Samstag, 29. Dezember 2012

Mitfahrgelegenheitsgeschichten (Folge 3)

Ich bin ein armer Mensch, deswegen nutze ich Mitfahrgelegenheiten. Das tue ich seit mehr als zehn Jahren und mit der Zeit erlebt man so einiges...

Thorge Fährlich erzählt: Mitfahrgelegenheitsgeschichten!

Folge 3 "Traveling home for Christmas"

Als ich am 22.12., also einen Tag nach Weltuntergang, vormittags die Vorhänge zur Seite zog, um etwas Licht in meine Wohnung zu lassen, traf mich fast der Schlag. Schnee! Viel Schnee! Ok, das ist jetzt im Dezember nicht sooo ungewöhnlich, erwischte mich aber zum einen auf dem falschen Fuß, denn mein schlaues Smartphone und RTL hatten für diesen Tag in Hamburg vier Grad plus vorhergesagt und zumindest meinem Handy glaube ich - RTL weniger. Zum anderen hatte ich ein Deja Vu, keins der guten Sorte. Tags darauf, am 23.12. sollte es heimgehen, über die Feiertage zu den Eltern ins heimische Nichts, natürlich wieder mit der Mitfahrgelegenheit, ich war auf eine entspannte Fahrt eingestellt, denn mein Telefon und das Fernsehen versprachen ja ansprechende Reisetemperaturen.

Und jetzt schaute ich aus dem dritten Stock auf eine geschlossene Schneedecke. Und musste unweigerlich zwei Jahre zurück denken...

(...jetzt bitte vorstellen, wie das Bild verschwimmt, so wie, wenn in schlechten deutsch/luxemburgischen Filmproduktionen Szenen aus der Vergangenheit wieder in Erinnerung gerufen werden. Dazu ein schlimmer Jingle, der im Hinterkopf noch lange nachhallt...
...das Bild klart wieder auf.)

22.12.2010, ich stehe am gleichen Fenster, schaue runter auf den Schnee und murmele vor mich hin "Oha, na, hoffentlich klappt das morgen auf der Autobahn alles!" Dann denk ich kurz nach, lache und murmele "Ja ach, so'n bisschen Schnee, was soll da passieren??"
...
Das Bild verflirrt wieder... Jingle...
...
Das Bild klart wieder auf.
...
23.12.2010. Autobahn 1 am Bremer Kreuz, es ist etwa 14 Uhr und seit etwa einer Stunde geht nichts mehr. Nicht vor, nicht zurück, Stillstand. Dabei sind die Straßen frei. Aber trotzdem ist Stau, warum, das weiß keiner so genau. Macht aber nichts, denn die drei Mitfahrer sind prima, ne gute Truppe, da übersteht man auch mal 60 Minuten Stillstand.

15.30 Uhr: Wir stehen immer noch. An Ort und Stelle. Inzwischen wissen wir auch, warum. NDR2 hat uns aufgeklärt. "Schwerer LKW-Unfall am Bremer Kreuz, die A1 ist dicht, Räumungsarbeiten sind im Gange! Der Verkehr stockt auf rund zehn Kilometern." Von dem Unfall sind wir wohl nicht so weit weg, wir sind ganz weit vorne im Stau. Das ist gut. Hinten im Stau ist immer schlechter. Naturgesetz. Wir sind guter Dinge. Wir haben Radio, wir haben Essbares, wir haben genug Getränke, wir haben genug Gesprächsstoff und auch genug Beinfreiheit.

16.00 Uhr: Es wird allmählich dunkel. Und die Mädels müssen allmählich mal. Sie jammern. "Hinter die Leitplanke, bist du bescheuert?? Da gucken doch alle!!" wird der Vorschlag des Beifahrers empört abgewehrt. Naja, dann eben nicht.

16.30 Uhr: Es klopft an der Beifahrertür. Der Fahrer des Wagens hinter uns. Guck an, auch Emsländer, was fürn Zufall! Ob wir ein Tempo für ihn haben oder vielleicht sogar zwei? Denn seine Nase läuft und er hat nichts mehr. "Haha, ja, Tempo, das hätten wir grad alle gern!" ruft die Fahrerin und merkt dann recht schnell, wie flach der Spruch war. Es ist ihr sichtlich peinlich. NDR2 sagt "Schwerer LKW-Unfall, Räumungsarbeiten sind im Gange! Verkehr steht auf 17 Kilometern!"

