Sonntag, 16. Dezember 2012

Mitfahrgelegenheitsgeschichten (Folge 2)

 Ich bin ein armer Mensch, deswegen nutze ich Mitfahrgelegenheiten. Das tue ich seit mehr als zehn Jahren und mit der Zeit erlebt man so einiges...

Thorge Fährlich erzählt: Mitfahrgelegenheitsgeschichten!

Folge 2 "Traveling with the doctors to be"

Frühherbst. Blauer Himmel, weiße Schäfchenwolken, angenehme Temperatur, ich stehe am Taxistand des Hamburger Hauptbahnhofs und warte. Voller Vorfreude. Denn gleich geht es nach Berlin, in meine Lieblingsstadt. Wo ist denn dieser dunkle VW Kombi, der mich abholen soll? Naja, fünf Minuten hat er noch...

"Hi, willst du auch nach Berlin?" fragt die sehr zierliche Brünette mit dem grinsenden Dreadlockträger im Schlepptau, sein Unterlippenpiercingring blitzt in der Sonne. Sie selber schleppt einen Weltreisender-Rucksack auf dem Rücken, der garantiert mehr wiegt, als sie selber, da wette ich drauf! "Ja, ich will auch nach Berlin!" sage ich, freue mich über anscheinend nette Mitfahrer und dann reden wir eine Viertelstunde über dies und das, ich war mir sicher, die beiden sind ein Paar, sind sie aber nicht, sind sich nur zufällig über den Weg gelaufen vor 20 Minuten, sie redet und redet und redet, er steht dahinter und grinst. Und grinst. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er high ist, dazu spricht er, wenn er denn mal spricht, aber doch noch zu gekonnt, zu gewollt, zu klar, zusammenhängende Sätze, der ist nicht high, der ist maximal naturbreit. Das kann eine lustige Reise werden! (aus dem Off ertönt launige Musik,  irgendwas mit "fun" und "party" im Text. Pink oder so. Schlechte, auf gute Laune getrimmte Chartskacke halt, wie auf RTL2 bei "Berlin: Tag und Nacht" in solchen Momenten immer eingespielt wird.)

13 Minuten nach der vereinbarten Uhrzeit rollt der dunkle Kombi heran, ein sympathisch aussehender Mensch um die 45 steigt aus, begrüßt uns alle per Handschlag, Thomas heißt er, unsere Gepäckstücke verschwinden im mit weißem Kunstleder ausgelegten Kofferraum des Wagens.

Aus dem Nichts rauscht Fahrgast Nummer vier heran. Und passt so gar nicht ins Gesamtbild. Hier hängende Hosen, Lippenringe, bei der zierlichen Brünetten sah ich ein recht großflächiges Tattoo am Arm, als sie ihre Jacke auszog, Dreadlocks. Herangerauscht kommen Stilettos mit 10-cm-Absatz, Kunstpelzmantel, schlecht blondierte Mähne, die in einem noch schlechter geflochtenen Zopf endet, Make Up für drei, Glitzer-Handtäschchen von der Größe eines alten Handys, es fehlt nur noch der in die Tasche passende "Hund". Paris Hilton für GANZ arme...die Katzenberger in NOCH blöder... Naddel in blond quasi. Wahnsinn. Begrüßung? Braucht sie nicht. Sich vorstellen? Ach was... Entschuldigen, das sie zu spät ist? Hallo, sie hat Silikonmöpse, das entschuldigt alles!

"Können wir denn jetzt?" fragt sie, als wenn sie hier auf uns gewartet hätte, vor ihrem verkackten Privatjet. Die Brünette verdreht die Augen, Thomas guckt entgeistert, der Dreadlockträger grinst nach wie vor und ich überlege schonmal, wie man das aufgetunte Pseudo-It-Girl mal so richtig schön veräppeln könnte auf der Fahrt.

Und ja, wir können los, la princessa ist dann ja nun auch endlich eingetroffen. Geistesgegenwärtig erobere ich den Beifahrersitz, die Vorstellung, neben der Silikontusse sitzen zu müssen hat mich beflügelt. Normalerweise seh ich meist zu, daß ich den Platz hinterm Fahrer ergattere und verschlafe die Fahrt dann einfach seelig, wie ein Baby, im Auto bin ich in kürzester Zeit eingeschlafen, ein Phänomen.

