Samstag, 24. November 2012

Ohne Worte.

Es war ein toller Tag. Wir waren früh auf den Beinen, haben viel erlebt, tolle Menschen kennengelernt, das eine oder andere Bier vernichtet, wir haben nah der Schillingbrücke lange guter elektronischer Musik gelauscht, dabei getrunken und Mädels auf den Arsch geschaut. Wir haben in der Sonne gelegen, uns selbige auf den Bauch scheinen lassen und dabei haben wir gelächelt. Danach waren wir in einer "Beach Bar" an der Spree, haben da weitere Biere getrunken, weitere Ärsche bestaunt und weiter die Sonne genossen.

Die Sonne, die heute jemand, den ich nicht kannte und den ich nie kennengelernt habe, zum letzten Mal sehen wird.

Wir laufen angeschickert von der Oberbaumbrücke Richtung Warschauer Brücke, neues Bier in der Hand, wir machen billige Witze und haben einfach Spaß.

Ein Geräusch, das ich nicht beschreiben kann. Ein dumpfer Knall, bumm. Dann Stille. Das läuft alles in Zeitlupe ab. Als ich das Geräusch, den Knall, höre, drehe ich mich instinktiv um. "Etwas" fliegt durch die Luft und augenblicklich ist mir klar, daß das ein Mensch ist.

Ich renne los, lustigerweise die Bierflasche in meiner rechten Hand fest im Griff, die schäumt nichtmal über...M. ist direkt hinter mir, das bemerke ich aber gar nicht. Später erzählt er mir, das er nichts gesehen hat, ich hab wohl nur "Wart mal!" gesagt und bin dann losgerannt. Er rannte einfach hinterher.

Ich höre laute Schreie, verzweifelt, "Ich wollte das nicht, ich wollte das nicht!!". Es ist eine junge Frau, Mitte oder Ende 20, sie ist kaum zu bändigen, sie will weg von hier, sie schlägt immer wieder die Hände vors Gesicht, sie steht neben der Fahrertür ihres Wagens und kann sich kaum auf den Beinen halten, wird gestützt, die Frontscheibe ihres Autos, ein hellblauer Peugeot, ist zersplittert, das linke Vorderlicht ist auch kaputt, auf der Motorhaube sind Dellen. 

Keine zwei Meter vom Wagen weg liegt jemand auf dem Boden. Ein anderer Jemand beugt sich über ihn. Ich geh langsam näher. Ich sehe verdrehte Gliedmaßen und Blut. Das kommt aus der Nase, das kommt aus dem Mund, das kommt auch aus den Ohren. Ein junger Typ, 23 vielleicht. Höchstens. Er trägt Lederjacke, hat bunte Haare, an den Füßen Doc Martens. Ein Punk. Er jammert nicht, er stöhnt nicht, er bewegt sich nicht. Der Jemand, der sich über ihn beugt, schaut mich an, verzweifelt. "Ich hab ihn noch gewarnt, Mann! Ich wollt ihn festhalten, aber er war zu schnell! Ich war direkt hinter ihm!"

Und dann werd ich zum Feigling. Denn ich geh weg. Ich verpiss mich einfach.

Zum Glück sind direkt die Cops da, zwei Mannschaftswagen standen warum auch immer keine 50 Meter entfernt, die haben mitbekommen, was passiert ist und kommen angerannt. Kümmern sich. Um das Opfer, um den vollkommen verzweifelten Ersthelfer, um die immer noch schreiende und weinende Fahrerin.

Ein Polizist fragt nach Zeugen unter den inzwischen sehr vielen Schaulustigen, die die Szenerie teils sogar fotografieren oder filmen. Ich melde mich. "Hallo, ich habs gesehen...aber nicht alles."

Ich werde befragt, am ganzen Körper zitternd, kann aber weiter nicht beitragen zur Frage "Wer hatte grün?" Denn ich hab ja den Unfall an sich nicht gesehen, nur die Folgen.

Denn ich bin "Knallzeuge". Ich habe gehört, aber nicht gesehen. So die Definition.

Aber ich HABE gesehen. Ich hab ihn fliegen sehen, ich hab seine Verletzungen gesehen, ich hab gesehen und gehört, wie die Fahrerin weint und schreit, ich hab gesehen, wie die Sanitäter ihn versorgen, ich hab auch gesehen, wie sie sich Blicke zuwerfen, die nichts Gutes bedeuten...

Tage später, schon längst wieder in Hamburg, hab ich dann online in einer Berliner Zeitung die Nachricht entdeckt, daß er es nicht geschafft hat. Und das war schlimm. Das war richtig schlimm. So will ich mich nie wieder fühlen.

Nochmal eine Woche später kam dann ein Brief von der Berliner Polizei. Ich sollte meine Zeugenaussage machen. Ich habs beschrieben und es gab keine Antwort mehr.

Ich hab nicht nachgehakt.

Ich will nur die Bilder aus dem Kopf haben...

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