Freitag, 27. Juni 2014

Under the bridge

Samstag Nacht im Schanzenviertel.

Kurz vor ein Uhr.

Die Nachbeben des Deutschland-Spiels sind abgeebbt, das mehr oder weniger feiernde Volk ist auf dem Weg gen Reeperbahn oder hat sich auf die verschiedenen Bars rings herum verteilt. Es ist still geworden. So still, wie es in einer solchen samstäglichen Nacht eben werden kann in diesem Teil der Stadt.

Unter der S-Bahn-Brücke baut beleuchtet von blauen Neonröhrenlichtern einer ein Mikro und einen Verstärker auf. Ein junger Typ, Mitte zwanzig maximal, dunkler Wuschelkopf, blaue Trainingsjacke, abgewetzte Jeans.

Ich lehne an einem der Brückenpfeiler, leere das vermeintlich letzte Bier und beobachte das.

Ich mag Straßenmusiker, leider sind sie selten gut. Vereinzelt entdecke ich mal einen, dem ich gerne länger zuhöre. Meist reichen ein oder zwei Lieder und ich habe genug gehört, werfe ein bisschen Kleingeld in den Hut und gehe meines Weges.

Eigentlich kann ich mich an nur eine einzige Musikerin in den letzten Jahren erinnern, bei der ich lange gestanden und ihr zugehört habe. Das war in Berlin vor dem Eingang der Schönhauser Allee Arcaden, einem Ort also, an dem sonst nie irgendetwas Gutes passiert und an dem man im Normalfall von allen Seiten nur genervt wird. Spende für dies, gib Geld für jenes, unterschreib hier, Ihren Namen bitte dort...

Ich möchte dann immer so etwas wie "Keine Sorge, ich spende, wenn ich kann. Und das gern. Aber nicht nach einem verbalen Terrorangriff auf meinen Nervenapparat wie diesen grad!" antworten, tue das aber doch nie, sondern drehe mich einfach um und ignoriere.

Ein Mal stand mitten auf dem Platz vor den Arcaden ein Mädchen mit ihrer Gitarre und spielte und sang. "Knockin`on heavens door", "Wonderwall", all das Zeug, das jede/-r Straßenmusiker/-in im Repertoire hat. Haben muss. Nichts weltbewegendes. Dann packte sie "Angel" von Sarah McLachlan aus und ich war überrascht.

Ja, ich weiß, "Stadt der Engel" ist ein absoluter Frauenfilm und das Lied so gewollt tragisch, dass es fast weh tut - ich mag trotzdessen (und trotz Nicholas Cage) sowohl den Film als auch das Lied, letzteres sogar sehr. Warum das so ist? Das wüsste ich selbst gern.

Irgendwann spielte sie dann Radioheads "Creep", vermutlich eins der besten Lieder aller Zeiten, und nein, darüber ist eine Diskussion mit mir vollkommen unsinnig, von Anfang an zum Scheitern verurteilt und absolute Lebenszeitverschwendung. Eins der besten Lieder aller Zeiten. Punkt.

Sie spielte und sang "Creep" und sie spielte und sang das so gut, dass ich extrem beeindruckt war und beinahe lautstark applaudiert hätte, als sie den Song beendet hatte.

Ich habe sie dann zu einem Kaffee eingeladen und ihr eine ihrer Demo-CDs abgekauft und die höre ich heute noch gern.

Gute sechs Monate später hat sie es im TV beim unsäglichen DSDS versucht und wurde von ausgemachten Experten wie Bohlen und den beiden Lutschern von "Tokio Hotel" in Grund und Boden gedisst. Zu wenig Oberweite und zu viel im Kopf, so in etwa werden die Ausschlusskriterien gelautet haben.

Warum man mit so viel Talent ausgerechnet zu einem DSDS-Casting rennt, zu einer Show also, in der es zweifellos zu 90 Prozent um die Optik und nicht das Können geht, verstehe ich allerdings bis heute nicht.

Heute sitzt die Gute vermutlich wieder irgendwo in der Hauptstadt an einer Straßenecke, spielt auf ihrer Gitarre und singt. "Elen" ist ihr Künstlername, wenn ihr sie seht: Bleibt stehen und hört einen Moment zu. Das lohnt sich.

