Montag, 22. April 2013

Werder, Wahnsinn, Hippies, Urknall.

Samstag Nachmittag, 15.33 Uhr und das Handy hat noch kein Gegentor für den Herzensverein vermeldet. Nach kurzer Verwunderung und Recherche habe ich den Grund dafür gefunden. Spätspiel, Anstoß erst in drei Stunden.

Beruhigt lehnte ich mich in dem Sessel zurück und musste lachen. "Jetzt wirste schon paranoid, nur weil die Jungs in den letzten Spielen immer in den ersten Minuten einen kassiert haben! Alter, das ist auch nicht normal!"

Aus mir bis heute unerfindlichen Gründen entschied ich, mir das Spiel live in einer Bar anzusehen, eine Entscheidung, die ich noch bitter bereuen sollte. Und das lag nicht nur am grauenhaften Fußballspiel, über das ich ab jetzt so gut wie kein Wort mehr verlieren möchte.

(Es war übel, peinlich, beschämend, die schlimmste "Leistung", das darf man eigentlich gar nicht so nennen, die ich seit langen Jahren von meiner Truppe gesehen habe. Mein Trikot liegt immer noch in der Ecke, in die ich es beim Heimkommen fluchend gefeuert habe und da wird es wohl noch bleiben. Fußball kann mich grad mal kreuzweise.)

Ein Bar-/Kneipenbesuch sollte es also sein. Problem dabei: Mein Stammladen, in dem ich das letzte Jahrzehnt mitgefiebert habe, wurde 2012 dicht gemacht und beherbergt nun ein "TexMex-Restaurant", das Bekannten zufolge gar nicht mal sooo gut sein soll.

Google spuckte diverse Ergebnisse aus und auf dieser obskuren Bewertungsplattform, die sich auf "Weib" reimt, eruierte ich noch ein wenig herum und traf dann meine Entscheidung: Ab ins "Osterdeich" in Eimsbüttel, da stand zwar was von "Café" und "der Kuchen ist hier sehr gut", aber eben auch "beim Fußball ist hier ordentlich Stimmung" und "Grün/Weiß wird hier bevorzugt". Ein Laden in HH, der "Osterdeich" heißt, also so wie die Straße, an der das weltschönste Fußballstadion der Republik liegt, toll!

Das klang gut! Da wollte ich hin!

Dann war ich da.

Es klingt jetzt immer noch gut, ich will aber auf allerkeinsten Fall nochmal dort hin!

Samstag, früher Abend. Kurz nach 18 Uhr. Ich lief die Osterstrasse entlang, trank vom guten Becks, freute mich aufs Spiel und versuchte, dem herumhipsternden Pack so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Davon gibts in Eimsbüttel noch mehr als in der Schanze, das ist Prenzlauer Berg reloaded, da ich aber gute Laune hatte, ging mir das dort vorbei, wo die Sonne nicht hin scheint.

Angekommen. Bier austrinken, drinnen sah ich viele Menschen, viele Flatscreens, eine Leinwand und einige wenige Trikots in den korrekten Farben. Noch kurz pflichtbewusst auf nem sozialen Netzwerk meiner Wahl den momentanen Aufenthaltsort gepostet, das Becks geleert...da gibt's online die erste Reaktion.

"Bitte wo bist du? Vegan/vegetarisches Restaurant? Bist du krank?????"

Schuppen. Fallen. Von den Augen.

Deswegen trinken die hier kurz vor Anpfiff kein Bier sondern Tee. Oder Chai Latte. Oder selbstgepressten Orangensaft und die Orange hatte vermutlich einen Namen. Ach du Schei...

Eine Info, die weder Google noch die ominöse Bewertungsplattform parat hatte. Zumindest hab ich davon nichts gelesen, sonst wär ich nicht hier. Und jetzt?

Das Spiel geht gleich los, ich kann nicht mehr flüchten, ohne einen Teil des Spiels zu verpassen. Ach du Schei...

