Sonntag, 27. September 2015

Ein einziges Wort

Es war ein Sonntag im Januar. Ein sonniger kalter Vormittag, eine verschneite Straße in einem der schöneren Teile der Stadt. Nahe der Alster.

Er ist ein grundsympathischer Mensch, buschiger Vollbart, schwarzer Kapuzenpulli, kurze Cargo-Pants, zu den Knien hochgezogene schwarze Strümpfe.

Ich sehe den Freund einer meiner besten Freundinnen zum ersten Mal und ich mag ihn auf Anhieb. Er mich vielleicht auch.

Eventuell fragt er sich aber auch, mit was für einer dank durchgemachter vorheriger Nacht verkommenen Gestalt er da grad seine Freundin und den kleinen Sohn hat gen Spielplatz ziehen lassen. Den Gedankengang könnte ich verstehen und hätte gern mal nachgefragt, was er gedacht hat in dem Moment, als wir uns zum ersten Mal trafen.

Nachgefragt bei nem gemeinsamen Bier. Und nem Steak vom Grill. Während Pauli spielt. Irgendwie so.

Aber dazu bin ich nicht mehr gekommen.

Die schwere Krankheit war schneller.

Immer wieder Chemo. Dann Stammzellentransplation. Und dazwischen immer wieder Aufbäumen. Für das Leben kämpfen.

Ein Dreivierteljahr hat er durchgehalten.

Bis Donnerstag.

Jan war 34. Er hat eine wunderbare Familie gegründet, er hatte Pläne und Ziele und ich habe mit ihm nur ein einziges Wort gewechselt.

Nur ein einziges Wort.

Ein simples "Hallo!". Und einen Händedruck. Mehr gab es nicht.

Ich hätte Jan so gerne besser kennengelernt. Gemeinsames Bier, gemeinsames Rumbrüllen am Millerntor, gemeinsames...

Es erwischt immer zuerst die Guten.

Mach's gut Jan, wo immer du jetzt auch sein magst.

Samstag, 12. September 2015

Riding home to Oberkassel

Es ist eine Nacht auf Freitag gegen 00.40 Uhr am Hauptbahnhof Köln.

Mir steckt ein mehrstündiges Konzert in den Knochen, ich bin verschwitzt, müde, leicht heiser, hungrig, ich friere und möchte nur noch heimfahren. Gern so schnell es eben geht.

Auf dem Abfahrtsplan nichts zu sehen von meinem Reiseziel nördlich von Bonn. Also ab zum Serviceschalter der Deutschen Bahn, der zu meiner Überraschung um diese nachtschlafende Zeit noch immer besetzt ist.

"Guten Abend, ich möchte schnellstmöglich nach Bonn. Oberkassel-Nord. Können Sie mir sagen, welche Bahn mich hinbringt?  Oder ob überhaupt noch eine in die Richtung fährt?"

"01.01 Uhr ab Bahnsteig 5."

"Super, vielen Dank!"

Abgang.

Mit knurrendem Magen und zwei frisch erworbenen Käseburgern von der amerikanischen Botschaft auf Bahnsteig 5 angekommen, fällt mir ein: "Scheiße, Fahrkarte!"

Kurz wäge ich ab, schwarzfahren ja, schwarzfahren nein, Pros (einige) und Contras (Karma), dann laufe ich wieder hinunter zu einem Fahrkartenautomaten, deren gibt es im Kölner HBF viele, sehr viele. Zeit bis zur Abfahrt ist noch ein wenig, an Bahnsteig 5 steht eh noch der ICE nach Frankfurt, der seit zehn Minuten unterwegs sein sollte und die Käseburger schmecken notfalls auch kalt. Der Hunger treibt's rein.

Fahrkartenautomat 1: Einzelfahrt Erwachsener, Start Köln HBF, Ziel...mit O sind so einige vorgegeben, Oberhausen, Osnabrück, Olchau (wo zum Henker...?). Oberkassel ist nicht dabei, was mich aber nicht weiter verwundert. Man kann sein Reiseziel ja notfalls auch manuell eingeben und des Tastendrückens bin ich grad noch so eben mächtig.