17.10 Uhr: Inzwischen ist es duster und die Mädels haben Einsicht mit ihren Blasen und den Ratschlägen männlicherseits. Etwa 150 Meter entfernt ist eine Brücke, da isses dunkel, da guckt keiner, dorthin verziehen sie sich nun zum fröhlichen Gruppenpieschen. Weiber...selbst in so einer Situation nur zu zweit aufs Klo. Klischees sind schon was Tolles! Bevor sie gehen, kommt natürlich auf der unausweichliche Spruch "Fahrt bloß nicht ohne uns weiter!"...haha. Knaller!

17.30 Uhr: Nachdem wir jetzt seit etwa 3,5 Stunden an ein und demselben Platz stehen und die ältere Dame aus dem weinroten Peugeot links hinter uns alle 20 Minuten mit einem anderen Hund an der Leine an unserer Fahrerseite vorbei gelaufen ist, entscheiden wir, die Rücksitz-Crew, uns dazu, uns mal nützlich zu machen und den Hunde-Sitter zu spielen. Die alte Dame hat sich sehr gefreut und "Lady", die Yorkshire-Terrier-Tussi mit rosa Halsband, die ich dann auf der Überholspur der A1 Gassi geführt habe, war auch recht angetan von mir. Und hat vor Freude einen riesigen Haufen neben das Hinterrad eines Porsche Panamera gesetzt, der dampfte vielleicht! NDR2 sagt "Die A1 am Bremer Kreuz ist immer noch dicht! In Richtung Süden staut es sich über 26 Kilometer! Bitte weiträumig umfahren!!"

18.30 Uhr: Es wird nicht besser. Die Temperaturen sind wieder deutlich unter Null und nun fängt es an zu schneien. Dem Beifahrer fällt ein, das er selbstgebackene Plätzchen dabei hat. Das hebt die Stimmung. Er hat verdammt viele selbstgebackene Plätzchen dabei und alle drei anderen haben auch Weihnachtszeug am Start. Noch dazu zaubert die Fahrerin Weihnachtsmannmützen aus ihrer Tasche, "die blinken sogar!!" sagt sie nicht ohne Stolz. Und da wir uns tödlich langweilen, kommt uns eine Idee...Mützen, blinkend, auf, Süßzeug eingepackt...ab jetzt ist erstmal Bescherung! Es ist ja wirklich der Wahnsinn, wie sich Menschen in so einer Situation über so eine Kleinigkeit freuen! Und die Kids erst! Ich mag weder Menschen noch Kids, aber das war schon ne gute Geschichte. Einmal guter Samariter sein: Check!
NDR2: "A1 Bremer Kreuz Richtung Süden 37 Kilometer, Richtung Norden 31 Kilometer Stillstand." Das mit dem weiträumig umfahren hat wohl nicht so geklappt...

19.15 Uhr: Wieder der Kollege aus dem Wagen hinter uns. Ob wir mit trinken wollen fragt er. Er würd sich jetzt einen Wodka reinhauen, seine Heizung ist kaputt, er braucht jetzt was zum Aufwärmen. Die Scheibenwischer sind an der Frontscheibe festgefroren, das aber wohl schon seit langer Zeit, er ist frühmorgens in Dänemark gestartet und dort in nem Schneesturm gelandet, er ist seit bald zwölf Stunden ohne Wischer unterwegs und ist mit den Nerven runter, da hilft jetzt nur noch Wodka sagt er. Und das bei Schneefall und ab jetzt im Dunkeln. Hallelujah. Aber ICH muss ja nicht fahren. Und meine Rückbankmitfahrerin, die ich inzwischen fast so gut kenne wie meine besten Freunde, auch nicht. Also wechseln wir für eine Viertelstunde das KFZ und es gibt ein paar Runden Wodka. Ich glaub, es waren vier, der Fahrer hatte nur zwei, bei mehr wäre ich auch eingeschritten, statt Wodka bekam er noch mehr Weihnachtskekse. Innerlich aufgewärmt dann zurück ins Mutterschiff, einen grauen Opel Corsa. Wir beschließen, uns auf der Rückbank, inzwischen gemütlich eingemummelt, einen Film, den einen einzigen Film auf Rücksitzbankmitfahrerins Laptop anzusehen, "Hangover", ich tue total begeistert, bin aber das Gegenteil, der Film ist schlecht...aber was solls. Was soll denn hier noch übler werden?

