ab. Mutti wird aufmerksam, bisher hatte sie am Handy gehangen und der Situation keinen Blick geschenkt. Ihr Mund ging auf und zu und auf und zu. Nun weist sie ihr Kind zurecht, es soll mich nicht belästigen. Und sich nicht mit Schokolade beflecken. Sie scheint laut zu sein, auf und zu, auf und zu, dazu Gestik, die gute Laune der Kleinen ist abrupt beendet. Jetzt weint sie. Tränen kullern. Was für eine großartige Mutter...
Die Stimme in meinem Kopf ruft nun zu Attentaten auf. "
...Habichtstraße. Heimat. Ich mag diese kleine ruhige Station inmitten von Grün sehr gern. Mit den gelben Plexiglasfenstern an der Treppe und fast komplett ohne schlechte Kinder-Tags. Ich stehe auf, Mutti lächelt mich an, ihr Mund geht auf und zu, vermutlich hat sie mir einen weiterhin schönen Tag gewünscht, vielleicht hat sie mir auch einen Quickie im Gebüsch angeboten, ich habe keine Ahnung. Ihr Töchterchen sitzt weiterhin heulend neben ihr, wird aber gänzlich ignoriert. Was für eine großartige Mutter... Kopfschüttelnd steige ich aus der Bahn. Schau durchs Fenster wieder hinein in den Waggon, Mutti ist wieder plappernd am Handy, die Kurze weint immernoch bitterlich und als die Bahn ruckartig anfährt, fällt sie fast vom Sitz. Mutti bemerkt es nicht.
Und dann brüllt die Stimme in meinem Kopf "Hin und wieder stell ich fest, daß ich nicht mehr lachen kann, über Sachen, die ich früher lustig fand. Hin und wieder merk ich auch, daß ich keine Menschen brauch und lieber ganz alleine bin." (WIZO - Quadrat im Kreis)
Noch ein zustimmendes Nicken.
Ab nach Hause.
Oh Mann, was ne scheiß Mutter...
AntwortenLöschenJepp, das ist wirklich traurig. Leider beobachte ich sowas öfter in der Öffentlichkeit, es scheint fast schon "normal".
LöschenIm Nachhinein nervt es mich, daß ich der Kleinen nicht zur Seite gestanden bin. Das war keine gute Entscheidung.