Freitag, 13. Februar 2015

Herr B. echauffiert sich

Da will einer wegziehen aus Hamburg.

Weil ihm die Stadt gegen den Strich geht und er generell alle Einwohner Hamburgs als "dumm, arrogant und dekadent" empfindet. Absolut alle. Ausnahmslos. Er hat scheinbar nur einen Kamm, über den er scheren kann.

Jetzt sollte man eigentlich demonstrativ gähnen und dem Herrn und seiner Familie den immer gern genommenen, für alle Lebenslagen passenden und komplett totrezitierten Spruch "In Hamburg sagt man Tschüss...!", der mir komplett zum Hals und aus anderen Körperöffnungen heraushängt, weil er in dieser Stadt allgegenwärtig ist, hinterherrufen, aber nein.

Ein Aufruhr geht durch's Volk, die MoPo berichtet aufgebracht und reißerisch, wie man es von ihr kennt und es herrscht akuter Shitstorm-Alarm. #HängtIhnHöher.

Wahrscheinlich gibt es auch längst die dazugehörige Facebook-Gruppe, in der zutiefst verletzte und verstörte HamburgerInnen sich gegenseitig ihr Leid klagen und zum Seelenheil liken.

Das Foto, das Herr Boedekker (in der MoPo steht der Klarname, dann darf ich den wohl auch nennen) von sich in der Zeitung veröffentlichen ließ und auf dem er medienwirksam vor der Kulisse der Binnenalster eine Hamburg-Fahne zerreißt, macht die ganze Antistimmung sicherlich auch keinen Deut besser und ist natürlich überhaupt nicht provokativ. Ob das jetzt seine oder die Idee irgendeines zugekoksten Redakteurs war sei mal dahingestellt,  es ist völlig egal.

Ich, der ich ja nun auch vieles an der Stadt in der ich lebe nicht sonderlich mag, habe mir den Artikel durchgelesen und dabei viel gelacht.

Die Argumente des Herrn B. sind - so es denn seine eigenen und keine frei erfundenen sind, um den Artikel noch provokanter zu machen - teilweise schon sehr...nun ja, ich nenne sie mal vorsichtig "seltsam".

Zunächst bekommt er allerdings meine volle Zustimmung, denn als "den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte" und ihn dazu bewog, Hamburg den Rücken zu kehren, benennt er das unsägliche Rumgeeiere von Stadt und Senat betreffend der Flüchtlingsunterkunft an den Sophien-Terrassen. Das empfinde ich ebenso als traurig und tragisch.

Vom Olympischen Komitee wünscht er sich, es möge Hamburgs Bewerbung für kommende Spiele "abschmettern", da "die Völker der Welt in Hamburg nur willkommen seien, wenn sie ihr Geld daließen". Auch da mag beziehungsweise wird er Recht haben, der Herr Boedekker. Die Olympischen Spiele würden Unmengen an Touristenkohle in die Stadtkasse spülen und Hamburg würde sich der ganzen Welt von seiner besten Seite präsentieren wollen.

Was vermutlich darauf hinauslaufen würde, dass man alles, was nicht ins Gesamtbild einer perfekten Stadt so wie Hamburg gern eine wäre passt einfach wegschafft.

Müll.

Graffitis.

Obdachlose.

Hilfsbedürftige.

Müssen alle weg, die Stadt muss sauber sein für die Touristen aus allen Teilen der Welt. Kann ja nicht angehen, dass später in Tokio, Sydney oder Tegucigalpa Fotos vom Rathaus oder vom Michel herumgezeigt werden, auf denen irgendwo versteckt ein Obdachloser auf seiner Decke sitzt und um ein paar Cent bittet. Die werden outgesorced. Irgendwo kurz hinter die Stadtgrenze. Wedel. Norderstedt. Scheißegal. Hauptsache weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sauber muss sie sein, die Stadt. Gelutscht. Steril.

Herr Boedekker will, dass das Olympische Komitee Hamburg nicht will wie er selbst Hamburg nicht mehr will. Nur dem Olympischen Komitee gibt er Gründe in die Hand, für sich selbst hat er keine. Zumindest keine, die mir einleuchten.

Egoistisch sei der Hamburger, arrogant, arm und dekadent. Ich bin kein gebürtiger Hamburger, aber immerhin bin ich elf Jahre länger hier als Herr Boedekker. Auf mich trifft genau eine seiner vier Hauptcharakterisierungen zu. Blöderweise, dass ich arm bin. Mit Abstrichen vielleicht noch die Arroganz-Geschichte, das liegt dann aber am Gegenüber.

Nach dreizehn Jahren Hamburg kenne ich vielleicht ein Sechzehntel der Stadtfläche und nichtmal einen Bruchteil von einem Prozent sämtlicher Einwohner Hamburgs. Herr Boedekker hat bereits nach zwei Jahren erkannt, dass 100 Prozent aller Einwohner Hamburgs dumme dekadente Arschlöcher sind, die vermutlich auch alle niedliche Hundewelpen vermöbeln und per se kleine Schwänze haben. Alle. Auch die Mädels. Isso.

Weiterhin echauffiert sich Herr Boedekker über Gerempel in der U-/S-Bahn. Das mag er nicht. Rücksichtslos sei das. Da hat er Recht. Ist echt hardcore hier in Hamburg. Während man sich in Shanghai, New York oder Rio in der Bahn höflich aus dem Weg geht und einen Mindestabstand von einem halben Meter wahrt, regiert im HVV der blanke Anarchismus. "Wall of death in der U3 Richtung Kellinghusenstraße", wie oft höre ich die Ansage und steige dann lieber nicht ein. Man lernt ja mit der Zeit. Kann Herr Boedekker mit seinen zwei Jahren Erfahrung nicht wissen. Fucking rookie!