Während ich so in meinen Erinnerungen schwelge und mir denke, dass der Wuschelkopf unmöglich besser sein kann, hat der sein Equipment fertig aufgebaut, schaut etwas schüchtern in die Runde, räuspert sich und stellt sich leise vor.

"Hi, ich bin Basti und ich mag keine Spitznamen. Wie ist denn das Spiel ausgegangen?". Als ihm jemand das Endergebnis zuruft, schaut er verwirrt und zuckt mit den Schultern.

"Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, ich habe keine Ahnung von Fußball. Egal, ich fang mal an zu spielen."

Das tut er dann auch.

Robbie Williams, "Angels". Unkaputtbar, das Lied. Nicht originell, aber das er gut ist, merkt man schon nach wenigen Augenblicken.

Als nächstes Duran Duran - "Ordinary world". Das Lied mag ich und hab es auf der Straße noch nie gehört, er sammelt Pluspunkte.

Danach die Red Hot Chili Peppers mit "Under the bridge", die Band kann ich mal gar nicht leiden, das Lied ist ok. Pluspunkte. Dann irgendwas, das ich nicht kenne, es gefällt mir aber. Danach Oasis. "Wonderwall"? Neeh, "Don`t look back in anger". Auch nicht sonderlich kreativ, aber immerhin bringt er nicht den Gassenhauer schlechthin. Außerdem solide gespielt und gesungen. Der Junge kann was, er muss es nur allmählich mal zeigen.

Mein Bier ist so gut wie leer und ich rechne damit, dass er jetzt weiter das standardisierte Staßenmusiker-Ding durchzieht, für das es irgendwo in muffigen Kellerräumen des Bezirksamtes Altona ganz sicher einen Pappkarton voller Akten mit Regelungen und Playlists gibt - aber nein.

Tut er nicht.

Der Typ spielt die Nine Inch Nails! "We`re in this together", live und akustisch (dass das überhaupt geht!!) unter der S-Bahn-Brücke am Bahnhof Sternschanze. Das Lied, das definitiv auf meiner Hochzeit gespielt werden wird, sollte es mal so weit kommen... Beim Refrain singt er auch nicht mehr, er brüllt und rotzt den Text in sein Mikro und da ich die Nine Inch Nails bisher zu meiner Schande noch nie live gesehen habe, ist das die verdammt nochmal beste Live-Version, die ich von diesem Lied je gehört habe. Ich benutze das Wort selten und ungern, aber: Ist das geil!

Die Zahl der Zuhörenden hat sich inzwischen mindestens verdreifacht, es wird geklatscht, gejubelt, die drei zugedröhnten Punker um die 40, die einige Meter weiter etwas motivationslos auf einer Bongo herum trommelten, um Kleingeld für Gras zu erschnorren, haben das nun aufgegeben, stehen in vorderster Front und schlagen sich abwechselnd, während sie ein paar Zentimeter in die Höhe springen, die Ellenbogen in die Rippen. Bekiffter Pseudo-Pogo während eines akustischen Straßenkonzerts. Das ist auch neu.

Basti, der keine Spitznamen mag, gefällt das aber und er fragt die Punks nach einem Musikwunsch.

"Sex Pistols, Digger!"

Sex Pistols? Kein Problem! Kann er. Hat er drauf. Spielt er. Und wie! Ich bilde mir ein, Freudentränen in den Augen der in die Jahre gekommenen Revoluzzer zu sehen.

So geht das dann noch eine Weile weiter.

Metallica - "The unforgiven", NoFx - "Kill all the white men", Blink 182 - "All the small things", zwischendurch hat er mal einen Hänger, als er einem Mädchen mit tiefem Ausschnitt frech grinsend und auf eben diesen schielend ihren Wunsch nach Coldplay erfüllt. Ich weiß nicht, wie das Lied heißt und er verkackt es auch ziemlich, das ist aber vollkommen egal. "Noooobody saaaaid it was easy, it`s such a shame for us to paaaaart, lalala" und so weiter.

Eine Polizeistreife fährt langsam vorbei, wie in Zeitlupe, hat was von einem dokumentarischen Ghetto-Film à la "Do the right thing" von Spike Lee.

