Es ist mal wieder soweit!
Heute ist "Schlagermove" in Hamburg.
Horden verkleideter sturzbesoffener Feierwütiger begleiten geschmückte LKWs, von denen Songs vom Wendler, Tim Toupet oder ähnlichen Möchtegern-Musikanten herunter schallen, durch St. Pauli, über die Reeperbahn, die ich generell schon nicht leiden kann und heute noch mit einem extragroßen Schuß Abneigung bedenke.
Die zumeist gespielte gute Laune finde ich furchtbar und allein beim Gedanken an diese Karawane der total Bekloppten, die da saufend, schunkelnd, johlend und wahlweise pissend oder kotzend durch die Straßen zieht, schmerzen mir die Augen, bluten mir die Ohren und ich bekomme juckenden Ausschlag und Dünnpfiff.
"Schlagermove". Warum bloß?!?
Tatsächlich gibt es im Bekanntenkreis noch Menschen, die mich auch dieses Jahr wieder fragten, ob ich nicht mitkommen wolle.
Es ist verrückt, sie geben nicht auf. Kennen mich seit Jahren und versuchen es trotzdem jedes Jahr aufs Neue. Beeindruckend irgendwie.
Und nervig.
"Hey, nächste Woche ist Schlagermove! Komm doch mit! Dieses Jahr wird es sicher total klasse!"
"Danke nein, ich verzichte. Und das gern! Wie oft müssen wir diese Diskussion eigentlich noch führen?"
"Wir müssten das ja nicht tun, wenn du einfach mitkommen würdest. Aber du sträubst dich ja! Dabei haben wir so tolle Kostüme!"
"...!"
"Was wirst du denn stattdessen tun, während wir Spaß haben?"
"Wie jedes Jahr werde ich bezweifeln, daß ihr tatsächlich Spaß habt. Und anscheinend lieg ich da ja auch nie so verkehrt, wenn ich an Erzählungen der letzten Jahre denke."
Darauf folgt meist Schweigen.
(Ähnliche Diskussionen gibt es übrigens in jährlicher Wiederholung auch zur LiLaBe (ein als Karnevals-Party getarntes Sauf-und-Grapsch-Event) und vor großen Festivals wie RaR, Hurricane etc. Der Wortlaut dürfte zu 95% übereinstimmen, das Ergebnis ist immer gleich.)
Meine paar Leutchen sind also auch dieses Jahr wieder ohne mich losgezogen. Zum Glück.
Denn zwei Mal war da in St. Pauli auf der Reeperbahn zum Schlagermove.
Zum ersten Mal 2002, grad aus NRW in die große Stadt gezogen, blutjung noch (fast) und bereit, große Taten zu vollbringen und neue Abenteuer zu erleben.
"Schlagermove? Kenn ich nich, geh ich hin! Mann Alter, du lebst jetzt in ner Großstadt! Wie geil ist das, du bist jetzt voll independent und so, fett!" hab ich mir vermutlich gedacht und als ich dann mitten im Trubel stand, dachte ich sicher sowas wie "Das ist lustig, da ziehen paar Irre in Verkleidung durch die Reeperbahn, die ich ja eh toll finde, da wo ich herkomm oder da wo ich bisher gewohnt hab, da gibts sowas nicht. Ach Reeperbahn, super! Ich lieb das alles, die Leute in ihren Verkleidungen, gut, sind alle ziemlich dicht...was solls! Spaß haben!"
Jung und unbedarft.
Jung und unbedarft hatte ich dann auch kurz drauf einen abgeschlagenen Flaschenhals an der Kehle und nachdem der lustig verkleidete Typ mit dem russischen Akzent und der Clownsmaske meine Kohle eingesteckt und mir zum Abschied in den Magen geschlagen hatte, verschwand er johlend in der feiernden Menge.
#Großstadtleben #youliveyoulearn
Darunter hab ich's verbucht.
Zwei Jahre drauf hab ich mich nochmal breitschlagen lassen. Mädel wollt hin, ich fand das Mädel toll und in solchen Situationen tut man(n) dann ja gern mal Dummes. Sie tanzte, hatte eine gute Zeit und zappelte und juchzte herum, ich wünschte mir derweil, die Welt stumm schalten zu können wie einen Fernseher, ertrug mein Schicksal aber (mit Hoffnung auf das, was da doch gern noch kommen sollte) ansonsten recht tapfer. Aber dann...