Der Dreadlockdauergrinser verpasst leider den Startschuss und darf die Reise mit seinen geschätzten 1,93 auf dem mittleren Platz der Rückbank antreten, was ihm das Grinsen augenblicklich aus dem Gesicht wischt. Nun schaut er betroffen mit Angela Merkel-gleich herunter gezogenen Mundwinkeln. Fast hab ich Mitleid. Aber nur fast.

Die Fahrt verläuft ruhig, der übliche Smalltalk, was will man in Berlin machen, fährt man öfter hin, dies, das, blablabla. Als wir uns endlich durch den dichten Hamburger Verkehr über den Horner Kreisel auf die Autobahn gen Weltstadt durchgetankt haben und in einer angenehmen Reisegeschwindigkeit dahin gleiten, stellt Fahrer Thomas die nächste Smalltalk-Frage. Und die verändert alles.

"Und, was macht ihr so?" Die Brünette: "Ich studiere Medizin!". Der nicht mehr grinsende Nils: "Ich studiere auch Medizin!". Die aufgepumpte Tussi (in eher angeekeltem Tonfall): "Ja, das tue ICH auch. Püüh." Bevor ich antworten kann, entfährt Thomas ein hocherfreutes "Nein, wirklich?? Ich BIN Mediziner...wir sind ja alle vom Fach hier!!" Ich schlucke meine Antwort herunter und ahne Furchtbares. (Aus dem Off ertönt die Musik, die die Duschszene in "Psycho" untermalt.)

"Einschlafen, sofort einschlafen!!" funkt mein Hirn panisch an sämtliche Körperfunktionen und die funken zurück "Geht nicht, Beifahrersitz!!" "Fuck!!" brüllt das Hirn, "jetzt sitzen wir verdammt tief in der Scheiße, Leute!" Denn auf dem Beifahrersitz kann ich eben NICHT schlafen, denn da fühl ich mich verpflichtet, den Fahrer zu entertainen. Ich kann vermutlich seelenruhig knacken, wenn man mich aufs Autodach schnallt, auf dem Beifahrersitz? Keine Chance.

Das hier wird eine ganz ganz schlimme Reise werden, ich weiß, was passiert, wenn Mediziner unter sich sind, hatte mal zwei von denen auf einer anderen Fahrt - aber jetzt bin ich hier alleine mit VIER Exemplaren!! Hätte ich doch bloß den Rückbankplatz neben der Silikontrulla genommen, dann würd ich nun bereits schlummern. Mit dem Kopf auf 80 DD. Das ist auch eine gruselige Vorstellung, aber besser als das, was mir bevorsteht.

"...meine erste Sektion, das war lustig! Ich hab kaum das Skalpell angesetzt, da spritzt das Blut schon raus, direkt in mein Gesicht! Ich hatte ja den Mundschutz, meine Kommilitonin hat voll gelacht und ein Foto gemacht! Das hatte ich dann bei Facebook als Profilbild, alle haben gedacht, das wäre Ketchup!" erzählt die Brünette. Alle lachen, nicken zustimmend, ja, sowas passiert eben, mein Gott. Fremdblut im Gesicht, Kleinigkeit.

"...im Praktikum bekamen wir eine alte Dame rein mit Bauchweh. Als ich sie abgehört habe, hat sie sich übergeben, hat mir voll auf den Kittel gekotzt! Das lief so an mir runter, da waren noch komplette Erbsen und Maiskörner dabei!" erzählt Nils, jetzt grinst er auch wieder. Alle lachen, ja, ach, alte Leute eben, das passiert halt, und überhaupt, was ist so schlimm an Kotze, Babies kotzen auch oft und das ist total niedlich!

(Wenn Sohnemann damals gekotzt hat, dann war das NIE niedlich. NIE! Außerdem rumorts mir im Magen auch schon gewaltig, bei den Themen kein Wunder, wenn ich hier gleich auf die Mittelkonsole reihere, ist das dann auch niedlich?!?)