Hochmotiviert tippe ich auf die O-Taste und auf dem Monitor passiert Erstaunliches. Buchstaben verschwinden wie von Geisterhand, aus irgendeinem Grund finde ich das äußerst amüsant und freue mich darüber. Bis ich bemerke, dass zu den nicht mehr auswählbaren Lettern auch das B zählt. "Oberkassel" kann ich nun also nicht mehr als Reiseziel eingeben. Was suboptimal ist, denn exakt da will ich ja hin.

Ich schweige kurz betreten, dann stehe ich wieder beim Servicepoint auf der Matte.

"Guten Abend nochmal. Ich möchte immer noch nach Oberkassel reisen und - Sie werden mich für verrückt halten - ich möchte dafür sogar eine Fahrkarte kaufen! Um diese Uhrzeit noch! Aus Gründen, die ich selber nicht ganz verstehe. Ich habe nur ein Problem: Der Automat stellt sich quer!"

Die eigentlich recht hübsche Dame am Infoschalter zuckt zusammen als ich sie anspreche und äugt mich mit einem Blick an, der irgendwo zwischen Desinteresse und "Ohje, jetzt hab ich grad gepupst!" liegt.

"Warum?" Sie presst die Frage unwillig zwischen den einwandfrei gebleichten Zähnen hindurch. Ich erläutere knapp mein Problem. "Na wenn ich mein gewünschtes Reiseziel eingeben will, scheitere ich bereits beim zweiten Buchstaben. Sobald ich auf's "O" getippt habe..."O" für "Oberkassel"...verschwindet das "B". Zack, weg ist es. Einfach so. Und ohne "B" komme ich dann irgendwie nicht weiter. Ich gäbe grad einiges für ein "B"!"

Sie schaut. Mich an. "Liegt sicher am Automaten. Programmfehler oder sowas. Probieren Sie einfach einen anderen! Das liegt bestimmt am Betriebssystem!"

"Nein" denke ich, "tut es nicht. Das hat mit dem Betriebssystem so wenig zu tun wie ich mit einem Professorenstuhl in höherer Mathematik oder die Parolen gröhlenden Widerlinge auf den Straßen Freitals und Heidenaus mit Menschlichkeit und Empathie. Eure Fahrkartenautomaten sind Arschlöcher, Mathe ist ein Arschloch und was die "besorgten Bürger" unseres ach so schönen Landes angeht: Da ist "Arschloch" noch deutlichst zu nett formuliert."

Aber ich sage nichts, ich lächle sie an und tue ihr den Gefallen, ich hab ja noch Zeit, die Burger schmecken auch kalt, ich probiere einen weiteren Automaten, dann noch einen, dann einen an der gegenüberliegenden Wand, dann den, vor den vor ein paar Minuten ein Besoffener gereihert hat, der Fladen Erbrochenes dampft noch leicht dank der im Bahnhofsgebäude aufgestauten Tageshitze.

Ich bin guten Willens, ich versuche mein Glück an insgesamt acht Fahrkartenautomaten, allein das Ergebnis bleibt das gleiche.

Try. Fail. Repeat.

Dann habe ich die Faxen dicke und auch nur noch knappe zehn Minuten bis zur Abfahrt Richtung Bett. In Oberkassel.

Dritter Akt am Servicepoint.

"N'Abend, ich wieder! Vollkommen überraschend kann ich auch an keinem anderen der wirklich hübsch anzusehenden Kartenautomaten eine Fahrkarte zu meinem Wunschziel...Na? NA???...richtig, immer noch Oberkassel...lösen. Und ehrlich gesagt hab ich jetzt auch keine Lust mehr. Von Nerven und Zeit mal ganz zu schweigen. Also, Fakten auf den Tisch. Was tun?"

Sie starrt mich aus großen braunen Rehaugen, die tragischerweise recht dämlich aus ihrem hübschen Gesicht glotzen, an und wünscht mir vermutlich grad die Pest an den Hals.

Ich höre die kleinen Rädchen in ihrem Kopf förmlich rattern und klickern während sie gefühlt ein halbes Leben lang durch mich hindurch ins Leere  starrt.