"Ach, das ist aber ganz toll, wie sie da auf ihre Freundin aufpassen!" säuselt es schwülstig von links. Eine ältere Dame um die 65.
"Danke. Ich pass nicht auf, ich guck nur so rum. Ist auch gar nicht meine Freundin, ich arbeite noch dran."
Keine Minute später spür ich den Griff einer knochigen Hand am Oberschenkel, sehr nah, ZU nah am Schritt und mir schwant Furchtbares. Und links neben mir sehe ich ein fast zahnloses Grinsen und eine an den eingefallenen Lippen herumspielende Zunge...
...geistesgegenwärtig bin ich der Klaue des zahnlosen Todes entkommen, habe mir meine Begleitung unter den Arm geklemmt und dann das Weite gesucht.
Außerhalb von Zombieland fetete sie weiter, als wenn nichts gewesen wär, heute lacht sie sich schief, wenn ich die Geschichte anspreche und boxt mir lachend gegen den Arm, wenn ich ihrer Meinung nach mal wieder übertreibe, wenn ich von der züngelnden Zahnlosen erzähle.
Sie macht es sich leicht. Fragte auch gestern wieder, ob ich nicht doch mitkommen wolle, vielleicht würd ich ja wen kennenlernen. Den sarkastischen Unterton und den aufkommenden Lachkrampf versucht sie gar nicht erst zu unterdrücken.
Aber irgendwann erwischen die Zombies vom Schlagermove auch sie.
Und dann lach ich! Und zwar als Letzter und am besten!
Schlager gehören verboten!
AntwortenLöschenM.
So oder ähnlich kann man's gut zusammen fassen, ja ;)
LöschenUnd was ich immer schon diffus geahnt habe, wird jetzt zur tödlichen Gewißheit:
AntwortenLöschenWenn mich wie alle Jahre wieder in meiner Pauli-Stammpinte jemand anhaut, ob ich das nächste Mal nicht zum Schlagermove nach Hamburg kommen will, wird mein obligatorisches "Oh nein, nur das nicht" vollends frei vom letzten Restzweifel (.."ich hasse Schlager, aber vielleicht ist so was in Hamburg ja lustig..")im Brustton tiefster Überzeugung erschallen:-))
Eine sehr gute Entscheidung und Erkenntnis!
LöschenGut, es ist natürlich alles Geschmackssache und ich schließe nicht aus, daß Menschen auf dem Schlagermove tatsächlich Spaß haben (Kumpel F. ist jedes Jahr mit dabei samt "lustiger" Perücke und besserer Hälfte, er fragt mich nie, ob ich mitkommen will, da er mich kennt. Ich hör dann hinterher seine Geschichten und die lassen mich sicher sein, daß ich wieder alles richtig gemacht habe.)
Aber so toll und lustig und geil, wie sie von manchen Leuten beschrieben wird, ist das Ding garantiert nicht.
Ein auf Pauli lebender Freund hat das ganze am frühen Nachmittag auf Facebook so kommentiert: "Schlagermove läuft seit zwei Stunden. Hab schon den ersten Haufen vor der Haustür. Kein Scherz. Aber spätestens in einer weiteren Stunde haben die Pisse-und Kotzewellen den wohl weggespült!" Du willst dir nicht vorstellen, wie es abends/nachts um die Strecke herum aussieht, die die "friedlich feiernden Schlagerfans und Partymenschen" (Zitat MoPo am Tag danach) genommen haben. Ich hab's mehrmals gesehen, glaub mir, du willst es nicht!
Die in deiner Stammpinte auf Pauli scheinen entweder nicht auf Pauli zu wohnen oder aber sie haben einen gen Unendlichkeit tendierendes Gleichgültigkeitsgefühl und ihnen ist der Zuschiß ihres Viertels egal. Das wär traurig.
Aber geh einfach nicht hin. Das ist mein Rat. Geh stattdessen klettern im Florapark oder golfen in Lehmsal-Mellingstedt oben im Stadtnorden, aber meide den Schlagermove. Das ist eine gute Idee!