Es ist skurril. Absolut skurril! Ich stehe in einem Café mit Couches und kleinen Holzstühlchen mit lustigen Sitzkissen drauf und Kuchen hinter der Glasscheibe des Verkaufsthresen, es ist rappelvoll und was die TVs und die Leinwand angeht, muss sich das Ding hier hinter keiner Sportkneipe verstecken, das ist erste Kajüte!

Ich ergatterte sogar noch einen Sitzplatz auf einer sehr gemütlichen Ledercouch (Ledercouch in nem Veganer-Café...finde den Fehler) direkt vor einem Flatscreen. Neben mir saß ein kuschelndes Pärchen, sie knabberte am Hirsekeks, der bis kurz vorm Verkauf noch von der Ökohippietrulla im Batikhemdchen hinter der Verkaufstheke gestreichelt worden war, er diskutierte derweil mit nem anderen Spinner über Bio-Eier - das tun die beiden bis weit in die erste Halbzeit hinein. Ich wette, keiner von beiden hat (Bio-)Eier.

Während des Spiels ist außer der Eier-Diskussion und ab und zu dem Milchaufschäumer nicht viel zu hören, denn Fußball schaut man hier fast ohne Ton. Es sei denn, man erwischt einen Platz an der Leinwand, dann kann mit Glück den Kommentator hören. Wenn nicht grad wieder irgendwer ne neue Chai Latte will. Dann hört man eine Minute lang nur mechanisches Rattern.

Als ich mich kurz lautstark aufrege, als mein Verein das 0-2 kassiert, werde ich aus verschiedenen Richtungen angezischt...psssscccchhhht!!!...am lautesten vom jutebebeutelten Deppen Anfang 20 auf der Couch gegenüber, ich hab seine undercut-tragende Freundin beim Lesen der "Neon" gestört. Das mag er nicht. Und deswegen macht er jetzt auf Held.

Ich lass ihm den Triumph. Bitte ihn nicht zur Klärung vor die Tür. Suche stattdessen verzweifelt nach einer Alternative für Halbzeit zwei. Werde fündig. Keine 300 Meter weiter. Hätte ich früher wissen müssen. Verdammt...

Der Halbzeitpfiff ist noch nicht verhallt, da bin ich bereits raus aus dem Elend, raus aus veganem Wahnsinn, vegetarischer Verwirrtheit und elendem Hipster-Hippie-"Oh, that band is SO in nowadays!...You don't know it? You're not cool!."-Spinnertum. Fuck you!

Sechs Minuten später betrete ich das "Urknall" und ungefähr zwei Sekunden nach Eintritt fühl ich mich wohl. Angenehmes Klientel hier, leicht runtergerocktes Interieur, Astra vom Faß für sehr fairen Kurs, eine hübsche Barfrau (sie kommt natürlich nicht an die Allerhübscheste in der "Wilden 13" in B-Friedrichshain heran...) eine Menge Platz vor nem Flatscreen , zwar im Raucherbereich, das ist aber völlig ok - denn da sitzen heut keine Raucher.

Dafür aber direkt einige coole Menschen, die mich an ihren Tisch "bitten" ("Alter, laber nich, setz dich hin!") mit mir anstoßen, mit mir leiden und sich Gedanken machen (nach dem 0-3 bekam ich von jedem der drei einen Obstler (!) ausgegeben. Fatal.)

Mit Blick auf mein Trikot und auf meinen Gesichtsausdruck bekam ich noch einen Wodka "aufs Haus" als ich zahlen wollte. Die Suche nach einen neuen Stammkneipe für Fußballspiele dürfte beendet sein. Endlich!

45 Minuten später war ich zuhause, saß in Gemütlichkeitsklamotten vorm TV und entspannte.

Dann klingelte das Handy. Kumpel F. "Lass treffen Alder!! Frau ist bei den Eltern, ich hab sturmfrei und ordentlich beim Wetten gewonnen! In einer Stunde S Sternschanze, stell dich nicht an! Nach DEM Spiel haste dir Abschalten verdient! Die ersten Drinks gehn auf mich!"

Über die folgende Nacht dann nächstes Mal mehr.

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