Thomas meldet sich vom Fahrersitz zu Wort. "Ich mach ja auch Autopsien!" Ich wünsche mir möglichst schnell taub zu werden, ich WILL das nicht hören! Bitte bitte nicht!! "Letztes Jahr haben wir einen reinbekommen, der lag schon etwas länger..." Ich werde blasser, als es eigentlich geht. Ich bin froh, daß ich nicht wie eigentlich geplant noch bei BK essen war... "Naja, der war schon aufgebläht, auch total verfärbt. Da ging gar kein Y-Schnitt mehr, der wär geplatzt, den mussten wir anstechen, damit erstmal die Gase raus kommen!" Gelächter. Alle finden das lustig, mir stehts bis zum Zäpfchen. Irgendwo in Brandenburg werde ich gleich in den Fußraum eines dunklen VW Passat ko...

"So, ich fahr mal hier auf den Rasthof!" sagt Thomas. Frischluft! Frischluft ist, was ich jetzt brauche! Und einen Kurzen, um den Magen wieder klar zu kriegen. Ich kaufe an einer brandenburgischen Autobahnraststelle für einen unverschämten Preis eine Mini-Pulle schlechten Wodka und hau sie mir beschämt neben einer Mülltonne kauernd hinein. Ein grauenhafter Geschmack, aber besser als Magensäure.

45 Minuten später sind wir fast in Berlin angekommen, da meldet sich Miss Silikon zu Wort. "Im letzten Jahr ist bei uns mal einer vom Tisch auf den Boden gefallen. So eine Scheiße, ich hatte den ganzen Scheiß an meinen Stiefeln!!" Auf meinen Hinweis, das "der ganze Scheiß" mal ein Mensch war, bekomm ich "Eyh, die waren teuer, die Stiefel!"

Ich war selten so froh, daß eine Reise vorbei ist. Vier schwarze Schafe auf einem Haufen, denn ich gehe nicht davon aus, daß der durchschnittliche Medizinstudent so abgefuckt ist. Ich hoffe es zumindest inständig.

Die Stories muss ich mir nochmal erfolgreich wegtrinken. Das will ich nicht ewig im Kopf haben.

Die Tage in Berlin waren dann grandios. Wie immer eben. Haben die Bilder aber nicht ausgelöscht. Da werden noch einige hochprozentige Getränke die Kehle hinunterfliessen müssen, damit ich über das Trauma weg komme...

7 Kommentare:

  1. Haha geile Geschichte. Sei mal bei einer Autopsie dabei. Die Assistenten, die die Organe wiegen und danach die Leiche zutackern, sind noch krasser unterwegs. Denke, man braucht den Galgenhumor, um so etwas zu machen.

    Eine Bekannte ist Rettungssani. Die öffnet mal eben den Motorradhelm eines (ehemaligen) Rasers und dann hängt da oben die abgeknackste Schädeldecke dran. Und dann machen die Witze drüber. Geht nicht anders. Kompensation denke ich mal. Sonst geht man drauf.

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  2. Zu Forschungszweckem gab es bei uns Zuhause manchmal eine Schüssel voller Ochsenaugen im Kühlschrank. Die Lieblingsthemen bei Tisch waren abgesägte Beine, Krebs und abgekochte Schädel.
    Ärzte eben. Ich hab mich trotzdem nie daran gewöhnen können...


    (www.kreuzbergsuedost.wordpress.com)

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    1. Himmel, aus dem Kühlschrank hätte ich nichts mehr angerührt! Was die Tischgespräche angeht, da kann ich einiges ab. Aber bei Dingen, die neben meinen Lebensmitteln stehen oder liegen, bin ich (nennen wir es mit viel Wohlwollen "ein klein wenig") empfindlich...

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  3. So so, Du weißt also, was bei BTN in "solchen Momenten" immer eingespielt wird...
    Ich bin zutiefst erschüttert;-)

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    1. Das ist wirklich erschreckend, oder? Ich habe aber eine Erklärung...Entschuldung...Rechtfertigung...bla.

      http://thorgefaehrlich.blogspot.de/2013/01/ich-hab-ein-hirn-holt-mich-hier-raus.html?m=1

      :)

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  4. so geil....ja, MFG können einem schon was vom Leben erzählen :D
    Bin 2 Jahre regelmäßig mit gefahren und es war immer spannend!

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    1. Jepp, Mitfahrgelegenheiten sind schon eine meist echt gute Sache! Ich nutze sie seit 2001 und könnt inzwischen vermutlich ein Buch drüber schreiben, da kommt noch mehr. Vermutlich hab ich eh noch zig Stories vergessen (oder erfolgreich verdrängt) :)

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