Auch die "piefigen Nachbarn" stören ihn, die beschweren sich nämlich, wenn seine Kids auf der verkehrsberuhigten Straße im idyllischen  Volksdorf Fußball spielen. In den Stadtteil ist er mit seiner Familie gezogen, "weil wir uns überlegt haben, daß wir mal ländlicher wohnen wollen". Ländlicher wohnen wollen und dann in die zweitgrößte Stadt des Landes ziehen. Das muss ich nicht verstehen, oder? Gut, Volksdorf heißt ja nun auch nicht zum Spaß VolksDORF, ist aber trotzdem immer noch Teil einer 1,73irgendwas-Millionen-Möchtegernmetropole und ländlich ist da anders.

Meine Eltern haben zwei Gästezimmer, dort ist es ländlich, sehr sogar. Dort können des Boedekkers Kids stundenlang auf der Straße bolzen bis zum Umfallen und niemand wird sich beschweren.

Außer meinen Eltern.

Über Herrn Boedekker.

Der jammert in der MoPo weiter herum. Seine Frau sei mal getreten worden, weil sie mit dem Rad auf dem Gehweg fuhr. Wer auch immer getreten hat, ist offenbar ein Vollidiot - es heißt aber ja auch nicht grundlos GEHweg. Wie oft hätte ich schon gern jemanden ansatzlos vom Sattel geboxt, der mich mit dem Rad auf dem GEHweg gerempelt, gestreift oder wenigstens drangsaliert hat. Auf dem GEHweg hat das FAHRrad nichts verloren. Punkt.

Dass die Radwege dieser meiner unserer selbsternannten Weltstadt in katastrophalem Zustand sind und erneuert werden müssen,  diskutieren die Schlipsträger im Rathaus seit Jahren und prangen an, mahnen, weisen hin. Nur am Zustand der Radwege ändert sich. Nichts.

Herr Boedekker hat noch nicht fertig. Die Flaggen stören ihn. Die hamburgischen Stadtflaggen, die überall im Stadtgebiet wehen. Und die wohl nur er sieht. Ich kenne nur die am Rathaus und ein paar in Schrebergärten unterhalb des U3-Viadukts. That's it. Herr Boedekker sieht sie überall und das geht ihm gegen den Strich.

Vielleicht laufen die Dinge in Volksdorf anders und man ist patriotischer, vielleicht leben dort mehr Menschen, die ihre Stadt lieben als in meiner Nachbarschaft. Vielleicht flattern da mehr hamburgische Flaggen an Mästen oder aus Fenstern. Weiß ich nicht. Im Umkreis von 500 Metern um meine Wohnung kenne ich jedenfalls nur drei wehende Flaggen. Eine ghanaische, eine des FCSP und eine schwedische. Keine hamburgischen.

Herr Boedekker sieht überall die Hamburger Flagge und echauffiert sich. Ich wette, dass er im letzten Sommer zur WM einer der vielen Millionen war, die an Spieltagen mit Schland-Schminke durch die Gegend gelaufen sind, sich Fähnchen für's Autofenster zugelegt haben und auch ein Schlaaand!-Trikot trugen, notfalls auch das vom Penny für 9,95€. Hauptsache Fan. Alle zwei Jahre mal.

"Hamburg ist das Tor zur Welt, aber das Tor geht nicht auf!" sagt Herr Boedekker. Ich könnte mir jetzt Feinde machen und sagen, dass das so ist, weil Bremen (in der Stadtfahne) den Schlüssel dazu hat.

Aber ich sag's mal anders.

So sehr ich diese meine unsere Herrn Boedekkers Stadt auch manchmal nicht leiden kann, verfluche und verabscheue...trotzdem mag ich es hier. Meist sogar sehr.
Herr Boedekker zieht im Sommer samt Familie zurück nach Berlin. Wo die Menschen freundlicher, weniger arrogant und weniger dekadent sind, wo in der U-Bahn weniger gedrängelt, gerempelt und gepöbelt wird und wo man ohne getreten zu werden auf Gehwegen radeln und Fußgänger ummähen kann, solange es einem Spaß macht. Meinen Glückwunsch.

In Hamburg sagt man Tsch... Ach, drauf geschissen.

Sonntag, 8. Februar 2015

Mitgehört (5): Fiktion oder Realität?

In der S1 Richtung City sitzen zwei Mädels, ich vermute, sie sind auf dem Weg in irgendeinen Club in der Schanze oder auf Pauli.

Sie sind für die Außentemperaturen zugegebenermaßen ziemlich leicht bekleidet und unterhalten sich über ein Buch, welches sie wohl beide gelesen haben.

"Meinst du, dass das tatsächlich so passiert ist?!?"

"Ach was, das ist pure Fiktion!"

"Echt?"

"Klar, das hat die Autorin sich ausgedacht. Nur Fiktion ist das alles! Aber Fiktion ist ja auch cool!"

Ich steige aus und gehe meiner Wege, knapp hinter mir laufen zwei junge Teenies, die den Mädels offenbar auch gelauscht haben.

"Die waren geil oder Bruder?"

"Auf jeden Fall! Vor allem die Blonde!"

"Über was haben die denn geredet Mann?"

"Keine Ahnung Mann, aber war geil, die Blonde hat ständig irgendwas mit "Fick" gesagt! Voll versaut Alter!"