Kurz, ganz kurz bevor es lächerlich wird und sie irgendetwas möglichst logisch Klingendes von sich geben muss, entdeckt sie im Augenwinkel Uniformierte und reißt reflexartig den Arm hoch. "Fragen sie doch mal meine Kollegen! Die können sicher weiterhelfen!" Dann greift sie zum Telefonhörer und tut so, als sei es ein wichtiger Anruf. Jeder unterirdischen Laienschauspielertruppe wäre diese Darbietung peinlich, sie aber zieht sie in aller Konsequenz durch.

Vor so wenig Selbstachtung ziehe ich meinen Hut und wende mich mit meinem Anliegen den Uniformierten zu, die mir Miss Information so warm ans Herz gelegt hatte.

Es sind Mitarbeiter einer Security-Firma, die nachts durch den Bahnhof patrouillieren und natürlich nicht den Hauch einer Ahnung von Fahrplänen, Fahrkartenautomaten und dem Streckennetz der Deutschen Bahn haben. Wie die Trulla am Infoschalter quasi, nur in weniger hübsch und in weniger nervtötend.

Ich kriege gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg.

"Fährsse schwatt. Is doch ejal hömma!"

"De Käsburger schmecke ooch kalt. Da schmeckese sogar besser!"

"Fah doch nach Niederkassel un lauf von da! Et kann doch nimmer weit sin dann!"...nein, nur knapp fünfzig Kilometer...

00.59 Uhr. Ich hetze mit entnervtem Blick, neu dazugewonnenen grauen Haaren und einer Papiertüte mit zwei mit Industriekäse, einer millimeterdicken Bulette aus Fleischabfällen und sonstigen zu vernachlässigenden Zutaten belegten erkalteten Schaumgummibrötchen, dafür aber ohne Fahrkarte Treppenstufen hinauf zu Bahnsteig 5, rein in meinen Zug, hinein in eine Sitzreihe, gegenüber einer in den Zwanzigern, Hemd, hellblaue Krawatte, edel aussehendes Sakko, teure Lederslipper, glänzend, frisch poliert, er trägt die Haare zum Seitenscheitel gegelt und gehaarsprayed, vermutlich kann der Frisur selbst eine in direkter Nähe explodierende Handgranate nichts anhaben.

Rakka. 16.47 Uhr. Fliegerbombe. Das Gesicht ist weg. Aber die Frisur sitzt.

Er mustert mich von oben bis unten. Abschätzig. Ich missfalle. Schwarzer Kapu, Cargo-Pants, uralte bemalte  Chucks, einen Button an der Hose, auf dem ein Stilisierter einem anderen Stilisierten ins Gesicht tritt, good night white pride in der inzwischen indizierten Version. Meine ziemlich angeschlagene Optik wird ihren Teil zu seinem Misstrauen beitragen.

Ich mache mich auf meinem Sitz breit. Und warte auf jemanden, der meine nicht vorhandene Fahrkarte kontrollieren möchte.

Ungewollt auffällig beobachtet mich dabei der Gelackte von gegenüber, seine natürlich absolut zufälligen Blicke kitzeln jedes Mal ein bisschen im Nacken, wenn ich ihm eben den Rücken zuwende. Und sobald ich auch nur ansatzweise in seine Richtung schielen kann, versteckt er sich hinter seiner Zeitung und tut, als sei er gar nicht da.

Während sich die zu hellen Deckenleuchten im polierten Kunstleder seiner Slipper und in seinem Gelhelm spiegeln und ich noch überlege, wie albern das auf einer Skala von eins bis zehn aussieht, betritt die Zugbegleiterin den Waggon.

Natürlich. Das musste so kommen. Auf der einen von x-hundert Fahrten,  für die man grad mal kein gültiges Ticket hat, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen. Weil sie sowas aus zwölf Kilometern Entfernung gegen den Wind wittern wie Schmeißfliegen den frisch gesetzten Kuhfladen.

"Guten Abend, ihre Fahrkarte bitte!". Sie lächelt mich erwartungsvoll an. Ich lächele so charmant wie in meinem Zustand eben noch möglich zurück. Und der Schmierlapp im Abteil gegenüber grinst vorfreudig über den Rand seiner Zeitung. Denn dass ich keine gültige Fahrkarte besitze, ist ihm klar. Das hat er Millisekunden, nachdem er mich zum ersten Mal gesehen hat, gewusst. Der durchgerockte Asi? Fahrkarte? Im Leben nicht.