19.25 Uhr: Was hier noch übler werden soll? Die Rücksitzbankmitfahrerin ist eingeschlafen, sabbert mir auf die Schulter und hält zu allem Überfluß im Schlaf auch noch den Laptop so schief, daß ich kein Bild mehr sehen kann...soviel zum Thema Frauen und Multitasking.

19.55 Uhr: Es klingt bescheuert, aber es geht tatsächlich vorwärts. Erst langsam, dann schneller, wir rollen am Unfallort vorbei, der Brückenpfeiler ist arg mitgenommen, wie erst der LKW, geschweige denn der Fahrer aussehen, mag ich mir nicht so wirklich vorstellen. Nachdem der Unfallort passiert ist, ist erstaunlicherweise auch die Autobahn bereits geräumt und der Schneefall hat ausgesetzt und so rollern wir dem Ziel entgegen, nie die 120 km/h überschreitend, meist auf der rechten Spur zwischen LKWs eingekeilt, es ist eine tragische Vorstellung.

21.05 Uhr: Wir verlassen die Autobahn. Wir sind noch keine 200 Meter auf der Bundesstrasse gefahren, da landen wir fast zum ersten Mal im Straßengraben. Die Fahrerin kommentiert das mit einem gekicherten "Huch, was war das denn??" Kurz darauf passiert es noch ein Mal und jetzt hab ich Angst, denn der Schneefall setzt wieder ein, geräumt ist hier gar nichts mehr und ans Steuer dieses Kleinwagens könnt ich auch mein Haustier setzen, das hätte in etwa die gleiche Kontrolle darüber...

21.45 Uhr: Das Auto ist komplett zugefroren. Die Frontscheibe ist dicht, die Spritzwasserdüsen eh. Wir stehen mitten im Nichts auf irgendeiner Bundesstraße im Schneesturm. Ich beginne, mein Testament ins Handy zu tippen, die Rücksitznachbarin sabbert weiterhin alles voll. Ratlosigkeit. Als dann aus dem Radio noch "Last christmas" ertönt, möchte ich mich erhängen und der Beifahrer stürmt aus dem Wagen...schüttet zwei Flaschen gelbe Flüssigkeit (von der er behauptet, es sei Apfelschorle - ich zweifele daran!) über die Frontscheibe...und siehe da, das funktioniert. Es ist alles andere als perfekt, aber man sieht die Straße wieder. Ohne weiter nachzufragen, nehmen wir das hin.

23.05 Uhr: Auf dem Parkplatz eines Mehrfamilienhauses in Meppen/Esterfeld endet die Fahrt. Meine Rückbankmitfahrerin haben wir schon vorher abgesetzt, sie verabschiedete sich mit nem Bussi auf die Wange und nem "Was hätt ich hier bloß ohne dich gemacht?" Na, vermutlich den Sitz vollgesabbert....was sonst?

23.07 Uhr: Die Familienkarre rollt auf den Parkplatz, sammelt mich auf und fährt mich "heim".

23.25 Uhr: "Home, sweet home"! Mutti heult wie jedes Jahr, der "Hund" dreht durch wie jedes Jahr, ja, gern nehm ich n Glas Wein Mutter, ach, das ist schon vorbereitet, ach, seit Stunden schon, tja, nicht meine Schuld, ich bin ja erst etwa zwölf Stunden unterwegs und war pünktlich, der LKW-Fahrer ist schuld, wenn der doch auch nicht fahren kann...aber jetzt bin ich ja hier und ihr habt mich wieder, juhuu!
...
...das Bild verflirrt. Jingle.
...
...das Bild klart wieder auf.
...
Sonntag, 23.12.2012, 14.00 Uhr: Ich steige in einen Kombi, ergattere meinen Lieblingsplatz und bin eingeschlafen, bevor wir auf der Autobahn gen "Heimat" sind. Kein Schneesturm diesmal, kein schlimmer Unfall zum Glück, kein stundenlanges Warten und auch keine hübschen Mitfahrerinnen. Just service. So wie's sein soll.

In ein paar Stunden gehts per MFG nach Berlin. Mal sehen, was mich da erwartet! Ich bin gespannt...

1 Kommentar:

  1. Kluscheiß-Modus: Testament ins Handy tippern bringt nix. Muss handschriftlich sein.

    Alter, früh auf am Morgen. Gute Fahrt!

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