Wenn noch mehr Zuhörer stehenbleiben, dann ist der Gehweg bald komplett verstopft. Es herrscht Gedränge und die Cops haben da ein Auge drauf.

"Ich glaube, das wird hier bald offiziell beendet." sagt Basti, der keine Spitznamen mag, grinsend in sein Mikro und macht mit deutschen Songs weiter.

Tocotronic - "Gegen den Strich", Die Sterne - "Was hat dich bloß so ruiniert", ich feiere das, das war DER Song meiner Jugend und lief auf dem Ghettoblaster in der Schul-Cafeteria in den großen Pausen rauf und runter, bis irgendwann das Tape den Geist aufgab!

Als er dann Muff Potter`s "Wir sitzen so vorm Molotow" raus haut, möchte ich ihn am liebsten umarmen! Mein Gott, wie ich diese Band vermisse...

Zwei Lieder später rücken dann tatsächlich die Uniformierten an und "beenden die Aktion". Weil es zu laut ist, Anwohnerbeschwerde und so, blablabla. Das übliche Ding.

In eine Szene-Gegend ziehen, weil man es mit Anfang/Mitte zwanzig cool und super findet, mitten drin zu sein im Nachtleben, fünf, sechs, sieben, acht Jahre später, wenn man meint, "seriös" und "zu alt" für eben das geworden zu sein und schlimmstenfalls seine Spießer-Gene bereits weiter vererbt hat, ruft man wegen dem, was man damals so toll fand, die Staatsgewalt.

Ruhestörung. In der Schanze. Samstag nachts. Um irgendwas gegen halb zwei oder so.

Finde den Fehler.

Das ist so, als wenn irgendwelche Zugezogenen in Berlin-Kreuzberg der Lautstärke wegen gegen Clubs klagen und die deswegen geschlossen werden.

Oh, wait...

Basti, der keine Spitznamen mag, spielt noch schnell ein paar Takte vom "Folsom prison blues" und baut dann ab, die Cops beobachten genauestens. Der musizierende Schwerstverbrecher muss im Auge behalten werden.

Vom letzten Kleingeld habe ich am Bahnhofs-Kiosk noch zwei Bier geholt, eins drücke ich ihm in die Hand und wir stoßen an.

Ein kurzes Gespräch nur, er ist nicht aus Hamburg sondern wie ich aus der Provinz, er reist herum und macht Musik und er will weiter und anderswo spielen, Altona, Landungsbrücken, egal. Ich empfehle ihm den Park Fiction oberhalb der Hafenstraße und erkläre ihm den Weg dorthin. Findet er gut. Da will er spielen, sagt er. Und, dass er die Nacht durchmachen wird, denn am Vormittag hat er eine Mitfahrgelegenheit Richtung Süden.

"Die fährt bis nach Wien. Mal gucken, wo ich aussteige." grinst er und verschwindet nach einem fist bump mit seinem Gepäck Richtung Hafen.

Und ich gehe zur Bahn und fahre nach Hause. Kopfhörer auf, entspannende Musik an, Augen zu...

Für das Konzert von Basti, der keine Spitznamen mag, hätte ich Eintritt gezahlt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Großes Kino.

Die Chancen, dass er bei DSDS und Konsorten auftaucht, sicd glücklicherweise äußerst gering.

Gut so!

7 Kommentare:

  1. Schöne Geschichte! Manchmal muss man nur das Glück haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorbeizukommen.

    Und nichts gegen Country Roads, Let It Be u.ä., aber die sind auf der Straße schon so totgesungen worden, da ist es schön, wenn mal wer was anderes bringt.

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  2. "Folsom Prison Blues" in Anwesenheit der Polizei? Witzig. Noch besser wäre nur "I shot the sheriff". Egal, Wien ist auch schön.

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  3. Ja, schöne Geschichte, schön erzählt.
    Pogo zur Musik eines Starßenmusikers habe ich noch nie erlebt- groß!

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  4. Muff Potter! <3 <3 <3

    (wie immer: grandios be- bzw. geschrieben)

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  5. Dingdong. Der kleine Julio möchte gerne aus dem Bällchenbad abgeholt werden. Dingdong.

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    1. Dingdong. Witz komm raus, du bist umzingelt! Dingdong.

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  6. Ich bin angerührt, laß das ! ;)

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