Jetzt muss improvisiert werden. "Klären Sie das einfach im Zug!" hatte mir der Komplettausfall am Infoschalter noch mit auf den Weg gegeben, bevor erneut ein "wichtiger Anruf" ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

"Ihnen auch einen guten Abend! Tja,Fahrkarte, wo fange ich bloß an? Sagen Sie, könnten Sie den Ort "Oberkassel" ohne den Buchstaben B schreiben?" Die Zugbegleiterin schaut erst irritiert, dann wissend.

"Richtig, ich habe kein Ticket. Eine unglückliche Verkettung von Umständen. Elektronische Fahrkartenautomatenmängel, optisch ansehnliche aber in der Praxis vollkommen wertlose Service-Point-Mitarbeiterinnen - wie löblich übrigens, dass der um diese Uhrzeit noch besetzt ist! Da wo ich herkomme, da..."

"Das macht dann sechzig Euro." stellt sie trocken aber nicht unfreundlich fest und das ist mein Startsignal.

In meinen Jahren in NRW habe ich gelernt: Reden hilft. Viel Reden hilft viel. Am besten ohne Punkt, Komma und jeglichen unnötigen Atemzug. Immer druff!

Ich erzähle von der stressigen Anreise in der Bullenhitze und davon, wie ich die Konzert-Location zunächst nicht gefunden habe, ich erwähne den schlecht tätowierten Muskelberg, der mir während des Konzerts auf den Fuß trat und mir zeitgleich sein Bier übers Shirt kippte, ich lobe die Preise des VRS und des KVB und halte ihr die entsprechenden Fahrkarten meiner nachmittäglichen Anreise (die ich vorher aus den Untiefen meines Rucksackes gefischt habe) unter die Nase, "Schauen Sie, selbst für die paar Stationen S-Bahn hab ich bezahlt, das tu ich auch nicht immer, das können Sie mir glauben, kontrolliert ja eh so gut wie nie wer! Aber Sie kontrollieren hier um diese Uhrzeit noch, gut finde ich das, sehr gut, wird doch sicher auch nicht sooo toll bezahlt, dass Sie sich hier die Nacht um die Ohren schlagen in fast leeren Zügen, außer mir und dem da (Kopfnicken Richtung Gelfrisur) ist ja kaum wer hier, also für mich wär das ja nichts, Mann Mann Mann."

Einen Mitleid erheischenden Hinweis auf schmerzende Füße und eine zur Absicherung hinterher geschobene interessierte Nachfrage nach der aktuellen Form des EffZeh Köln (das funktioniert erfahrungsgemäß im Kölner Umland in neun von zehn Fällen in jeder Lebenssituation und öffnet so gut wie jede Tür) habe ich gewonnen.

Sie ist zermürbt. Weich gekocht. Oder schlicht durch mein Gelaber so durcheinander, dass sie nichts mehr möchte, als mich endlich loszuwerden.

"Und Sie steigen ganz sicher in Oberkassel aus?" - "Aber sowas von! Da freu ich mich schon die ganze Zeit drauf!"

Mit dem Hinweis, sie würde nochmal beide Augen zudrücken und beim nächsten Mal müsse ich aber zahlen, wendet sie sich dem Schlipsträger zu, der mich seit knapp drei Minuten anstarrt wie einen Außerirdischen.

So sehr hatte er sich darauf gefreut, wie ich hochgenommen werde, wahrscheinlich so sehr, dass er schon einen kleinen nassen Fleck im Schlüpfer hatte - und jetzt das.

Ich lehne mich entspannt auf meinem Sitz zurück. Zehn Minuten noch bis Bonn-Oberkassel.

Ich grinse mein gegeltes Gegenüber breit an und für einen Moment, in dem das Licht richtig auf ihn fällt, spiegele ich mich in seiner Tolle. Zumindest sieht es fast so aus.

"Nächster Halt: Oberkassel-Nord"

Zischend öffnet sich die Tür des Waggons und nachdem ich meinem weiterreisenden Freund noch ein Mal freundlich zugewunken habe, springe ich auf den dunklen Bahnsteig.

Ein paar Minuten Fußweg noch durch dunkle menschenleere Vorstadtstraßen und ich bin zuhaus.

Was für ein toller Tag.